Wohin brachte uns Charles Darwin?

SCHNEY. (fa/hpd) Charles Darwin brachte uns Menschen zu einem höheren Bewusstsein über die gleichartige Entstehung

allen Lebens auf der Erde und damit zu einem höheren Bewusstsein über die relative Stellung des Menschen auf diesem Planeten.

So könnte die kurz gefasste, einhellige Antwort der vergangenen wissenschaftlichen Tagung der Freien Akademie zum gleichnamigen Thema unter der souveränen Leitung des Wiener Evolutionswissenschaftlers Prof. Dr. Franz Wuketits lauten.

Tatsache der Evolution

Die Tagung bestätigte bei allen Referenten und Teilnehmern den Kardinalsatz der Evolutionslehre, dass in der Biologie nichts einen Sinn mache, außer man betrachtet es im Lichte der Evolution. Ja, sie zeigte sogar, dass die Beschränkung auf die Biologie unnötig ist, denn auch die Entwicklung des Gemüts, seelischer, verstandesmäßiger und sozialer Vorgänge bei Lebewesen bis hin zur Kultur des Menschen sind evolutionsgeschichtlich gewordene Erscheinungen, so dass die Evolutionslehre eine Grundlage auch für die Human- und Sozialwissenschaften ist bzw. sein sollte. Freilich bleiben viele Lücken in der Evolutionstheorie - vor allem nicht bekannte Verzweigungen (connecting links) in den evolutionären Entwicklungsketten -, so dass die Evolutionstheorie insgesamt hypothetischen Charakter hat. Aber: hypothetisch ist die Evolutionstheorie, Tatsache jedoch ist die Evolution selbst.

Die Teleologie, das heißt die Vorstellung, dass die Entwicklung des Lebens auf der Erde einem sinnvollen Ziel folgt, ist erledigt. Das ist das eigentlich Revolutionäre der Evolutionslehre.

Entdeckung der Teleonomie

Entdeckt hat Darwin die Teleonomie, das heißt, dass der Entwicklung von allem Lebendigen das Gesetz innewohnt, zu momentan noch überlebensfähigeren Artgestaltungen vorzudringen und zwar auf dem Wege der Variation bzw. Remutation (= Veränderung vorhandener Anlagen) und Selektion (= Auswahl der im Moment überlebensfähigsten Varianten).

Der Paläanthropologe Prof. Dr. Winfried Henke stellte daher heraus, dass der Kosmos eine „Schöpfung" ohne Schöpfer ist; den evolutionären Vorgängen wohnt eine Gesetzmäßigkeit (nomen) inne und es gibt keinen Lenker von außen. Um zu erklären, was entwicklungsgeschichtlich „richtig", also „Fakt", ist, braucht es keinen Schöpfer-Gott - wohl , so möchte der Berichterstatter ergänzen, aber möglicherweise dafür, um zu erkennen, was „wahr", das heißt für den einzelnen Menschen unbedingt sinnstiftend ist. In der Natur gibt es keine mit Sinn erfüllten Absichten; es herrscht ausschließlich Wettbewerb. Es gilt allerdings keinesfalls das bei demokratiefernen Menschen so beliebte Wort vom „Recht des Stärkeren": ein Vulgär-Darwinismus, der nur die Dummheit seiner Vertreter offenbart -, sondern im Gegenteil (!) das Recht des Tüchtigeren (bei gleicher Ausgangslage). Ein sogenannter Sozialdarwinismus, mit dem eine Gesellschaft legitimiert werden soll, in der ökonomisch Neoliberalismus und politisch Diktatur herrschen, wurde im Verlauf der Tagung radikal demontiert: das sog. „Recht des Stärkeren" ist in Wirklichkeit die Abwesenheit von jeglichem Recht und jeglicher Rechtssprechung.

Darwin selbst, das zeigte vor allem der beeindruckende Vortrag des Dortmunder Biologen und Biologiedidaktikers Prof. Dr. Bernhard Verbeek, ruft den Menschen auf, sein gattungsgeschichtlich gewachsenes Stammes- und Gruppenwesen hin zum Kosmopolitischen fortzuentwickeln und von seinen Stammesreligionen hin zu einer Weltreligion zu kommen. Darwin sagte 1859, dem Jahr der Veröffentlichung seiner Evolutionslehre, voraus, dass der Mensch an den Punkt kommen werde, wo er erkennen sollte, das bevorzugte Verhalten in und gegenüber der eigenen Gruppe auf den Umgang mit dem Fremden und damit auf alle Ethnien auszudehnen, wenn er als Gattung auf diesem Planeten eine - freilich relative - Überlebenschance haben will. Damit zeigt sich der Darwinismus als eine zutiefst humanistische Lehre und der Ordinärbegriff vom Sozialdarwinismus verdient diese Bezeichnung nicht, stellt vielmehr einen Missbrauch des authentischen Darwin dar.

Darwinismus als zutiefst humanistsiche Lehre

Freilich genügt dieser Humanismus, wenn er denn überhaupt bekannt sein sollte, bestimmten Personen bzw. Gruppen nicht, die in der Evolutionslehre eine „Kränkung" (Sigmund Freud) des Menschen in seinem Wesen sehen und um so hartnäckiger an der buchstäblichen biblischen Schöpfungslehre festhalten. Dies sind die sogenannten Kreationisten.

Gemäß dem Vortrag von Prof. Dr. Dittmar Graf, Biologiedidaktiker an der Universität Dortmund, sind in Deutschland 20 % der Erwachsenen und 40 % der regelmäßigen Kirchgänger in dem Sinn Kreationisten, dass sie die biblische Schöpfungslehre buchstäbisch für richtig halten und die Evolutionslehre deshalb ablehnen. Gerade in jüngster Zeit käme es in Europa, auch in Deutschland, beeinflusst durch Vorgänge in den USA, zu einer Renaissance des Kreationismus, etwa wenn Papst Johannes Paul II 1996 sagte, die Körperlichkeit des Menschen sei darwinistisch erklärbar, jedoch die „Geistseele" des Menschen unmittelbar von Gott erschaffen. Um solchen Vorstellungen vorzubauen und Bestrebungen zu unterbinden, im Schulunterricht die Evolutionslehre (wieder) zu verbieten - oder gar Biologieunterricht, wie in Preußen zwischen 1882 und 1925 - plädierte Graf für mehr Wissenschaftspropädeutik im Schulunterricht. Denn wer ein Verständnis dafür hat, wie Wissenschaft arbeitet, akzeptiert auch eher die Evolutionslehre.

"Synthtischer Darwinismus"

Zum Beispiel mit Darwins oben genannter Vorstellung von der Überwindung der evolutionär erworbenen Stammesliebe durch die Fremdenliebe sind wir beim Verhältnis von Natur und Kultur. Darwin selbst unterschied nicht streng zwischen erblich und kulturell bedingter Variation. Er kannte ja noch keine Gene und nicht einmal seinen Zeitgenossen Gregor Mendel (1822-1884) nahm er wahr.

Freilich lässt sich Darwins Evolutionslehre voll mit der modernen Genetik und Molekularbiologie harmonisieren (= synthetischer Darwinismus), weshalb der „'alte' Darwin" trotz späterer spektakulärster Entdeckungen auf dem Gebiet der Erblehre bis heute voll mit den „'neuen' Theorien" vereinbar ist, wie Dr. Dr. Jan Bretschneider aus Weimar zeigte. Trotz blassem Erb-Begriff Darwins also ist seine Überzeugung, dass es keine von der Biologie der Lebewesen unabhängige Kultur gebe, bis heute voll gültig. Immer ist die Kultur, auch die Kultur des Menschen, geprägt durch die biologischen Erfordernisse, also durch das Überleben.

"Moralischer Sinn der Tiere"

Gemäß den Ausführungen des Wiener Ethnologen Prof. Dr. Erhard Oeser gibt es nach Darwin einen „moralischen Sinn der Tiere", z. B. eine evolutionär entwickelte Pflicht, für seine Jungen zu sorgen, wobei hier bei komplexeren Lebewesen ein Verhaltensspektrum nachweisbar ist, also nicht von Instinkt, sondern von „Moral" auszugehen ist. Darwin billigt auch Tieren „Sympathie", „edle Treue" und schließlich ein „Gewissen" zu. In die hier angedeuteten evolutionären Vorgänge ist die Entwicklung der Moral und Kultur des Menschen voll eingebettet. Darwins Überzeugung vom Übergewicht des moralischen Sinns über jeden anderen Antrieb des Menschen, der im Wort „müssen" zusammengefasst werden könne, korrespondiert der Pflichtethik des Philosophen Immanuel Kant (1724-1804). Nach Darwin gibt es auch hinsichtlich der moralischen und kulturellen Entwicklungen nur einen graduellen, keinen prinzipiellen Unterschied zwischen Mensch und komplexeren Säugetieren.

Nicht nur die Körperlichkeit, sondern auch Seele und Geist sind evolutionär entwickelt, und zwar beim Menschen die Körperlichkeit sehr langsam und seelische bzw. geistige Vermögen (gattungsgeschichtlich gesehen) eher schnell. Trotz dieses gattungsgeschichtlichen Tempos nimmt das menschliche Gehirn keine evolutionsgeschichtliche Sonderstellung ein, was durch die moderne Neurologie bestätigt wird. Auch der menschliche „Verstand, der die Gesetze des Universums erkennen kann" und darüber weiß (= homo sapiens sapiens), kommt nach Darwin nicht außerevolutionär zustande. Das Bewusstsein ist eben nicht kultural, quasi schlagartig, sondern evolutionär entstanden. Trotzdem Verstand, Moral und Kultur des Menschen voll evolutionsgeschichtlich geformt sind, ist die Teleonomie der Evolution nicht Moral, sondern Erfolg (im Sinne von besserer Überlebensfähigkeit). Der Mensch wird sich als moralisches und kulturelles Wesen von der Natur nicht emanzipieren können und sollen. Nach Prof. Dr. Verbeek geht es vielmehr darum, Rahmen zu schaffen, dass der Erfolgreiche nicht unmoralisch sein muss.

Es gibt keine Grenze zwischen Tier und Mensch

Wegen der Moralität aller komplexeren Lebewesen gibt es die Grenze zwischen Tier und Mensch nicht bzw. ist sie fließend. Hinsichtlich dieser grundlegenden, darwinischen Überzeugung korrespondieren Oeser und der Erforscher von Primaten Prof. Dr. Volker Sommer vom University College London. Er beobachtete eine kulturelle Vielfalt von Tieren gleicher Art, je nachdem, unter welchen Bedingungen sie leben. So gibt es z. B. Schimpansen aus dem einen oder anderen Kulturkreis. Sommer kommt zu der Überzeugung, dass es keinen Kulturbegriff gibt, bei dem Tiere ausgeschlossen werden können, oder aber man definiert Kultur so anspruchsvoll, dass wiederum auch Menschen auszuschließen wären. Und das wäre unhaltbar. Die kulturelle Zoologie behauptet daher die Kultur des Menschen voll und ganz als evolutionäres Kontinuum. Obgleich auch Tiere kumulative Kulturleistungen im Sinne einer kulturellen Ausprägung als vielschichtigem Komplex mehrerer einzelner Kulturleistungen kennen, gibt es beim Menschen doch Komplexitäten, die bei keinem Tier nachweisbar sind. Aber das sind eben graduelle und nicht prinzipielle Differenzen.

Ähnlichkeit zwischer biologischer und kultureller Evolution

Auch Prof. Dr. Christoph Antweiler, Ethnologe an der Universität Trier, bestätigte die Sichtweisen von Oeser und Sommer voll, indem er die Ähnlichkeit von Bio- und Kulturevolution darlegte. Ein Unterschied bestehe allerdings darin, dass sich Kulturen im Unterschied zu einmal entwickelten biologischen Arten wieder verbinden könnten. Antweiler beschrieb, wie sich die kulturelle Entwicklung des Menschen im Einzelnen ereignet. Angeregt durch die darwinische Theorie besagt seine Theorie sozio-kultureller Evolution beim Menschen zum Beispiel, dass im Rahmen dieser kausalen Vorgänge der Zufall eine entscheidende Rolle bei der kulturellen Mutation des Menschen spielt. So können Medien zufällig etwas populär und prägend machen oder kann ein zufällig falsches Erinnern kulturell Einfluss gewinnen. Dann gibt es für die kulturelle Entwicklung richtungsgebende Kräfte im Sinne einer „geführten Variation", z. B. durch Lernen. Kulturleistungen können geprägt sein durch Physik (z. B. Pfeile), durch naheliegende Funktionalitäten (z. B. Geld), durch räumliche Verbreitung über einen Kulturkreis hinaus (z. B. Feuergebrauch), durch organische Effekte (z. B. Drogen) oder durch der Kulturleistung immanente Strukturimplikationen (z. B. Verhalten in Cliquen). Diese Erklärungsansätze machen auch verständlich, weshalb es in den Kulturen verschiedener Kulturkreise bzw. Ethnien viele Universalien gibt, obgleich unser Verständnis von Kultur doch der Vorstellung von Differenz nahe steht.

Interdisziplinäre Evolutionstheorie

Entsprechend dem skizzierten Gesamtverlauf der Tagung stellte der Tagungsleiter Prof. Dr. Wuketits in seinem Schlussreferat die Bedeutsamkeit Darwins für eigentlich alle heutigen Wissenschaftsdisziplinen heraus. Zum Beispiel sei in der Philosophie die Revision verschiedener Modelle hin zu einer naturalistischen Wende der Disziplin angemessen. Vieles Spekulative in der Philosophie könne auf einer naturalistischen Basis erklärt werden, so in der Erkenntnistheorie oder auch in der Ethik bzw. Moralphilosophie. Auch die Medizin könnte sich der Frage, warum Menschen krank werden und wozu sich Krankheiten teleonomisch gesehen (= gattungsgeschichtlich zweckmäßigerweise) entwickelt haben, evolutionstheoretisch nähern. Und die immer größere Anwesenheit von potentiellen menschlichen Feinden um uns, könnte eine evolutionstheoretisch reflektierte Auswirkung auf die Psychiatrie haben. So hat die Tagung gezeigt, wie Darwin auf die Natur mitsamt dem Menschen in allen seinen Daseins-Dimensionen Licht geworfen hat. Wegen dieser Universalität der Evolution sollte die Evolutionstheorie interdisziplinär sein, um die Einheit der Erkenntnisstruktur aufzeigen zu können.

In bewährter Tradition soll wie zu den Tagungen der letzten Jahre dieses Mal rechtzeitig zum Darwinjahr 2009 der Tagungsband im Angelika-Lenz-Verlag erscheinen, der dann über den Buchhandel erhältlich sein wird.

Dieter Fauth