Der zensierte Luther

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Lukas Cranach der Ältere: Portrait Martin Luther. (1529) Bearbeitung: Reinhold Schlotz

HANNOVER. (hpd) Zur Vorbereitung des Reformationsjubiläums am 31. Oktober 2017 wurde von der EKD 2008 die „Lutherdekade“ ins Leben gerufen. Schon im Vorfeld beantragten CDU/CSU und SPD im Deutschen Bundestag eine Würdigung dieses „welthistorischen Ereignisses“. Am 20. Oktober stimmte der Bundestag einstimmig diesem Antrag zu und verkündete eine jährliche finanzielle Unterstützung von fünf Millionen Euro ab 2011 mit einer Gesamtsumme von 35 Millionen Euro bis 2017.

Das Land Sachsen-Anhalt fördert die Lutherdekade mit insgesamt 75 Millionen Euro aus Landesmitteln. Auf dem Weg zum Jahrhundertjubiläum stößt die Lutherdekade alljährlich auf einen gigantischen Stolperstein, der durch gezielte Nichtinformation in der Öffentlichkeit weitgehend unbeachtet bleibt: die Reichspogromnacht vom 9. November 1938. Bei einer Förderung von insgesamt 110 Millionen Euro hat der Steuerzahler aber schon einen Anspruch darauf, über den „vollständigen Luther“ und nicht nur über den „zensierten Luther“ informiert zu werden.

Von Reinhold Schlotz

 

Das Selbstverständnis einer Nation ist im Wesentlichen durch ihre Kulturgeschichte geprägt. So, wie herausragende kulturelle Leistungen einzelner Persönlichkeiten für die nationale Identität eine symbolhafte Rolle spielen – man denke z.B. an Goethe, Schiller, Kant, Heisenberg, usw. –, werden auch nachhaltig wirkende geschichtliche Ereignisse durch beteiligte Personen symbolisiert. Der Name Martin Luther steht hier für das geschichtliche Ereignis der Reformation. Seine Übersetzung der Bibel in die deutsche Sprache gilt als eine „literarische Tat ersten Ranges“ (Thomas Mann), eine hervorragende kulturelle Einzelleistung des Reformators und kann als ein Akt der Aufklärung verstanden werden. Reformation und Bibelübersetzung haben die deutsche Kulturgeschichte entscheidend geprägt.

Entsprechend der Bedeutung seiner Leistungen für die „Deutsche Nation“ wird Martin Luther als Vater der evangelischen Kirchen und als eine deutsche Leitfigur gewürdigt und gefeiert. In Deutschland erinnert alljährlich der Reformationstag am 31. Oktober an den Beginn der Reformation durch den (historisch nicht eindeutig belegten) Thesenanschlag Luthers an das Portal der Schlosskirche zu Wittenberg im Jahre 1517.

Jahrhundertfeiern hinterlassen besondere Eindrücke, so die 300-Jahr-Feier an dem Ort, wo Luther einst unter dem Decknamen Junker Jörg das Neue Testament übersetzte, der Wartburg bei Eisenach in Thüringen im Oktober 1817. Dieses Ereignis ging als erstes Wartburgfest in die deutsche Geschichte ein. Die 400-Jahr-Feier stand 1917 im Schatten des 1. Weltkriegs und wurde als willkommene Abwechslung zum Kriegsgeschehen eher verhalten zelebriert. Die 500-Jahr-Feier steht uns eigentlich erst im Jahre 2017 bevor, wurde aber schon am 21. September 2008 als „Lutherdekade“ vom damaligen EKD-Ratsvorsitzenden Bischof Huber unter dem Motto „Eine Dekade der Freiheit“ eröffnet: „Die Lutherdekade legt ein besonderes Gewicht auf den Lebensweg Martin Luthers ...“ und soll „ein Jahrzehnt der Erinnerung an Martin Luther“ sein, wie es Bischof Huber in seiner Festrede in der Schlosskirche zu Wittenberg formulierte.

Luther wurde am 10. November 1483 geboren und starb 62-jährig im Jahre 1546. Versucht man den Lebensweg Luthers bis zu seinem Tode in den modernen Medien wie Kino, Fernsehen, Rundfunk, Literatur und Presse zu verfolgen, so könnte man annehmen, Luther sei schon viel früher verstorben. Seine letzten 10-15 Lebensjahre werden entweder systematisch ausgeblendet oder medial geschickt versteckt, so dass sie einer breiten Öffentlichkeit verborgen bleiben. Akademische Abhandlungen über Luthers Gesamtbiographie findet man vorwiegend in Universitätsbibliotheken, die dann auch nur von einer kleinen interessierten Bildungsschicht gelesen werden. Diesem Muster folgend spricht Bischof Huber in seiner Festrede die „Schatten und Grenzen der Person Luthers“ in einem kleinen Unterabschnitt an: „Luthers mitunter polemischer Charakter, seine ambivalente Rolle in den Bauernkriegen, seine beschämenden Aussagen zu den Juden und sein Kommentar zu den Expansionsbestrebungen des Osmanischen Reichs – all dies gehört in das Bild seiner Person hinein.“

Was sind nun Luthers „beschämende Aussagen zu den Juden“?

Luthers Verhältnis zu den Juden wurde durch die christliche Theologie bestimmt, wonach der Jude Jesus von Nazareth als Messias aller Juden und Heiden, als Sohn Gottes, ja als trinitarisch verstandener Gott in Vater, Sohn und Heiligem Geist für die Sünden aller Menschen am Kreuz gestorben sein soll. Dieser jüdische Messias wurde von den Juden nie als der ihrige anerkannt, was Luther schon in seiner Römerbriefvorlesung von 1515/16 dadurch brandmarkte, indem er „Juden und Ketzer“ gleichstellte (1). Seine neue Theologie von der „Freyheith eines Christenmenschen“ war von seiner Hoffnung begleitet, „ethliche“ Juden zum christlichen Glauben zu bekehren und sie somit vor der ewigen Verdammnis der Ungläubigen und Ketzer zu bewahren. In seiner Schrift von 1523 „Das Jesus ein geborener Jude sei“ legte er anhand des Alten Testaments nochmals dar, dass der von den Juden erwartete Messias in Gestalt Jesu schon gekommen sei und rief dazu auf, die Juden freundlich zu behandeln und sie in die Gesellschaft aufzunehmen, was zu seiner Zeit nicht gerade selbstverständlich war. Die Übersetzung des Neuen Testaments 1522 in die deutsche Sprache und die Fertigstellung der gesamten Bibel 1534 dürfte die Erwartung einer Bekehrung „ethlicher“ Juden noch erhöht haben, konnte sich jetzt doch jedermann im Lande, der des Lesens mächtig war, durch ein Bibelstudium von Luthers Theologie überzeugen lassen.

Die Enttäuschung muss groß gewesen sein, als die erwartete Bekehrung der Juden zum Christentum ausblieb. In der Folgezeit radikalisierte sich seine Haltung gegenüber den Juden dramatisch. Die anfänglich harmlos anmutende Gleichsetzung von „Juden und Ketzer“ verschärfte sich in massive Vorwürfe der Gotteslästerung (2): „Sie ... hören nicht auf, unsern Herrn Christum zu lestern, heissen die Jungfrau Maria eine Hure, Christum ein Hurenkind.“

In der judenkritischen Schrift von 1538 „Wider die Sabbather an einen guten Freund“ kündigte er weitere Veröffentlichungen über die Juden an. Seine theologisch begründete Judenkritik steigerte sich jetzt zu einem Judenhass, der in dieser Intensität erst im 20. Jahrhundert wieder seinesgleichen fand.

In seinem 1543 veröffentlichten Buch „Von den Jüden und iren Lügen“ nimmt er dann auch Abstand von dem Vorhaben, die Juden bekehren zu wollen: „Viel weniger gehe ich damit um, das ich die Jüden bekeren woll, denn das ist unmöglich. ... Ein solch verzweifeltes, durchböstes, durchgiftetes, durchteufeltes Ding ist’s um diese Juden, so diese 1400 Jahre unsere Plage, Pestilenz und alles Unglück gewesen sind und noch sind. Summa, wir haben rechte Teufel an ihnen“.