(hpd) Die Angst der Mächtigen vor der politischen Unordnung erzeugt den Panoptismus, die Perfektion der Überwachung idealer Menschen. Das Panoptikum Benthams wurde als Metapher für den Überwachungs- und Disziplinierungsstaat auch von Michel Foucault verwendet, dessen Buch dazu ungeahnte Aktualität erlangt hat.
Ein Gastkommentar von Kurt Marti.
Der englische Jurist und Philosoph Jeremy Bentham (1748 – 1832) gilt als Vordenker des Wirtschaftsliberalismus, aber auch als Sozialreformer. Bereits im 18. Jahrhundert forderte er allgemeine Wahlen, das Frauenstimmrecht, die Abschaffung der Todesstrafe, weitgehende Tierrechte, die Legalisierung der Homosexualität und die Pressefreiheit. Wirklich liberal allerdings war er nur im Sinne der Wirtschaftsfreiheit, ansonsten misstraute er den Bürgerinnen und Bürgern und ihren egoistischen Trieben. Als Kehrseite der Freiheit propagierte er beispielsweise die Tätowierung der Bevölkerung zu Kontrollzwecken und deren systematische Bespitzelung. Berühmt wurde sein Plan des Panoptikums (siehe Bild oben), eines transparenten Gefängnisses, das zum Symbol der lautlosen und effizienten Überwachung werden sollte.
Das Panoptikum funktioniert auch ohne Wärter
Das panoptische Gefängnis besteht aus einem Überwachungsturm im Zentrum eines kreisringförmigen Gebäudes. Mit dieser Anordnung können alle Gefangenen von einem einzigen Wärter im Überwachungsturm überwacht werden. Die Zellen sind an ihrer Innen- und Außenseite offen und das von beiden Seiten einfallende Licht sorgt für totale Transparenz. Jede Bewegung der Gefangenen kann vom Wärter registriert werden. Dabei bleibt der Wärter für die Gefangenen unsichtbar. Das Verblüffende daran ist, dass dieses panoptische System auch ohne ständige Überwachung einwandfrei funktioniert. Die Überwachung ist permanent, braucht aber nur sporadisch wahrgenommen zu werden. Zum großen Bedauern von Bentham wurde das Panoptikum in England nicht gebaut. Konkret umgesetzt wurde Benthams Plan nur in wenigen Ländern, unter anderem auf Kuba.
Politik als die "Fortsetzung des militärischen Modells"
Als Metapher für den Überwachungs- und Disziplinierungsstaat lebte das Panoptikum fort, insbesondere im Werk „Überwachen und Strafen: Die Geburt des Gefängnisses“ (1975) des französischen Philosophen und Historikers Michel Foucault (1926 - 1984). Ein aktuelles Buch in Zeiten der digitalen Überwachung durch die Geheimdienste im Verbund mit Google, Facebook & Co., denn im Kapitel über den Panoptismus analysiert Foucault minutiös die Geburt des Überwachungssystems aus der Angst der Mächtigen vor der Unordnung. Als hätte Foucault die Dimension der Überwachung durch die Geheimdienste nach 9/11 vorausgeahnt, formuliert er in Abwandlung von Clausewitz‘ Krieg als bloße Fortsetzung der Politik mit anderen Mitteln, „dass die Politik als die Fortsetzung wenn schon nicht eigentlich des Krieges so doch des militärischen Modells konzipiert worden ist: als grundlegendes Mittel zur Verhütung der bürgerlichen Unordnung“.
Die Regierenden träumten vom Pestzustand
Foucault analysiert in seinem Buch zunächst das Verhältnis von Ordnung und Unordnung am Beispiel der Pest. Die Angst vor Ansteckungen, Aufständen, Verbrechen, Landstreicherei und generell „vor den Leuten, die ungeordnet auftauchen und verschwinden, leben und sterben“ führte laut Foucault zu weitreichenden Disziplinarmassnahmen. Die “verpestete Stadt“, die von „Hierarchie und Überwachung, von Blick und Schrift ganz durchdrungen ist“ bezeichnet Foucault als „die Utopie der vollkommen regierten Stadt/Gesellschaft“. Deshalb „träumten die Regierenden vom Pestzustand, um die perfekten Disziplinen funktionieren zu lassen“. Foucaults Analyse lässt sich aktualisieren: Analog träumte der ehemalige US-Präsident George W. Bushs von der „Achse des Bösen“, um weitreichende Abwehr- und Überwachungsmethoden anzuwenden, die er in „normalen“ Zeiten niemals hätte durchsetzen können.
Die Mechanismen der verpesteten Stadt erfahren ihre Fortsetzung in Benthams Panoptikum. Jetzt aber unter dem Vorzeichen der Aufklärung, der liberalen Gesellschafts- und Wirtschaftsordnung sowie des Rechtsstaates. Die Disziplinaranlagen sind laut Foucault die „dunkle Kehrseite“ des egalitären Rechtsstaates. Die Aufklärung hat „die Freiheiten entdeckt“ und gleichzeitig die Disziplinierung und Überwachung erfunden, um das „automatische Funktionieren der Macht“ sicherzustellen.
„Der Einzelne wird zum Prinzip seiner eigenen Unterwerfung“
Im Panoptikum wird laut Foucault das Prinzip des Kerkers umgekehrt: «Von seinen drei Funktionen - einsperren, verdunkeln und verbergen - wird nur die erste aufrechterhalten, die beiden anderen fallen weg. „Die Macht ist dauernd sichtbar in Form des zentralen Turms, aber sie ist ‚uneinsehbar’, weil die Häftlinge nie wissen, ob sie tatsächlich von einem Aufseher überwacht werden. Es ist die Perfektion der Macht, die ihre Ausübung überflüssig macht. Derjenige, welcher der Sichtbarkeit unterworfen ist und dies weiß, übernimmt die Zwangsmittel der Macht und spielt sie gegen sich selber aus; er internalisiert das Machtverhältnis, in welchem er gleichzeitig beide Rollen spielt; er wird zum Prinzip seiner eigenen Unterwerfung.“ Dabei profitieren nicht nur der Staat und die Gesellschaft durch möglichst geringe Kosten, sondern auch die Gefangenen von hygienischen und sicheren Verhältnissen.
Das panoptische System ist laut Foucault „so etwas wie ein Ei des Kolumbus im Bereich der Politik“. Es ist nämlich keineswegs auf das Gefängnis beschränkt, sondern „ist vielseitig einsetzbar: es dient zur Besserung von Sträflingen, aber auch zur Heilung von Kranken, zur Belehrung von Schülern, zur Überwachung von Wahnsinnigen, zur Beaufsichtigung von Arbeitern, zur Arbeitsbeschaffung für Bettler und Müßiggänger.“ Es geht darum, „die Gesellschaftskräfte zu steigern – die Produktion zu erhöhen, die Wirtschaft zu entwickeln, die Bildung auszudehnen, das Niveau der öffentlichen Moral zu heben; zu Wachstum und Mehrung beizutragen.“
Im panoptischen System wird die Macht nicht nur automatisiert, sondern auch „entindividualisiert“. Dabei spielt es eine unbedeutende Rolle, wer die Macht ausübt. Der Eindruck ständiger Überwachung wirkt „bereits vor der Begehung von Fehlern, Irrtümern, Verbrechern“. Die große Stärke des Systems besteht darin, „niemals eingreifen zu müssen. Sich automatisch und geräuschlos durchzusetzen“.
Die Überwachung lässt die meisten Menschen kalt
Damit hat Foucault die Gefahren der Überwachung im Zeitalter des Internets vorgedacht. Die totale Überwachung durch die Geheimdienste wirkt automatisch und geräuschlos. Und sie lässt die meisten Menschen kalt, welche eher den Ausschluss aus der Internetgesellschaft fürchten als die ständige Überwachung. Sie werden vom System wahrgenommen und registriert, also existieren sie. Aufgrund der Belanglosigkeit ihrer Kommunikation haben sie nichts zu befürchten. Kritik an der Überwachung kommt vor allem von jenen Regierenden, die von fremden Geheimdiensten überwacht wurden und die ihrerseits überwachen lassen.
Die Sorglosigkeit breiter Kreise basiert auch auf dem Eindruck, bei den Geheimdiensten seien ohnehin Dilettanten am Werk, die nicht fähig waren, die Zerstörung der Türme des World Trade Centers oder die Mordserie des Nationalsozialistischen Untergrunds (NSU) in Deutschland zu verhindern. Und als im letzten Sommer die USA Terrorwarnungen veröffentlichte, wurde dies in der Öffentlichkeit als billige Finte des US-amerikanischen Geheimdienstes NSA interpretiert, um vom Überwachungsskandal um den Whistleblower Snowden abzulenken.