(hpd) Die Soziologin Necla Kelek formuliert in ihrem neuen Buch „Bittersüße Heimat. Bericht aus dem Inneren der Türkei" eine heftige Kritik an der gesellschaftlichen und politischen Entwicklung der Türkei.
Nicht nur aufgrund der Diskussion um einen möglichen EU-Beitritt verdient die gesellschaftliche und politische Entwicklung der Türkei Interesse. Weitaus bedeutsamer ist die Tatsache, dass mittlerweile große Teile der Bevölkerung der Bundesrepublik Deutschland von ebendort stammen. Viele Bestandteile der politischen Kultur dieses Landes zwischen Islam und Kemalismus finden sich als Mentalitäten und Orientierungen auch bei den hiesigen türkischstämmigen Bewohnern und Bürgern. Zu ihnen gehört auch die Soziologin Necla Kelek, die durch zwei kritische Bücher über das Frauenbild in der türkischen community und das Männerbild türkischer Muslime große öffentliche Aufmerksamkeit ausgelöst hat. Ihr neuestes Werk „Bittersüße Heimat. Bericht aus dem Inneren der Türkei" widmet sich nun der Entwicklung in dem Ursprungsland. Dabei handelt es sich aber noch weniger um eine wissenschaftliche Arbeit als die vorherigen Veröffentlichungen, stellt es doch eher einen politischen und soziologischen Reisebericht mit allgemeinen Reflexionen dar.
Das ambivalente Attribut „bittersüß" im Titel schien Kelek besonders passend zur Beschreibung ihres Bildes von der Türkei: „Es gibt so vieles ..., das mir nach wie vor so unendlich vertraut ist - die Gedichte von Orhand Veli, die Romane von Halide Edit und Orhan Pamuk, die Geselligkeit, die süße Verlockung der Speisen, die sehnsuchtsvollen Lieder Istanbuls, das Glitzern des Bosporus. Und daneben gibt es so vieles, das mich erbittert und zornig macht - dass Mädchen und Frauen ..., die ihre Rechte nicht kennen und von der Politik alleingelassen werden; dass kleine christliche Gemeinden sich vor der Feindseligkeit ihrer muslimischen Umwelt hinter hohen Mauern zurückziehen müssen; die Bereitschaft, Verbrechen ‚im Namen der Ehre' zu begehen, gegen die die Frauenorganisation Ka-mer kämpft; die Gleichgültigkeit der Menschen gegenüber allem, was von einer Vergangenheit zeugt, die älter ist als die Herrschaft der Osmanen, die Tabuisierung der Vergangenheit, in der die Türken Armenier und Griechen verfolgt, vertrieben und ermordet haben" (S. 16).
In den fünf Kapiteln des Buchs überwiegen diese letztgenannten Schattenseiten des Landes, macht Kelek doch anhand von autobiographischen Erinnerungen, persönlichen Begegnungen und mehreren Reiseeindrücken kritisch auf die freiheitsfeindlichen, kollektivistischen und rückschrittlichen Dimensionen des Landes aufmerksam. Dabei hebt die Autorin in den - allerdings weitgehend unstrukturierten einzelnen Kapitel - immer wieder die Diskriminierung der Frauen und den geringen Stellenwert des einzelnen Individuums, die Benachteiligung von ethnischen und religiösen Minderheiten und das nationalistische Verständnis vom starken „Türkentum", die schleichende Islamisierung des Alltagslebens und das unkritische Bild von dunklen Seiten der eigenen Geschichte hervor. Kelek verweist darüber hinaus auch darauf, dass eine Reihe von allgemein verbreiteten Auffassungen nicht haltbar sind. Anhand des staatlichen „Präsidiums für religiöse Angelegenheiten" wird deutlich, dass der Islam faktisch Staatsreligion ist und die Türkei nicht als laizistisch gelten kann.
Für einen EU-Beitritt ist das Land für die Autorin noch nicht reif: „Die Türkei hat sich immer noch nicht von den Autoritäten emanzipiert, weder vom Übervater Atatürk, noch vom Propheten. Sie setzt nicht auf mündige Bürger, sondern auf ‚die Nation'. Sie duldet einen ‚Staat im Staate', das Militär, das wie der große Abi, der die Ehre seiner Schwester kontrolliert, eifersüchtig über jede Veränderung wacht. Sie weigert sich, die Erblasten der Vergangenheit aufzuarbeiten, ihre Traumata zu bearbeiten und sich für das von ihr begangene Unrecht zu entschuldigen. Sie stellt den Gehorsam höher als die Verantwortung, das Kollektiv über den Einzelnen; sie ist nicht wirklich dialogfähig - auf Kritik, Ironie oder Spott reagiert sie beleidigt oder gewalttätig; die, die anderen Glauben sind, grenzt sie aus; Frauen kann sie nicht als gleichberechtigt akzeptieren" (S. 287). Die Türkei wäre aus Keleks Sicht gut beraten, erst einmal das eigene Haus zu ordnen. Dies bedeute demokratische Strukturen zu entwickeln, die Gleichberechtigung durchzusetzen und die verdrängte Geschichte aufzuarbeiten.
Sicherlich handelt es sich hier um eine einseitige Sicht. Sicherlich fehlt ein Blick auf die Fortschritte der letzten Jahre. Sicherlich mangelt es an einer vergleichenden Betrachtung. Gleichwohl können die inhaltlich angemessenen kritischen Einwände nicht ignoriert werden. Dies gilt auch und gerade für den Umgang mit den Positionen von Andersdenkenden: „In der türkischen Gesellschaft herrscht ein großes Misstrauen gegen das offene Wort und die kritische Nachfrage. Schell wird unterstellt, Kritik gelte nicht dem besonderen Gegenstand, dem spezifischen Ereignis der einzelnen Person, stelle vielmehr die Nation, die Türken oder den Glauben unter Generalverdacht" (S. 236). So lange in dieser Hinsicht keine Änderung eintritt, kann man in der Tat nicht von einer pluralistischen Gesellschaft sprechen. Derartige Rahmenbedingungen lähmen auch die politische Demokratisierung und gesellschaftliche Fortentwicklung der Türkei. Darauf aufmerksam gemacht zu haben, ist bei aller Kritik an einigen Überspitzungen ein hohes Verdienst von Keleks Buch.
Armin Pfahl-Traughber
Necla Kelek, Bittersüße Heimat. Bericht aus dem Inneren der Türkei, Köln 2008 (Kiepenheuer & Witsch), 303 S., 16,95 €