„Dissidenten“ jetzt online

BERLIN (hpd) Am 16. November 2008 gründeten elf weltliche Verbände, Stiftungen und Akademien den „Koordinierungsrat säkularer Organisationen“ (KORSO). Das wirft die Frage nach den Vorgängern auf, was diese wollten, was sie erreichten und woran sie scheiterten. Das 1997 erschienene Buch von Horst Groschopp „Dissidenten“ – es beschreibt umfänglich den ersten historischen Versuch, das „Weimarer Kartell“ – hat der Autor nun in einer zweiten Auflage im Internet allgemein zugänglich gemacht. Am 8./9. Juni 2009 hat dieser erste historische Versuch nämlich seinen 100. Gründungstag.

 

Das „Weimarer Kartell“ (1909-1919) ging der „Reichsarbeitsgemeinschaft freigeistiger Verbände“ (RaG, 1922-1933/34), dem „Deutschen Volksbund für Geistesfreiheit“ (DVfG, 1949-1991) und der 1991 daraus gewachsenen Nachfolgeorganisation „Dachverband freier Weltanschauungsgemeinschaften“ (DFW) voraus. Der KORSO ist also, je nach Traditionslinie, der dritte oder vierte Versuch eines Zusammengehens atheistischer, freidenkerischer und humanistischer Verbände, Stiftungen, Akademien ...

Die „Dissidenten“ beschreiben, wie sich vor hundert Jahren in Magdeburg feierlich das „Weimarer Kartell“ konstituierte als Verbund von – wie man heute sagen würde – säkularen Organisationen. Im Vorwort (siehe pdf Vorwort im Anhang) zieht der Autor Verbindungen zu aktuellen Prozessen und erläutert die Entstehungsbedingungen des Buches.
Der KORSO ist ein Verein. Genau das wollten die Gründer des „Weimarer Kartells“ nicht, um nicht durch eine zu starke Bindung an ein gemeinsames Statut mögliche Bündnispartner auszuschließen oder Streitfragen per Satzung beizulegen.
Als „Kartelle“ wurden ursprünglich die Kampfformationen bei Ritterturnieren bezeichnet. Um 1900 kam der Begriff in Mode, weil Kartelle zu einer Kooperationsform von Firmen wurden, um in bestimmten Produktionszweigen zur Beherrschung des kapitalistischen Marktes Monopole zu konstituieren und (oft geheime) Absprachen zu treffen. Da zu dieser Zeit auch ein – noch sehr begrenzter – Markt von Religionen und Weltanschauungen entstand, drückte der Begriff eine moderne Variante des Zusammenschlusses aus.

Auch das Wort „säkular“ – wie es heute der KORSO benutzt – war damals nicht in Gebrauch. Man hätte (und hat) „freigeistig“ genommen. Das ist gegenwärtig eher ein Begriff, der Esoterisches und Freikirchliches assoziiert. Der Name „säkular“ hätte das Weimarer Kartell auch aus aktueller Sicht nicht richtig bezeichnet, weil sich einige der Verbündeten (siehe pdf Organisationen bis 1914 im Anhang) klar religiös verstanden, sich überhaupt ein buntes Spektrum von Personen und Verbänden zusammenfand.
Es kartellierten Atheisten, Buddhisten, Euphoristen, Freimaurer, Freireligiöse, Freidenker, Humanisten, Monisten, Naturalisten, Sozialisten sowie Beförderer des Kirchenaustritts und der Sterbehilfe mit Mutterschutz-, Schul- und Sexualreformern – aber auch Anhänger von Vererbungslehren, Rassenideen und der Rassehygiene waren dabei.
Die fünfzehn Gründungsmitglieder und fünf verwandten Verbände bzw. Bewegungen traten, wie die „Dissidenten“ beschreiben, gemeinsam „für freiheitliche Kultur“ ein (siehe pdf Inhaltsverzeichnis im Anhang). Das Kartell setzte ein Signal für Konfessionsfreiheit und Staat-Kirche-Trennung. Die Gründer waren fast alle – juristisch gesehen – Dissidenten: nicht evangelisch, katholisch oder jüdisch; aber auch nicht einfach nur dissidentisch im Sinne von „konfessionslos“. Sie waren in „Gesinnungsgemeinschaften“, wie es damals hieß, aber auch in eher losen Zusammenhängen organisiert.
Im „Weimarer Kartell“ von 1909 versuchten die Politischsten von ihnen eine Interessenvertretung zu finden. Einige ihrer Forderungen (siehe pdf Forderungen 1909 im Anhang) sind durchaus noch aktuell.

Die Geschichte der Dissidenten ist zugleich die Entstehungsgeschichte der meisten bis ins Heute reichenden Debatten über Kulturfragen, die erst durch die einsetzende Konfessionsfreiheit und Trennung von Gesellschaft und Religion sowie Kirche und Staat gestellt werden konnten, von der weltlichen Feierkultur bis zur Sterbehilfe, aber auch Fragen, von deren Antworten sich heutige Konfessionsfreienverbände eindeutig distanzieren, z.B. von der „Rassenhygiene“ und von Menschenzüchtungsutopien. Wie diese Positionen mit der Aufnahme der Forschungsergebnisse von Charles Darwin zusammenhängen und wie die Rezeption des „Darwinismus“ in der Freidenkerbewegung ausfiel – auch darauf gehen die „Dissidenten“ ausführlich ein.

Mit der Publikation der „Dissidenten“ hat der Autor eine Reihe weiterer Ausarbeitungen allgemein zugänglich gemacht, die mit dem Buch thematisch zusammenhängen, so z.B. eine kleine „Geschichte des Kirchenaustritts“, des „Atheismus in der DDR“ und neuere wie ältere Texte über Humanismus heute.

Claudia Buchmann

Horst Groschopp: Dissidenten. Freidenkerei und Kultur in Deutschland. 2., korr. Aufl. (Internetausgabe). Mit einem Vorwort des Autors. Berlin 2009, 490 S.

Das Titelbild ist der Umschlag der vergriffenen ersten Auflage im Dietz Verlag Berlin 1997. Es zeigt eine zeitgenössische Karikatur („Lustige Blätter“, 1900) des Zoologen, „deutschen Darwin“ und freidenkerischen „Gegenpapst“ Ernst Haeckel vor dem Berliner Dom, wie er, seine Lösung der „Welträtsel“ unterm Arm und mit der Fackel der Aufklärung in der Hand in die hauptstädtische Finsternis hinein leuchtet und die Obrigkeit erschreckt. (Quelle des Originals: Ernst-Haeckel-Museum Jena)