Religion: Die neuesten Erkenntnisse (4)

Sind wir von Natur aus religiös?

 

 

Damit befindet sich diese Artikelreihe auf dem aktuellen Forschungsstand. Nun möchte ich an Gregory S. Paul anschließen und noch einen Schritt weitergehen: „Die Nicht-Universalität starker religiöser Frömmigkeit und die Leichtigkeit, mit der große Populationen ernsthaften Theismus aufgeben, wenn die Bedingungen hinreichend gutartig sind, widerlegen die Hypothese, dass religiöser Glaube und religiöse Praxis den normalen, tiefeingeprägten mentalen Zustand darstellen, ob sie nun künstlich sind oder natürlich“, schreibt er. Dies bedeutet im Übrigen auch, dass religiöse Indoktrination im Kindesalter keine so große Wirkung hat, wie bislang, u.a. von Richard Dawkins, angenommen. Gut so, denn damit würden Gläubige ohnehin niemals freiwillig aufhören (Fragen Sie einmal einen Evangelikalen, was er von der Idee hält, seinen Kindern nicht von Jesus zu erzählen. Ich habe einen gefragt, die Antwort können Sie sich vorstellen).

Die Religiosität ist also keineswegs der Normalzustand und ist somit nicht zu vergleichen mit Adaptionen wie unserem Sexualdrang. Wenn sie eine Adaption ist, dann hat Religiosität eine sehr limitierte Funktion. Sie verringert den Stress und die Anspannung, die aus modernen Zivilisationskrankheiten, vor allem dem Hauptfaktor der ungerechten Einkommensverteilung, hervorgehen. Da diese Zivilisationskrankeiten allerdings modern sind, also erst seit Beginn der Landwirtschaft vor 10 000 Jahren existieren, ist die Religiosität keine Adaption. Adaptionen, also Anpassungen an Umweltbedingungen, die von der Evolution selektiert werden, benötigen weitaus länger als 10 000 Jahre, um den Weg in unsere Gene zu finden. Religiosität kann nur ein Nebenprodukt sein, wahrscheinlich vor allem von unserer Hypersozialität und somit unserer Fähigkeit, mit Agenten zu interagieren, die nicht anwesend sind.

Dies tun wir zum Beispiel, wenn wir die Gräber von verstorbenen Verwandten und Freunden besuchen und dort mit ihnen reden oder uns überlegen, was sie sagen würden. Beerdigungsritale und das Verbot der Grabesschändung sind ebenso Beispiele für unsere Hypersozialität (den Toten ist es egal, was wir mit ihnen machen). Von Naturvölkern weiß man, dass die im Dorf zurückgebliebenen Frauen zur Unterstützung ihrer jagenden oder Krieg führenden Männer Tänze aufführen. Weitere Beispiele für Hypersozialität sind Gebete, die Verehrung von Ahnen, oder der Glaube an Gott.

Damit wäre die Sache im Grunde erledigt und die adaptionistische These der Religiosität hat sich als unhaltbare Spekulation herausgestellt. Sie wurde auch von atheistischen Wissenschaftlern vertreten, vermutlich aufgrund der Frustration bei dem Versuch Gläubige zu überzeugen. Wenn man die Religion einfach zur Veranlagungssache erklärt, kann man sich die Aufklärung ersparen. Doch nun haben wir eine gute Erklärung dafür, warum Gläubige so schwer zu überzeugen sind und sie hat einen Vorteil gegenüber dem Adaptionismus: Sie ist wahr.

Optimistisch betrachtet wird nun kein Soziobiologe oder Religionswissenschaftler jemals wieder behaupten, dass Religiosität ein Bestandteil der menschlichen Natur wäre, weil sie die menschliche Fitness erhöhen würde. So einfach wird es aber leider nicht sein, darum führe ich im Folgenden weitere Argumente gegen den Adaptionismus an.