Religion: Die neuesten Erkenntnisse (4)

Religiosität ist ein Nebenprodukt

 

Gläubige bekommen aufgrund ihrer religiösen Natur mehr Kinder (Fitness: Erzeugung fruchtbarer Nachkommen) und Atheisten sterben aus. Das ist die Kernthese der Adaptionisten. Dabei nehmen sie an, dass Religiosität in der menschlichen Natur liegt und Atheisten insgemein auch religiös sind (schließlich sind sie ebenfalls Menschen) – siehe die Beerdigungsritale von Lenin und Stalin. Das ist zwar ein Widerspruch, da Atheisten kaum aussterben können, wenn sie ohnehin zugleich religiös sind. Aber Widersprüche gehören, wie noch zu sehen, zur Grundausstattung der Templeton-Fraktion.

Zusammengefasst:

1. Der Adaptionismus (der Religiosität) basiert auf dem Prinzip der Gruppenselektion. Gruppenselektion existiert nicht. Richard Dawkins hat einen großen Teil seiner Karriere damit verbracht, zu erklären, warum das Gen oder das Individuum (je nach Perspektive) der Ansatzpunkt der natürlichen Selektion sind und nicht die Gruppe. Bereits in Das egoistische Gen stellte er fest: „Obwohl die Theorie der Gruppenselektion von nur wenigen professionellen Biologen, welche die Evolution verstehen, vertreten wird, verfügt sie über eine große intuitive Anziehungskraft“ (S 8, englische Jubiläumsausgabe). Und mit diesem Problem haben wir heute noch zu kämpfen. Allenfalls in Bezug auf die kulturelle Evolution ergibt das Konzept der Gruppenselektion Sinn, je nachdem, wie man diese Begriffe definiert, gewiss aber nicht in Bezug auf die natürliche Evolution.

2. Wichtig für den Adaptionismus ist die These, dass die Verehrung einer übernatürlichen Kreatur kooperatives Verhalten begünstige (wg. deren Wächterfunktion, also weil Gott zusieht und seine Anhänger im Jenseits Rechenschaft ablegen lässt) und sich Gläubige darum kooperativer verhielten als Atheisten. Aber diese These ist falsch. Atheisten verhalten sich genauso kooperativ wie Theisten. Das schreibt Michael Blume sogar in seinem eigenen Buch: „Das Experiment bestätigt die Hypothese, dass Religiosität die zwischenmenschliche Kooperation fördert – genauso wie die weltliche Moral [...]“. (S. 171). Gläubige und Atheisten verhalten sich ebenso großzügig und kooperativ.

3. In „Gott, Gene und Gehirn” erfahren wir zudem, dass verschiedene Konfessionen unterschiedlich reproduktiv sind. Aber warum? Sind manche Religionen etwa religiöser als andere Religionen? Laut Michael Blumes These müssten sie das sein. Demnach wären z.B. die römischen Katholiken religiöser als die Zeugen Jehovas (vgl. S. 86). Auf S. 87 steht, dass das Dogma der Enthaltsamkeit zum Aussterben der Shaker geführt habe. Waren ausgerechnet die Shaker weniger religiös als andere? Wohl kaum. Sonst hätte ja nicht ihr konsequent eingehaltenes Dogma der Enthaltsamkeit zu ihrem Aussterben geführt.

4. Auf S. 94 steht über die !Kung San: „Religiöse Überlieferungen ermutigten sie, Kinder zur Welt zu bringen [...]“. Also war es nicht die genetisch vererbte Religiosität, die zum Kinderreichtum führte. Es waren die religiösen Überlieferungen, ein kulturelles Erzeugnis.

5. Schließlich erklärt Michael Blume ausführlich selbst, warum seine These unzutreffend ist: „Unter diesen tausenden von Religionen haben sich nur jene durchgesetzt, die in ihrer Morallehre den Glauben an das Sondereigentum und den Glauben an die Familie vertreten haben. [...] Aus den Tausenden von religiösen Gemeinschaften, die jedes Jahr durch Abspaltung oder Neugründung überall auf der Welt entstehen, verschwinden die meisten wieder, noch bevor sie überhaupt die Wahrnehmungsschwelle von Öffentlichkeit oder Wissenschaft erreicht haben.” (S. 95-96). Es ist wiederum nicht die (natürliche) Religiosität, die zu Kinderreichtum führt, sondern bestimmte (kulturelle) Glaubensinhalte! Und die Tausenden von religiösen Gemeinschaften, die gleich wieder verschwinden, werden auch kaum mehr Kinder in die Welt setzen, als säkulare Gemeinschaften.

6. „Einige Staaten”, heißt es ferner, „wie Frankreich, Irland und Schweden” haben „inzwischen mit starker staatlicher Familienförderung die Geburtenrate in die Nähe der Bestandserhaltungsgrenze gehoben [...]” (S. 100). Wenn Religiöse wegen ihrer Natur mehr Kinder produzieren als Atheisten, sollte das aber nicht möglich sein. In Schweden gibt es schließlich 80% Atheisten. Oder sind das wieder die ominösen Undercover-Gläubigen?

7. Schließlich führt Michael Blume die Kriterien, die zu Kinderreichtum führen, selbst an: „Religiöse Lehren”, „Soziale Einbindung”, „Familiendienste”, „Stressbewältigung”, „Partnerwahl” (vgl. S. 104-105). Mit religiösen Genen haben diese Faktoren nichts zu tun.

8. Atheisten sterben nicht aus. Im Gegenteil sind sie in allen modernen Demokratien auf dem Vormarsch.

9. Religiosität ist als Partnerwahlkriterium völlig irrelevant. Wichtig sind Freundlichkeit, Attraktivität und Intelligenz.

Das alles soll nun keineswegs bedeuten, dass Religiosität überhaupt keine biologische Basis hätte. Im Prinzip ist Religiosität mit der Musikalität vergleichbar, nur nicht so, wie Michael Blume das gerne möchte. Die Musikalität (unsere Fähigkeit, Musik zu produzieren und zu genießen) ist nämlich ebenfalls ein Nebenprodukt, in diesem Falle von unserer adaptiven Sprachfähigkeit. Ein Nebenprodukt ist ein mögliches Ergebnis bestimmter Adaptionen, das aber selbst nicht adaptiv ist. Als hypersoziale Lebewesen können Menschen Sprache gut gebrauchen, Musik brauchen sie nicht. Sie existiert aber trotzdem, so auch die Religion.

Aufgrund bestimmter Anlagen neigen manche Menschen womöglich etwas mehr zur Religiosität als andere, wie eine Studie des Journal for the Scientific Understanding of Religion aufzeigt. Insgesamt gesehen ist Religion jedoch, wie die neueste Forschung gezeigt hat, das Produkt einer kranken Gesellschaft. Es ist sogar möglich, die gesellschaftliche Gesundheit direkt am Grade der Religiosität einer Gesellschaft zu messen. Religion ist ein Versuch, der ungerechten Welt zu entkommen, anstatt für Gerechtigkeit zu sorgen. Religion ist eine Droge, die, ähnlich der Alkoholsucht, die Probleme nicht löst, die sie hervorgebracht hat. Vielmehr legt sie große Steine in den Weg zu einer besseren Welt.