Reise in den Evangelikalen Märchenwald

Der kognitive Spagat

Auf meine Frage, welche Rolle Religion in Politik, Justiz und Bildung seines Erachtens spielen sollte, grenzt er zunächst christlichen Glauben von Religion ab, um dann zu formulieren: „Dort wo Christen Einfluss haben möchten auf die Gestaltung des gemeinsamen öffentlichen Lebens, müssen sie sich in einer Weise einbringen, die für andere rational nachvollziehbar ist. Da reicht es nicht, eine Bibelstelle zu zitieren.“ Klingt gut, ist aber nicht so.

Der „Ehrfurcht vor Gott“ als Bildungsziel schreibt er in Schulgesetzen eine „außerordentlich humanisierende“ Funktion zu, „wenn er dem Menschen deutlich macht: kein Mensch ist Gott. … Denn der jüdisch-christliche Gottesglaube hat eine anti-ideologische Funktion.“ Einen Unterschied zwischen evangelisch und evangelikal gibt es laut Hempelmann nicht, da dies auf ein Übersetzungmissverständniss zurückgehe.

Mission hält er, übrigens auch Muslimen gegenüber, nur für das Bekanntmachen mit den Worten des Jesus von Nazareth. Wäre er in beispielsweise Afghanistan geboren, antwortet er auf meine Frage, hätte er wahrscheinlich „keine andere Chance gehabt, als an den muslimischen Gott zu glauben.“
Dennoch sei Religion für ihn keine reine Erziehungssache. Seinen Gott als absolute Wahrheit zu betrachten wäre für ihn „Dummheit“. Schöne Grüße an die Glaubenskollegen!

Angesprochen auf die finanziellen Verhältnisse der Kirchen meint er, dass „da vielleicht alte Zöpfe abgeschnitten werden müssen. Trotzdem treten die Kirchen in unserer Gesellschaft für Menschenwürde und –rechte ein.“ Klar – Hempelmann gehört schließlich zu den Menschen, die für die Öffentlichkeitsarbeit der Kirchen mitverantwortlich sind.

Als ich wissen möchte, ob er sich vorstellen kann, dass sich Menschen auch dann fair untereinander behandeln, wenn am Ende kein ewiges Leben im Paradies winkt, setzt er dieses ewige Leben mit einem „normativen Horizont“ gleich, ohne den ein faires Miteinander nicht möglich wäre. Religion sei aber seines Erachtens nicht in der Lage diesen Horizont zu formulieren. „Schließlich hatte das Christentum 2000 Jahre lang die Chance dazu und hat es nicht geschafft.“ Würde ich Herrn Hempelmanns Funktion und Einstellung nicht kennen, würde ich ihn glatt für aufgeklärt halten. „In der evangelischen Kirche ist niemand da der einem vorschreibt, das musst Du jetzt so und so verstehen oder glauben.“

Gut. Kommen wir also zum Themenblock Sexualität, sexuelle Selbstbestimmung, Homosexualität und außerehelichem Sex. Hempelmann lächelt, gibt zu überlegen, ob das tatsächlich Teil des Interviews werden soll und, gebeten um seine offizielle Position als Pfarrer und Theologe, folgt ein dreiminütiger Ausflug in vorsichtige Formulierungen über den Zustand unserer Welt. Doch zum Thema Homosexualität „fällt es schwer etwas zu sagen. Ähnlich schwer wie gegenüber dem Judentum. Da bin ich befangen.“ Homosexualität hält er „in manchen Fällen für das Ergebnis einer psychosozialen Fehlentwicklung“, spricht sich aber gegen jede Form der Unterdrückung von Homosexualität aus. „Was jedoch umgekehrt in einer pluralistischen Gesellschaft möglich sein muss, wenn ein Mensch diese Prägung verlassen will, dass wir Therapieangebote machen.“ Als Beispiele führt er Menschen an, die unter der Differenz leiden, zwischen dem was sie empfinden und dem was sie empfinden wollen. Ich frage ihn, ob er eine religiöse Sozialisation, die Homosexualität dämonisiert, als mögliche Ursache für diese Differenz hält. „Ja natürlich, sicher, klar!“ Von Reflexion über diesen Widerspruch, über die Unverschämtheit, Menschen Schuld einzureden, um sie anschließend davon zu erlösen, allerdings keine Spur. Als wesentliche Ursache für weibliche Homosexualität nennt er sexuellen Missbrauch.

Wie steht es mit einem Leben nach dem Tod? „Ich wünsche mir, dass im Anschluss an dieses Leben, dass eine Menge Herausforderungen mit sich bringt, nochmal was anderes kommt. Das ist aber nicht der Grund warum ich daran glaube. Ich kann es nicht wissen, kann es aber mit Gründen hoffen, weil der Gott der israelischen Geschichte, der sich manifestiert hat in Jesus von Nazareth, an einer Stelle die Todesgrenze durchbrochen hat. Das Zeugnis des neuen Testamentes, das ich für historisch glaubwürdig halte, lautet: dieser Jesus ist am dritten Tag nach seinem Tod real auferstanden, das Grab war leer. Das halte ich für richtig, und wenn ich das nicht tun würde, weiß ich nicht ob ich noch Christ wäre. Wenn das ein Handeln Gottes war, das sich nicht naturalistisch erklären lässt, dann traue ich diesem Gott zu, dass er das nochmal hinkriegt mit einer Menge Menschen mehr. Ich gehe davon aus, dass eines Tages alle Menschen diesem Gott begegnen werden.“ Klar, erinnere ich mich, das ist christlich-religiöser Glaube: ein Für-wahr-halten. Ich muss es kurzfristig vergessen haben, denn schließlich sitzt mir hier ein erwachsener Mann gegenüber, sogar einer, der offensichtlich dazu in der Lage ist, rationale Überlegungen anzustellen. Der kognitive Spagat, in den Herr Hempelmann sich zusammen mit unzähligen anderen Menschen begibt, die 2000 Jahre alten Spekulationen eines Hirtenvolkes für Realität zu halten, scheint ihm aber nichts auszumachen.