"Es ist an der Zeit..."

(hpd) Worin soll das zentrale Merkmal heutiger jüdischer und israelischer Identität bestehen? In der Erinnerung an den Holocaust oder in der Orientierung an der Universalität? Diesen Gegensatz formuliert Avraham Burg, ehemaliger Berater von Schimon Peres und Sprecher der Knesset in seinem Buch „Hitler besiegen. Warum Israel sich endlich vom Holocaust lösen muss“.

Wie der Titel schon vermuten lässt, beklagt Burg die immer stärkere Fixierung der israelischen Politik auf den Holocaust. Die damit verbundene Orientierung habe seit Ende der 1960er Jahre nicht zu einer fortschrittlichen Öffnung des politischen Denkens geführt. Vielmehr sei es zu Rückschritten in Richtung von Dogmen und Mythen gekommen. Burg formuliert sein gegenteiliges Plädoyer mit scharfen Worten: „Es ist an der Zeit, Auschwitz hinter uns zu lassen und ein gesundes Israel aufzubauen“ (S. 240). Kurzum, hier äußert sich ein prominenter Angehöriger des Establishments der israelischen Politik als scharfer Kritiker der israelischen Politik – was in der Kombination seinem Buch einen besonderen Reiz gibt.

Inhaltlich handelt es sich um eine Mischung aus autobiographischen Schilderungen und politischen Kommentaren – also eher um einen reflektierenden Essay, denn ein wissenschaftliches Sachbuch. Ausgangspunkt von Burgs Betrachtungen ist die Auffassung, die Erinnerung an den Holocaust dominiere das politische Denken und öffentliche Leben: „Aber so, wie das Gedenken sich heute gestaltet – das absolute Monopol und die Dominanz der Shoah über alle Aspekte unseres Lebens -, verwandelt es diese heilige Erinnerung in ein lächerliches Sakrileg und lässt brennenden Schmerz hohl und kitschig werden“ (S. 34). Darüber hinaus nutze die Politik seines Landes die Erinnerung an den Massenmord an den Juden zur Legitimation ihrer Handlungen: „Wir haben die Shoah aus ihrem historischen Kontext gerissen und zur Entschuldigung und Triefkraft jeglichen Handelns gemacht.“ Und weiter heißt es mit kritischem Unterton: „Alles ist erlaubt, weil wir die Shoah durchgemacht haben und niemand uns sagen darf, was wir zu tun haben“(S. 94).

Begleitet wird die Argumentation für diese Kernauffassungen mit einer Reihe von Kommentaren und Reflexionen über einige Besonderheiten des öffentlichen Lebens in Israel: Burg sieht viele Gemeinsamkeiten, welche die politische Kultur des israelischen Staates mit der Weimarer Republik hätte (vgl. S. 80). Er meint, man habe die Rachgefühle und Wut über die Nazis auf die Araber übertragen (vgl. S. 95). Burg spricht davon, der Armenier-Genozid der Türken würde nicht anerkannt, um das eigene Monopol als Opfer eines Völkermordes zu verteidigen (vgl. S. 176). Und er wünscht, dass sich Israel von einem orthodoxen Verständnis vom Jude-Sein distanzieren solle (vgl. S. 270). Letzteres bringt er gar mit den „Definitionen der Nürnberger Gesetze“ (S. 270) in Verbindung, woraus man exemplarisch die inhaltlich scharfe Kommentierung, aber auch bedenkliche historische Perspektive erkennen kann. Dem allen stellt er seine Vorstellung vom Judentum als „Teil meiner Verantwortung für die Welt, die Natur, die Schöpfung und die Menschheit“ (S. 246) gegenüber.

Burgs Auffassungen und Forderungen weisen eine stark konfrontative, mitunter auch eine versöhnliche Perspektive auf. Dabei vergreift er sich aber nicht selten mit bedenklichen Gleichsetzungen und Überspitzungen. So mag es in der Gesellschaft des Staates Israel sehr wohl Gemeinsamkeiten mit der Weimarer Republik geben. Nur, es besteht ein ganz bedeutender Unterschied: Letztere war nicht von Ländern mit Bewegungen oder Regierungen umringt, welche sich dezidiert die Auflösung und Vernichtung eben dieses Staates auf die Fahne geschrieben hatten. Überhaupt ignoriert Burg bei aller berechtigter oder nachvollziehbarer Kritik im Detail die objektive Sicherheitslage für Israel, agieren Gesellschaft und Staat doch nicht in einer isolierten Situation. Viele seiner Ausführungen können auch schnell falsch verstanden werden. Hier hätte es mitunter einer sorgfältigeren und zurückhaltenderen Formulierung bedurft. Gleichwohl stehen Autor und Buch mit der darin enthaltenen Sicht auch für den Meinungspluralismus im Staat Israel.

Armin Pfahl-Traughber

Avraham Burg, Hitler besiegen. Warum Israel sich endlich vom Holocaust lösen muss. Aus dem Englischen von Ulrike Bischoff, Frankfurt/M. 2009 (Campus-Verlag), 280 S., 22,90 €