Wie entstehen eliminatorische Angriffe?

(hpd) Der US-amerikanische Politologe Daniel Jonah Goldhagen will in seinem neuen Buch „Schlimmer als Krieg. Wie Völkermord entsteht und wie er zu verhindern ist“ eine neue Deutung von Massenmorden vorlegen. Er stellt dabei zutreffend auf den politischen Entscheidungsprozess bei derartigen Untaten ab, übernimmt sich aber mit dem Anspruch einer differenzierten und originären Interpretation.

Massenmorde an ethnisch definierbaren Gruppen, die als Genozid oder Völkermord bezeichnet werden, prägten immer wieder die Geschichte der Menschheit bis in die Gegenwart hinein. In den letzten Jahren erschien dazu eine Reihe von umfassenden Studien: Sie behandelten die bedeutendsten derartigen Vorfälle und wollten daraus vergleichend Erkenntnisse über die Ursachen gewinnen. Meist blieb es aber bei einer Auflistung von durchaus beachtenswerten Fakten zu einzelnen Genoziden, ohne zu solchen Ereignissen eine differenziertere Analyse der Bedingungsfaktoren vorzunehmen. Die Motive für derartige Untaten will der US-amerikanische Politologe Daniel Jonah Goldhagen, der 1996 sein nicht unumstrittenes, aber wirkungsreiches Buch „Hitlers willige Vollstrecker“ veröffentlichte, in seinem neuesten Werk aufarbeiten. Es trägt in der deutschen Übersetzung entsprechend den Titel „Schlimmer als Krieg. Wie Völkermord entsteht und wie er zu verhindern ist“ und will bewusst Definition, Erklärung und Bewertung auseinanderhalten.

Das Buch gliedert sich in 11 Kapitel, die wiederum in drei Teile untergliedert sind: Zunächst geht um die Klärung theoretischer Fragen. Goldhagen will den Begriff „Eliminationismus“ und nicht „Völkermord“ verwenden, was sein deutscher Verlag aber im Untertitel völlig ignoriert. Darüber hinaus liefert der Autor Typologien zu Ausmaß und Varianten eliminatorischer Angriffe. Der erste Teil des Bandes zur Erklärung des Eliminationismus präsentiert seinen eigenen Ansatz, der auf die zentrale Bedeutung politischer Entscheidungsträger abstellt. Danach geht es um die konkrete Durchführung der Massenmorde bezogen auf die Institutionen und Täter sowie auf die Motive von Letzteren. Der zweite Teil widmet sich stärker der Eliminierungspolitik in der Moderne, wobei auch die besonderen Merkmale der Täterüberzeugungen und die Funktion der Lagerwelten im Zentrum stehen. Und schließlich geht Goldhagen im dritten Teil auf die Fehlentwicklungen der internationalen Gemeinschaft ein und schlägt angemessenere Gegenstrategien vor.

Bilanzierend lassen sich seine Interpretationen in folgenden Aussagen erfassen: „Die Ingangsetzung eliminatorischer Massaker geht auf eine Entscheidung in ihrer reinsten Form zurück, frei getroffen und weder von abstrakten Kräften oder Strukturen determiniert noch zufällig von den Umständen herbeigeführt. In diesem Fall ist die von großen Männern ausgehenden Geschichtsauffassung – wobei unter ‚groß’ mächtig zu verstehen ist – überaus berechtigt, ist doch ein Mann erforderlich, der in dem Staat etwas bewegen kann“ (S. 98). Demnach stellt Goldhagen ganz zentral auf die Entscheidung der politisch Verantwortlichen ab, denn: „Massenmord ist ein politischer Akt, kein plötzlicher Ausbruch von Raserei wahnsinnig gewordener Individuen“ (S. 285). Das bedeutet aber auch: „Masseneliminierung ist immer vermeidbar ...“ (S. 322). Insofern plädiert der Autor für eine „ernsthafte internationale Strategie zur Prävention, Intervention und Bestrafung von Massenmord und -eliminierung begehenden Staaten und Politikern“ (S. 635).

Das Urteil über Goldhagens Buch fällt ambivalent aus: So macht es sehr wohl Sinn, vom Eliminationismus und nicht vom Völkermord zu sprechen. Mit dieser Begriffsveränderung kann man auch Massenmorde, wobei die Opfergruppe eben nicht über ethnische Kriterien identifizierbar ist, in diesem Kontext erörternd untersuchen und vergleichend behandeln. Ein weiterer Vorzug von „Schlimmer als Krieg“ besteht darin, dass hier nicht nur Informationen zu Untaten aufgelistet und gegen Ende in einem Schlusswort von wenigen Seiten sehr allgemein bilanzierende Betrachtungen angestellt werden. Goldhagen nimmt von Beginn an eine analytische und eine komparative Perspektive ein, welche einem Großteil der Literatur in diesem Ausmaß schlicht fehlt. Und schließlich betont er auch den Tatbestand der menschlichen und politischen Entscheidung für einen eliminatorischen Angriff, welcher eben auf den Willen zu einer solchen Handlung und nicht auf das Wirken des Schicksals zurückzuführen ist.

Diesen positiven Seiten des Buchs stehen unverkennbare Schwächen gegenüber: Der Autor wendet sich kritisch gegen andere Deutungen, die aber allzu barsch abgelehnt und herabgewürdigt werden. Dabei bleibt häufig unklar, wer die negierten Interpretationen überhaupt vertritt. Mitunter argumentiert Goldhagen gegen selbst aufgebaute „Strohmänner“. Darüber hinaus ignoriert er die Breite und Tiefe der Forschung, die durchaus differenziertere Analysen angestellt hat. Mitunter präsentiert der Autor hierdurch auch Positionen und Reflexionen von anderen Wissenschaftlern als originäre eigene Deutung – allerdings vielfach auf niedrigerem Niveau. Darüber hinaus fällt ein mitunter falscher, mitunter schlampiger, mitunter unkonkreter Umgang mit Fakten auf. Wer jahrelang ohne Lehrverpflichtungen zu einem solchen Thema arbeitet sollte größere Sorgfalt bei der Darstellung an den Tag legen. Goldhagens Auffassungen sind weder neu noch originell. Entgegen der Werbung des Verlags wird das Buch die Diskussion und Forschung nicht beflügeln.

Armin Pfahl-Traughber

 

Daniel Jonah Goldhagen, Schlimmer als Krieg. Wie Völkermord entsteht und wie er zu verhindern ist, München 2009 (Siedler-Verlag), 685 S., 29,95 €