Kein Platz für Gott

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Titelseite der 1. Auflage von 1859 / wikimedia commons

WIEN. (hpd) Gestern vor genau 150 Jahren ist „On the Origin of Species“ erschienen. Die Thesen von Charles Darwin waren die wahrscheinlich wichtigsten wissenschaftlichen Beiträge, Religion aus dem Alltag hinauszudrängen. Warum, versucht Christoph Baumgarten im (doppelten) Darwin-Jahr zu analysieren.

Die lebende Welt als Ergebnis einer Reihe von Zufällen. Nicht zielgerichtet, schon gar nicht fremdbestimmt durch obskure Kräfte. Transmutation nennt das Darwin in seinem Hauptwerk „The Origin of Species“ (Von der Entstehung der Arten). Eine direkte Attacke auf die anglikanische Kirche in Darwins Heimatland Großbritannien, ein direkter Angriff auf alle Kirchen, in deren regionalen Wirkungsbereichen sich das Werk verbreitete. Genau genommen ein Todesstoß. Tödlicher für die Machtbasis der Religionsgemeinschaften als alles, was die moderne Wissenschaft bis zu diesem Zeitpunkt produziert hatte.

Das ist nicht allein Darwin geschuldet, der als erster eine systematische wissenschaftliche Theorie des Lebens entwickelte. Nicht seine Genialität, nicht seine Autorität, die die harten Angriffe überstand, waren es, die das damalige Weltbild einstürzen ließen. Nicht nur.

Selten war eine Gesellschaft derart reif für derartige Erkenntnisse wie 1859, als Darwin nach langem Zögern, „The Origin of Species“ herausgab. Das war wohl auch ihm bekannt. Sonst hätte er seine Erkenntnisse nicht so lange der Menschheit vorenthalten. Darwin musste 50 werden, ehe er den Mut fand, der Welt die Erkenntnisse mitzuteilen, die er in seinen Zwanzigern auf seiner Weltreise auf der „Beagle“ gewonnen hatte. Er hatte eine Ahnung, was passieren würde. Die anglikanische Kirche gleichfalls.

Erosion der kirchlichen Macht

Der Kapitalismus hatte in den Jahrzehnten davor die in Großbritannien nicht geringe feudale Macht der Kirche erodieren lassen. Die traditionelle Allianz der Anglikaner mit dem britischen Adel, jahrhundertelang Legitimation für die Stellung der Kirche in der Gesellschaft, war infrage gestellt. Wie mit dem Bürgertum umzugehen war, das zu einem zunehmenden Machtfaktor geworden war, wusste die Kirche nur teilweise. Eine den Protestanten nahe stehende Ethik ermöglichte es ihr, die ökonomisch erfolgreicheren Bürger zu umarmen. Doch mit dem Wohlstand der aufstrebenden Klasse kam auch deren Bedürfnis nach politischer und ideologischer Macht, nach den Idealen der Aufklärung.

Die ökonomische und die ideologische Macht über die Massen war dahin. Das Proletariat, das es wenige Jahrzehnte davor nicht gegeben hatte, entzog sich dem Zugriff der Pfarrer, die ihm (auch in früh-viktorianischem Zeitgeist) die Segnungen eines sittenstrengen Lebens nahebringen wollten. Die Bauernschaft gab es nicht mehr. Zumindest nicht mehr in der Form wie, sagen wir, 1750, als das Land agrarisch geprägt gewesen war. Damals konnte man die Menschen unter der Knute halten. 1850 ging das nicht mehr. Zudem höhlte das Massenelend die moralische Legitimation der Kirche aus. Was war ein Gott gut, der Unterordnung unter feudale Verhältnisse forderte, die es nicht mehr gab, der einem durch Geburt einen „natürlichen“ Platz in der Gesellschaft zuwies, wenn der Platz nicht mehr existierte, wenn Ergebnis der Gesellschaftsordnung das eigene Elend war. Zehn-Zwölf- und mehr-Stundentage waren keine Ausnahme. Slums, Massenunterkünfte, Kinderarbeit auch in Minen, Dreck und Armut waren das Leben eines großen und wachsenden Teils der britischen Bevölkerung. Für eine Kirche, die nicht die Menschenrechte der Proletarier schützte sondern die satten Fabriks- und Großgrundbesitzer vor den hungrigen Massen, war bei den letzten kein Platz. Zugegeben keine Entwicklung, die sich auf Großbritannien beschränkte. Aber eine, die im Mutterland des Kapitalismus am stärksten ausgeprägt war.

Die Kirche hatte sich bei dieser Ausgangslage nolens volens auf ihre Stammgebiete zurückgezogen, allen moralischen und sonstigen Offensiven zum Trotz. Sie tat, was Religionsgemeinschaften seit je tun, was in einer wenig aufgeklärten Gesellschaft ihre Daseinsbasis ist. Eine Basis, die auf drei Säulen beruht: Zu erklären, woher die Welt (der Mensch) kommt, wie er zu leben hat und was mit der Welt (dem Menschen) passiert, wenn alles vorbei ist. Die Frage wozu der Mensch auf der Welt ist, die Sinnfrage, stülpt sich als Ergebnis der drei Grundfragen über diese drei Säulen, verquickt sich mit ihnen, ist aber aus sich heraus nur schwer befriedigend beantwortbar.

Ideologische Basis der Kirche gerät in Schieflage

Darwins Erkenntnisse rissen die erste Säule ohne Umstände weg. Das brachte die gesamte ideologische Basis der Kirche in Schieflage. Verliert sie ihr Monopol, den Ursprung der Welt zu erklären, sind sehr schnell die beiden anderen Säulen nicht mehr zu halten. Ein Gebäude, das an seiner Basis instabil ist, lässt sich nicht ewig lange aufrechterhalten, wenn es unmöglich ist, die Schäden zu reparieren. Zumindest nicht nach damaligem Weltbild.

„The Origin of Species“ war diese Art irreparabler Schaden. Erstmals eröffnete das Werk breiten Massen die Denkmöglichkeit, dass nicht Gott (und damit indirekt die Kirche) die Welt geschaffen hätte. Zum ersten Mal in der Geschichte gab es wissenschaftliche Erkenntnisse, die nahe legten, dass die Welt ohne Gott auskommen könnte. Was auch die Kirche obsolet machte. Zumal Darwin auch an der zweiten Säule kratzte. Nicht, wer gottgefällig lebte, war im Vorteil. Wer am besten angepasst war, würde das Rennen machen (nicht notwendigerweise der Stärkste, wie „the survival of the fittest“ im deutschen Sprachraum oft übersetzt wird). Der alte Idealismus als ideologischer Konsens einer Gesellschaft war tot. Der Materialismus ersetzte ihn.

Es wäre für die Kirche verkraftbar gewesen, hätte Darwins Theorie nur das Alter der Welt infrage gestellt. Zumal wissenschaftliche Erkenntnisse wie die Untersuchung von Fossilien in britischen Kohleminen, in den Jahrzehnten davor die Basis für Darwin geschaffen hatten. Auch Theorien, es gebe so etwas wie gemeinsame Vorfahren für alles Leben auf der Welt, gab es. Unter anderem von Darwins Großvater Erasmus Darwin. Charles war aber der erste, der sie wissenschaftlich ausformulierte. Die gängige Ausrede, die Fossilien seien Rückstände von Arten, die der Sintflut zum Opfer fielen, damals weit gebräuchlich, war nicht mehr glaubwürdig. Zu dicht war Darwins Beweiskette. Eine Schöpfung ohne Gott? Das ließ sich nicht mehr ausbügeln.

Die Reaktion war bezeichnend. Diffamierung Darwins im gesamten englischen Sprachraum. Zu recht und auch sehr explizit fürchteten die Kirchenfürsten, Darwin würde das Weltbild zum Einsturz bringen, was den eigenen Machterhalt wesentlich schwieriger machte. Dass die Thesen des Forschers rasch wissenschaftliches Allgemeingut wurden, konnte die Kampagne nicht verhindern.
Dass Darwin ein Jahrzehnt später postulierte, Mensch und Affe hätten gemeinsame Vorfahren gehabt, war für den Autor ungleich gefährlicher. Hier versuchten Darwins Gegner, seine Autorität in weiten Kreisen der Bevölkerung zu erschüttern. Dass der Mensch nicht Gottes Ebenbild sei, wurde zu einer der großen narzisstischen Kränkungen der Menschheit, wie es Sigmund Freud später formulierte. Das rief Widerstand auf den Plan. Wie groß die Kränkung war, wie groß das Bedürfnis, alte, „gottgewollte“ Zustände wiederherzustellen, zeigte 1925 „Scopes' Monkey Trial“ in den USA. Der Lehrer John Scopes stand in Tennessee vor Gericht, nachdem er Darwins Evolutionstheorie gelehrt hatte. Ein Verstoß gegen den „Butler Act“, der verbot, an öffentlichen Schulen im Bundesstaat Lehren zu verbreiten, die der Schöpfungslehre widersprachen. Insbesondere zu lehren, „der Mensch stamme von einer niedrigeren Klasse von Tieren ab“. Ungeachtet der bis heute existierenden Bestrebungen christlicher Fundamentalisten in den USA, die Evolution aus den Schulen zu verbannen, das letzte große Rückzugsgefecht. Lächerlicher konnten sie sich in einer aufgeklärten Welt nicht machen. Eine Welt, die auch Darwins Verdienst war.

Metaphysik des Materialismus

Darwin half mit, eine Ära der Fortschrittsgläubigkeit, der Wissenschaftsgläubigkeit, der Rationalität, einzuläuten, wie sie die (westliche) Welt noch nicht gesehen hatte. Auch diese nicht ohne Nachteile. Der unbedingte Technik-Optimismus wurde beinahe so absolut wie es früher das Bekenntnis zu einem allmächtigen Gott gewesen war, samt nachgeordneter Strukturen wie den diversen Kirchen. Auch dieser Materialismus hatte seine Metaphysik. Diese Ideologie, samt den rasanten gesellschaftlichen Änderungen, die sich aus der ökonomischen Entwicklung ergaben, förderte massiv die Reaktion. Oder man könnte sagen, sie schuf sie im heutigen Sinn. Als Ausdruck einer Rückkehr nach „geordneten“, weniger „chaotischen“ Zuständen, als Heil im Gestern. Und es ist zulässig, zu behaupten, dass die Synthese aus Technik-Gläubigkeit und Reaktion erst die mörderische Ideologien von Rassismus und Faschismus entstehen ließ. Das Darwin anzulasten, wäre aber Humbug.

Langfristig verstanden es die westlichen Religionsgemeinschaften, sich mit der Evolution zu arrangieren. Sie interpretierten die Genesis einfach zur Mythologie um, aus der es Lehren zu ziehen gelte. Was ihnen teilweise das Monopol zurückgab, über die Entstehung des Menschen zu verfügen. Eine andere Strategie war, die Naturwissenschaften mit Geistlichen zu unterwandern. Wenn schon jemand neue bahnbrechende Erkenntnisse haben würde, sollten es wenigstens Pfarrer oder Mönche sein. Giordano Bruno war lang verdrängt. Auf katholischer Seite taten sich die Jesuiten hervor. Monsignore Georges Lemaitre etwa war neben Edwin Hubble einer der Väter der Urknalltheorie. Kurioserweise verwehrte er sich dagegen, dass die katholische Kirche den Urknall als Schöpfungsakt deutete. Die Welt war seit Darwin aus den Fugen geraten. Seltsamere Allianzen sind kaum vorstellbar.

Schöpfung über’s Hintertürl

Aus Sicht der Kirche(n) erweist sich im Sinn der Selbsterhaltung die Theorie des „Intelligent Design“ als vielversprechender. Sie ist wissenschaftlich unwiderlegbar. Sie bringt ein per definitionem unbeweisbares Objekt in die These ein. Gott. Dass sie das nach allen wissenschaftlichen Kriterien zu einer unlauteren Theorie, genau genommen zu einer Nicht-Theorie, macht, stört US-Fundamentalisten und katholische Geistliche wie Christoph Schönborn wenig. Egal, wie wenig seriöse Wissenschaftler das „Intelligent Design“ ernst nehmen können, für sie ist es der Ausweg aus dem Dilemma. Wenn sogar die katholische Kirche die Evolution als Realität akzeptieren muss, kann man die Theorie nicht mehr anfechten. Will man die eingestürzte Säule der Deutungshoheit über den Ursprung der Welt wieder aufrichten, muss man die Schöpfung übers Hintertürl wieder reinbringen. Das ist „Intelligent Design“, die Verkörperung einer christlich-fundamentalistischen Vorstellung einer Synthese. Das erlaubt es auch, sich zu engagieren, „Lücken“ in der Evolutionstheorie zu schließen. Je perfekter die Theorie, desto perfekter die Synthese.

Das glaubt diese eigenwillige Allianz von US-Fundis und katholischen Reaktionären. Darwin zum Trotz. Die reaktionäre Ideologie, die sich als Wissenschaftlichkeit tarnt, dürfte wohl länger nicht von der Bildfläche verschwinden. Bis die Fundis eine neue Strategie entdecken, die aus ihrer Sicht mehr Erfolg verspricht.