Hochspannung! Anthropologie.

Nur ein kleiner Schritt von Rilke zu Kafka

In der Sloterdijkschen Argumentation ist es nur ein kleiner Schritt, der von Rilke zu Kafka weiterführt. Dieser liefert in seiner kleinen Erzählung „Ein Hungerkünstler“ das Paradigma einer Figur, die - nach dem Tode Gottes - eine Kunst ausübt, die an ihrem Ende von keinem transzendenten Ziel, von keiner „Erlösung“ mehr aufgefangen wird; die sich zwar vom üblichen Leben im täglichen Einerlei (frühstücken, mittagessen, abendessen) verabschiedet hat, die aber keine Verankerung im Jenseits mehr vorfindet; eine Artistik, die nichts als sie selbst sein will und sein kann. Der Kafkasche Künstler, der allzu gern über das (nicht-biblische) 40-tägige Fasten, das sein Impressario als Obergrenze festgesetzt hat, hinausgegangen wäre „bis ins Unbegreifliche“, beschließt sein Leben am Ende mit dem Eingeständnis, dass er mit seiner asketischen Kunst doch nichts anderem gefolgt sei, als seinem eigensten „Geschmack“, seinem ihm eigenen inneren Gesetz:

„ Ich musste hungern, weil ich nicht die Speise finden konnte, die mir schmeckt. Hätte ich sie gefunden, glaube mir, ich hätte kein Aufsehen gemacht und mich vollgegessen wie du und alle."

Daher auch die Bitte, sein Hungern betreffend: „Ihr sollt es nicht bewundern“ - nach Sloterdijk „das spirituellste Wort Europas im letzten Jahrhundert“. Hier findet die von ihrem hochgesteckten Ziel faszinierte Innerlichkeit eines Menschen ganz zu sich selbst; sie ordnet sich das Leben des Protagonisten, auch seine materiellen Bedingungen, ohne Rest unter. Deshalb hat niemand das Recht, ihn in seiner Artistik zu loben oder zu tadeln. Nur er selbst ist in der Lage, die Höhe seines Könnens abzuschätzen. Nur in seiner Kunst ist er ganz er selbst, auch wenn sie ihn schließlich das Leben kostet.

Es bedarf keiner großen Begründung, dass solche asketischen Extremismen heute kein Modell für Spiritualität mehr sein können, weder horizontal (also für jedermann) noch vertikal (in der Steilheit des inneren Anspruchs). Kafka selbst räumt schon im ersten Satz seiner Erzählung ein: „In den letzten Jahrzehnten ist das Interesse an Hungerkünstlern sehr zurückgegangen.“ Dieser Satz darf verallgemeinert werden. Auch die Religionen, gerade auch das Christentum, haben sich in ihren asketischen Übungen und Praktiken, mit deren Hilfe sie in früheren Zeiten ihre Gläubigen aus dem Trott der schlichten und schlechten Gewohnheiten herausreißen, aufrütteln und auf den Höhenweg einer sich selbst problematisierenden und religiös neu konditionierten Existenz führen wollten, gewandelt. Wer an die frühen Eremiten und Säulenheiligen, an Franz von Assisi, an Ignatius von Loyola und andere Kämpfernaturen und Ordensgründer zurückdenkt, sieht, dass ihre Zeit vorbei ist.

Auch soziologisch hat das Christentum, das die menschliche Existenz in einen maximalen Sinn- und Stressrahmen eingespannt hatte ( es ging um nicht weniger als das „ewige“ Schicksal jeder einzelnen Seele, die in eine metaphysische Heils- bzw. Unheilsgeschichte größtmöglicher Dimension eingebettet war) heute, im nachmetaphysischen Zeitalter - alle Metaphysik hat sich „erschöpft“ - erheblich an Wirkung eingebüßt. Auch wenn heute gern von einer „Rückkehr der Religion“ geredet wird, so muss doch diesem

„… Märchen… eine schärfere Sicht auf die spirituellen Tatsachen entgegengestellt werden. Ich werde zeigen, dass eine Rückwendung zur Religion ebenso wenig möglich ist wie eine Rückkehr der Religion - aus dem einfachen Grund, weil es keine >Religion< und keine >Religionen< gibt, sondern nur missverstandene spirituelle Übungssysteme, ob diese nun in Kollektiven - herkömmlich: Kirche, Ordo, Umma, sangha - praktiziert werden oder in personalisierten Ausführungen - im Wechselspiel mit dem >eigenen Gott<, bei dem sich die Bürger der Moderne privat versichern“ (S. 12).

„Spirituelle Übungssysteme“: Menschen versuchen, sich mit Hilfe metaphysischer Vorstellungen gegen die Nöte und Ungeschütztheiten ihres Daseins (Krankheiten, Schicksalsschläge, materielle Not, Tod) zu „immunisieren“. So ist es in der Tat keineswegs zufällig, sondern kennzeichnend, wenn viele Menschen, konfrontiert mit der Unbegreiflichkeit von Unglücksfällen oder Schicksalsschlägen (wie beispielsweise den jüngsten Amokläufen in Bayern und Baden-Württemberg), sich beinahe reflexhaft wieder einem Ort - ich meine die Kirchen - zuwenden, an dem dann allerdings eine (von bescheidener gewordenen Pastoren sogar eingestandene) theologische Verlegenheit und Antwortlosigkeit angesichts der Untätigkeit eines vorgeblich allmächtigen und allgütigen Vaters im Himmel den trauernden und verängstigten Menschen als karger Trost genügen muss. Immerhin, man sieht: existentielle Not und Ratlosigkeit wird auch heute noch, wenn auch vage, „religiös“ formatiert, und wenn es auch, wie dargestellt, keine Rückkehr der Religion geben kann, so gibt es doch eine „Wiederkehr des Unverstandenen“, ein „Rotationsphänomen“, das solange unvermeidlich ist, wie „das, was da war, untertaucht und wieder emporkommt, in seiner Eigenart nicht zureichend begriffen wurde“ (S. 169).