Hochspannung! Anthropologie.

Vom Hochseilakt zum Bodenturnen

Die Zeit der großen asketischen Programme ist also vorbei. Die rigorose und brachiale Ersetzung des alten Adam durch einen „neuen Menschen“ steht hierzulande weder in den Kirchen noch in den politischen Machtzentren auf der Agenda. Das Christentum hat sich von einem Akt „auf dem Hochseil“ zu einer weniger gefährlichen „bodenturnerischen“ Übung (S. 105) entschärft. Extremanstrengungen, auch Extrembedrohungen („Vorhölle“ oder gar „Hölle“) sind nicht mehr gefragt und wurden diskret aus dem Programm genommen. Im Zuge dieser Entschärfung hat sich - durchaus folgerichtig - das Christentum insgesamt von einer strikten „Angebotsreligion“ (wo die Gläubigen das hinzunehmen hatten, was von hoher und höchster Stelle als unverrückbare steile Wahrheit dargeboten wurde) zu einer milden „Nachfragereligion“ (S. 136f.) entwickelt: in der Verkündigung des Glaubens kommt nur noch das vor, was keinen Anstoß erregt oder abschreckt, was als hilfreich und tröstend erlebt wird. Es ist, zumindest hierzulande, zu einer Art spirituellem Wellnessprogramm mutiert, in dem der Immunisierungszweck des Ganzen, die psychische Stabilisierung des einzelnen angesichts einer labilen Gesamtlage, unverhüllt in den Vordergrund tritt. (Wie ein Nachläufer der früheren Angebotsstrukturen mutet da heute der Islam an. Da wird noch ohne Scheu gedroht mit jeder Art von Gewalt, von physischem Zwang bis zu psychischem Terror wird die ganze Skala von Einschüchterung und Maßregelung zur Anwendung gebracht - ohne dass der auch hier zugrundeliegende Immunisierungsgedanke dabei verloren geht. Er wird lediglich in anderer Form umgesetzt. Freilich: die Verkünder solchen Glaubens irren sich im Jahrhundert).

Auch auf der politischen Bühne haben sich die Zeiten grundlegend gewandelt. Die großen Menschenformungsprogramme leninistisch-stalinistisch-maoistischer Provenienz (vom kleinbürgerlichen deutschen Amoklauf des Nationalsozialismus ganz zu schweigen) haben sich nicht nur blamiert, sie haben sich in einer Weise desavouiert, die nicht mehr rückgängig zu machen ist. Die ungezählten Opfer der Exzesse solcher Politik im großen Stil - es handelt sich um eine Größe im hohen zweistelligen Millionenbereich - verpflichten uns zur Erinnerung und Vergewisserung der Gründe und Hintergründe dieser Katastrophen der Humanität. Es ist der Versuch einer planmäßigen Zerschlagung und Neukonstruktion des Menschen als Gattungswesen durch staatliche Macht und Gewalt, die solchen Terror generiert.

„Weil sich bei Vorhaben dieser Ambitionsstufe die Ausrottung des trägen Mitmenschen als das Mittel aller Mittel nahelegte, entstand in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts die historisch unerhörteste Form einer maladaptiven Kultur - die Kultur der Lager. Sie diente der Repression unter dem Vorwand der Umerziehung, der Vernichtung unter dem Vorwand der Arbeit, und schließlich der Auslöschung ohne Vorwand“ (S. 675).

Der menschengemäße „Ausweg“ aus der Situation seiner Gefangenschaft

Kehren wir zurück in die Gegenwart und ins gemäßigte Klima einer pluralistischen Demokratie. Hier darf professionelle schulische und außerschulische Bildungsarbeit als absichtsvolle Form der Änderung menschlichen Verhaltens durch Lernen nicht übergangen werden. In der Sloterdijkschen Argumentation spielt dabei das Imitationslernen eine wichtige Rolle: Vorbilder sind (wie im Rilkeschen Sonett) die Attraktoren, die uns auf einen guten oder weniger guten Weg bringen. Noch einmal können wir hierzu bei Kafka nachlesen. Schon Rotpeter, der Affe, der es in der Erzählung „Ein Bericht für eine Akademie“ durch „rücksichtsloses“ Lernen und „eine Anstrengung, die sich bisher auf der Erde nicht wiederholt hat“ bis zur „Durchschnittsbildung eines Europäers“ gebracht hat, beginnt sein Lernen mit genauen Beobachtungen menschlichem Verhaltens (z.B. Spucken, Pfeife rauchen, die Schnapsflasche entkorken) und wiederholender, übender Nachahmung. Vor die Alternative zoologischer Garten oder Varieté gestellt, wählt er das Varieté. Eben diese Wahl, durch Lernen und Üben etwas Besonderes, Einmaliges, Transanimalisches, Artistisches aus sich zu machen, ist der typisch spirituelle, also menschengemäße „Ausweg“ aus der Situation seiner Gefangenschaft; es ist sein Weg in die Menschenwelt, es macht ihn zum Menschen. (Nota bene: es geht nur um einen „Ausweg“; das Wort Freiheit wird dafür nicht verwendet.)