Wege aus dem Labyrinth (2)

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Kaiserthermen Trier. Foto: Udo Ungar

(hpd) Im ersten Teil seiner Replik auf Andreas Müller erläuterte Michael Schmidt-Salomon, warum er kein Inkompatibilist ist und bewusste Denkakte von entscheidender Bedeutung sind. In diesem zweiten Teil erklärt er, was man sinnvollerweise unter dem schillernden Begriff „Emergenz“ verstehen sollte, warum Leben tatsächlich mehr ist als bloße Physik und warum Mr. Data trotzdem nicht befürchten muss, in der „Schrottpresse“ zu landen.

Als ich am Manuskript von „Jenseits von Gut und Böse“ arbeitete, entschloss ich mich dazu, auf das ungemein komplexe Thema „Emergenz“ nicht explizit einzugehen. Schließlich war das Buch für eine breitere Leserschaft gedacht, sollte trotz seiner Informationsdichte möglichst unterhaltsam sein und auf keinen Fall bei der Lektüre Hirnkrämpfe verursachen. Wie ich nun, auch dank der Kritik von Andreas Müller, feststellen muss, war das Ausklammern der Frage „Was ist Emergenz?“ offenbar eine Fehlentscheidung. Denn ohne ein gewisses Grundverständnis von Emergenz lässt sich schwerlich nachvollziehen, warum das „Eigennutz-Prinzip“ ein „Naturgesetz des Lebens“ sein soll oder warum ich „Kultur“ als den entscheidenden „4. Akt der Evolution“ darstelle.

Möglicherweise werde ich irgendwann einmal die Zeit finden, das Emergenz- und Reduktionismus-Problem in einer gesonderten Veröffentlichung ausführlicher zu behandeln. Hier möchte ich aber zumindest andeuten, in welche Richtung eine Lösung dieses Problems gehen könnte. Dies ist deshalb vonnöten, da ein Teil der Missverständnisse in AMs Text damit zusammenhängt, dass wir das Wesen und die Bedeutung emergenter Prozesse bislang nur unzureichend begriffen haben. (Die nachfolgenden Ausführungen sind aufgrund der Komplexität des Problems einigermaßen schwierig zu lesen, obwohl ich mich redlich bemüht habe, die Argumentation möglichst einfach zu gestalten. Leider fand ich keinen Weg, den Text noch verständlicher zu formulieren.)

Gibt es ein „Naturgesetz des Lebens“?

Im zweiten Teil seiner Artikel-Serie schreibt Andreas Müller, dass ein „Naturgesetz des Lebens“ gar nicht existiere. Warum nicht? AM erläutert: „Naturgesetze werden alternativ als ‚Physikalische Gesetze’ bezeichnet, aber Schmidt-Salomon behauptet ja gerade, dass sich dieses Eigennutz-Prinzip wohl nicht auf die Physik reduzieren lasse. Mit dem Fatalismus und der Willensfreiheit hat das alles mal wieder gar nichts zu tun.“ Als Beleg für seine Behauptung, dass Naturgesetze „Physikalische Gesetze“ seien und somit biologische Prinzipien keinen Gesetzesstatus besäßen, greift Andreas Müller auf einen Wikipedia-Artikel zurück, was wohl ohnehin kaum die zuverlässigste Quelle für ein derart apodiktisches Urteil sein dürfte.

Doch akzeptieren wir spaßeshalber einmal die vermeintliche Autorität von Wikipedia. Wenn wir dies tun, so stellen wir fest, dass in dem von AM zitierten Artikel unter den Beispielen für Naturgesetze u.a. auch die „Natürliche Selektion“ aufgeführt wird, was die Bezeichnung „Physikalische Gesetze“ stark relativiert. Mehr noch: „Natürliche Selektion“ kann, wie wir wissen, nur unter einer spezifischen Voraussetzung stattfinden, nämlich der, dass es Organismen gibt, die danach streben, das Überleben ihres eigenen Erbmaterials zu sichern. Insofern können wir natürliche Selektion (wie auch die häufig übersehene, aber ebenso bedeutsame sexuelle Selektion!) als Folgeerscheinung eines basaleren biologischen Gesetzes betrachten, welches wir seit den 1970er Jahren unter dem Begriff „Prinzip Eigennutz“ kennen. Dieses Prinzip kann man, wie ich meine, deshalb als „Naturgesetz des Lebens“ bezeichnen, weil es ausnahmslos auf alle Lebensformen zutrifft. Denn Leben ist nun einmal ein „auf dem Prinzip Eigennutz beruhender Prozess der Selbstorganisation“! Bislang ist uns keine einzige Lebensform bekannt, auf die diese Minimaldefinition des Lebens nicht zutreffen würde.

Ist Leben bloß Physik?

Die eigentlich knifflige Frage ist nun, ob sich dieses biologische Prinzip möglicherweise auf physikalische Prozesse reduzieren lässt (wie AM meint) oder aber nicht (die von mir favorisierte Position). An dieser Stelle kommt jenes komplizierte Phänomen ins Spiel, das gemeinhin unter dem Begriff „Emergenz“ gefasst wird. Wie Ernst Mayr, einer der maßgeblichen Begründer der „Synthetischen Evolutionstheorie“, in seinem Buch „Das ist Biologie. Die Wissenschaft des Lebens“ ausführte, bedeutet „Emergenz“, dass „in einem strukturierten System auf höheren Integrationsebenen neue Eigenschaften entstehen, die sich nicht aus der Kenntnis der Bestandteile niedrigerer Ebenen ableiten lassen“. Etwas populärer kann man dies auch so ausdrücken: Das Ganze ist mehr als die Summe seiner Teile.

In unserer Welt können wir überall emergente Phänomene beobachten. Ein triviales Beispiel hierfür ist eine Uhr, die, sofern ihre Bestandteile funktionstüchtig und in der richtigen Ordnung zusammengefügt sind, Systemeigenschaften aufweist (nämlich das Potential zur Zeitmessung), die ihre Einzelteile (etwa die Zahnräder oder Schrauben) nicht besitzen. Nun ist eine Uhr ein recht einfaches, mechanisches Ding, dessen emergente Systemeigenschaften wir leicht physikalisch erklären können. Völlig anders sieht dies jedoch aus, wenn wir uns komplexere Emergenzphänomene vor Augen führen, wie etwa das folgende: Das emergente System, das den Namen „Michael Schmidt-Salomon“ trägt, besteht aus Atomen und Molekülen, die zuvor möglicherweise Bestandteile der Flosse eines Hais waren, des Blatts eines Ahorn-Baums oder des Kots einer Riesenschildkröte. Wie erklären wir uns, dass ein System, das aus solch merkwürdigen physikalisch-chemischen Einzelteilen zusammengesetzt ist, in seiner jetzigen Konfiguration ausgerechnet scharfe indische Küche liebt, dicke Bücher über Willensfreiheit schreibt und über den skurrilen Humor von „Monty Python’s Flying Circus“ lacht? Allgemeiner gefragt: Lassen sich biologische oder gar kulturelle Phänomene restlos auf chemische oder gar physikalische Prozesse zurückführen oder sind derartige Erklärungsmuster bei genauerer Betrachtung doch nicht hinreichend?