In den letzten 100 Jahren wurden viele unterschiedliche Konzepte von Reduktionismus und Emergenz entwickelt. (Einen hervorragenden Überblick vermittelt Rüdiger Vaas in dem leider nur als „graue Literatur“ der Universitäten Stuttgart und Tübingen erschienenen Sammelband „Die mechanische und die organische Natur“.) Das Spektrum der Ansätze reicht vom radikalen „eliminatorischen Reduktionismus“, der meint, alle Phänomene der Biologie und Kultur vollständig auf physikalische Prinzipien zurückführen zu können, bis hin zur Idee einer „starken, anti-naturalistischen Emergenz“, die unterstellt, dass emergente Prozesse eben nicht durch Ursachen auf niederer Integrationsebene determiniert werden. In der Vorstellungswelt solcher anti-naturalistischer Emergentisten passieren wahrhaft wundersame Dinge: So meinen sie, dass es auf kultureller Ebene Phänomene gibt, die im Widerspruch zu physikalischen, chemischen oder biologischen Gesetzmäßigkeiten stehen (das klassische Modell der Willensfreiheit beispielsweise ist auf ein solches Konzept der starken, anti-naturalistischen Emergenz angewiesen).
Das starke, naturalistische Emergenzprinzip (1): Mikrodetermination
Meine eigenen Überlegungen zu dieser Thematik laufen auf ein Konzept hinaus, das ich als „starkes, naturalistisches Emergenz-Prinzip“ bezeichnen möchte. Naturalistisch ist dieses Konzept, weil es in ihm selbstverständlich „mit rechten Dingen zugeht“. Das heißt, dass das (zumindest oberhalb der Quantenebene) universell gültige Kausalprinzip durch das Auftreten emergenter Phänomene nicht durchbrochen wird. Das naturalistische Prinzip der „Mikrodeterminiation“ (basale Determinanten bestimmen das emergente Ganze) steht demnach nicht im Widerspruch zu meinem Begriff von „Emergenz“. Vielmehr gilt: Physikalische Prozesse determinieren chemische Prozesse, die wiederum biologische Prozesse bestimmen, welche wiederum kulturellen Prozessen zugrunde liegen.
Es kann demnach keine kulturellen Prozesse geben, die den grundlegenden biologischen, chemischen und physikalischen Determinanten widersprechen. Das heißt: Wenn auf emergenter Ebene (etwa der Kultur) ein Ursachen-Wirkungsverhältnis vorliegt (die emergente Ursache U1* erzeugt --> die emergente Wirkung W1*), so muss ein damit korrespondierendes Ursachen-Wirkungsverhältnis auch auf niederer Integrationsebene (etwa der Biologie) existieren (die nicht-emergente Ursache U1 erzeugt --> die nicht-emergente Wirkung W1). Man kann diesen Sachverhalt noch etwas deutlicher ausdrücken, indem man die spezifische Richtung der Mikrodetermination berücksichtigt: Ohne U1 --> W1 auf niederer Integrationsebene (etwa der Biologie), gäbe es kein U1* --> W1* auf emergenter Ebene (etwa der Kultur). U1* --> W1* kann also (in gewisser Weise) auf U1 --> W1 zurückgeführt werden. Nur weil dies so ist, haben reduktionistische Erklärungen ihre (wenn auch begrenzte!) Berechtigung.
In „Jenseits von Gut und Böse“ gibt es zahlreiche Formulierungen, die sich des wissenschaftlich eleganten, reduktionistischen Denkmusters bedienen. Ich zitiere zur Illustration eine Passage aus dem zweiten Kapitel des Buchs: „Das, was uns als Personen auszeichnet, was wir denken, wie wir empfinden, was wir lieben und verachten, was uns erfreut und abschreckt, was wir können und was uns beim besten Willen nicht gelingt etc. – all dies ist bestimmt von neuronalen Prozessen, die unter unserer Schädeldecke ablaufen, ohne dass wir dies (außerhalb eines neurologischen Labors) wahrzunehmen vermögen. (…) Wir müssen uns daher wohl oder übel damit abfinden, dass Gedanken, für die es keine Hirnschaltmuster gibt, nicht gedacht und Emotionen, die neuronal nicht abgedeckt sind, nicht empfunden werden können.“
Man erkennt an dieser Stelle deutlich das oben erläuterte reduktionistische Deutungsmuster: Emergente Phänomene wie Gedanken und Emotionen (die ihrerseits emergente Wirkungen, nämlich menschliche Handlungen, verursachen) werden zurückgeführt auf Ursachen-Wirkungsverhältnisse auf niederer Integrationsebene, nämlich der biochemischen Erregung und Verschaltung von Neuronen. Eine solche reduktionistische Erklärung von Denken und Empfinden mag idealistisch geprägte Philosophen verstören, ist für naturalistisch denkende Menschen jedoch eine Selbstverständlichkeit.
Wie gesagt, die Frage, die sich uns an diesem Punkt stellen muss, lautet: Ist das reduktionistische Deutungsmuster, das in den Wissenschaften so fruchtbar genutzt wird, wirklich hinreichend, um die Phänomene in der Welt zu erklären? Lassen sich komplexe Empfindungen und Gedankengänge tatsächlich vollständig auf biologische, chemische oder gar physikalische Prozesse zurückführen? Kurzum: Ist U1* --> W1* wirklich nichts anderes als U1 --> W1?
Ich meine, dass die Akzeptanz des Prinzips der Mikrodetermination uns keineswegs dazu veranlassen sollte, einem eliminatorischen Reduktionismus zu verfallen. Dieser würde uns nämlich zu der Annahme zwingen, dass alles, was in der Welt existiert, letztlich bloß Physik ist – und nichts weiter! Diese Annahme hätte nicht nur fatale Konsequenzen für unser Selbstverständnis, wie ich weiter unten zeigen werde, sie könnte sehr wohl auch empirisch falsch sein! Denn wir haben durchaus Grund zur Annahme, dass das Reich des Lebendigen uns nicht bloß als eine „eigene Welt“ erscheint, welche wir phänomenal von der Welt der bloßen Physik abgrenzen können, sondern dass dieses Reich des Lebendigen tatsächlich eine ganz eigene Welt ist, in der eigene Gesetzmäßigkeiten gelten, welche so in der Welt der bloßen Physik nicht vorherrschen!
Das starke, naturalistische Emergenzprinzip (2): Makrodetermination
Diese Annahme einer gewissen Selbstorganisation emergenter Systeme setzt voraus, dass es neben der „Mikrodetermination“, also der Determination des emergenten Systems durch Ursachen auf niederer Integrationsebene, auch so etwas geben muss wie „Makrodetermination“, also die Rückwirkung des emergenten Systems auf die niederen Integrationsebenen. Bei dem Stichwort „Makrodetermination“ oder „abwärtsgerichtete Verursachung“ zucken Naturalisten in der Regel zusammen. Denn wie soll so etwas in einem kausal geschlossenen, von Mikrodetermination bzw. „aufwärtsgerichteter Verursachung“ bestimmten Universum möglich sein? Dass physikalische Prozesse die Grundlage für chemische und biologische Prozesse bilden, ist jedem einsichtig, doch wie könnte umgekehrt ein Gedanke Auswirkungen auf Moleküle und Atome haben? Würde das nicht bedeuten, dass es im Universum letztlich doch nicht „mit rechten Dingen“ zugeht? Mit anderen Worten: Beruht die Idee der Makrodetermination nicht per se auf anti-naturalistischen Annahmen?