(hpd) Matthias Kamann, Politik-Redakteur der Tageszeitung „Die Welt“, hat ein interessantes und hoch reflektiertes Buch über Sterbehilfe und Patientenverfügungen vorgelegt, allerdings mit ein paar Schwächen. Untertitelt ist das in vier Teile untergliederte Werk mit „Die Politik des Jenseits und der Streit um Sterbehilfe“.
In der Einleitung, in der es um „Walter Jens und die Gesundbeter“ geht, kommt Kamann schnell zur Sache: Er sieht im Sterbevorgang und den damit verbundenen gesellschaftlichen Sterbehilfe-Debatten eine „Überschätzung des Sterbeprozesses“. Später wird er zum Ergebnis kommen, dass – auch durch diese Überschätzung und Betonung des eigentlichen Sterbens – der Zustand des Noch-Lebens vernachlässigt, gar ignoriert wird. Der Wandel der Jenseitsvorstellungen, die kollektive Alterung, die säkular werdende Gesellschaft und deren Individualisierung als Wert führen, so Kamann, zum Einzug des Todes schon ins Diesseits, etwa bei Demenz oder schwerer Pflegebedürftigkeit. Und so stirbt der Mensch, das Individuum, nach unserem heutigen Verständnis bereits vor seinem Tod, der wiederum als letzter Akt heiß umkämpft ist, aber im Sterben soll der/die Sterbende dann doch stellvertretend einen gesellschaftlichen Kampf für individuelle Selbstbestimmung ausfechten: „Sterben als Performance der Individualität, hingegen das Vergreisen als Verschwinden des Ichs.“
Widersprüche in der Sterbehilfedebatte
Damit verweist Kamann auf wichtige Widersprüche in der Sterbehilfedebatte wie auch beim Thema Patientenverfügung: Die Spannung zwischen individueller Selbstbestimmung, die zum Lebensende hin oftmals stetig abnimmt, und der gesellschaftlichen Forderung, dann wenigstens im eigentlichen Sterbeprozess doch wieder Individuum und selbst bestimmt zu sein, allem offensichtlichen Augenschein zum Trotz. Denn der Tod selbst, meint Kamann, sei „schrecklich“, auch das Sterben sei de facto die Kapitulation des lebenden Systems, in dem willkürlich ein Organ nach dem anderen seine Tätigkeit einstelle, und habe somit nichts mit Selbstbestimmung zu tun.
Mit diesen Voraussetzungen begibt sich Kamann auf die Suche nach Veränderungen – und findet sie bei von Hagens’ Ausstellung „Körperwelten“, bei Joanne K. Rowlings „Harry Potter“ und im Internet. Immer wieder weist der Autor auf die eklatanten Widersprüche zwischen den Behauptungen selbst ernannter Moralverteidiger und angeblicher Dammbruchverhinderer und den tatsächlichen Gegebenheiten. So ermahne beispielsweise die von Kirchenvertretern geschasste Ausstellung „Körperwelten“ die Besucher, über ihr diesseitiges Verhalten nachzudenken, um ihre Körper gesund zu erhalten. Die präsentierten Körper seien mit der Plastination gewissermaßen unsterblich geworden. Dagegen sei das kirchliche Bestattungszeremoniell seelenlastig und körperfremd. Anhand einer Szene bei Harry Potter zeigt Kamann dann auf, dass die Liebe zwischen den Menschen, ihre Fähigkeit zu lieben, an die Stelle Gottes getreten sei. Diese an sich interessante Behauptung führt der Autor jedoch leider nur unzureichend ein, so dass daraus kein wirkliches Argument werden kann, er verschenkt hier etwas. Auch die Relevanz für sowie die Auswirkungen der Potter-Romane auf gesellschaftliche Sterbediskussionen bleiben unerwähnt, selbst wenn Kamann der Potter-Autorin Rowling aufgrund ihrer Auswechslung der Auferstehung durch Liebe eine „hohe blasphemische Intelligenz“ und eine „brillante Balance“ ihrer moralischen Gedankenexperimente bescheinigt.
Plädoyer für eine realistische Sicht
Nachdem er die Pflegesituation beschreibt, die zombiehafte Existenz Dementer und Sterbender in den Pflegeheimen, weist der Autor auf den Widerspruch zwischen diesem prämortalen Vegetierenlassen in Pflegeheimen und dem eigentlichen Sterben in Hospizen hin, die sich in medialer Aufmerksamkeit und finanziellen Zuschüssen spiegele – jeweils merklich mehr für die kurze Sterbensphase im Hospiz. Es falle einer an Selbstbestimmung orientierten Gesellschaft schwer, die sich im hohen Alter einstellenden, oft langen Endphasen der Hinfälligkeit, in „den Vorstellungskomplex ‚Mein Leben’ zu integrieren.“ Er unterscheidet hier zwischen dem sozialen Tod – der häufig mit dem Altwerden Kinderloser, Verwitweter einsetze und im Pflegeheim seine Spitze erreiche – und dem später erfolgenden biologischen Tod.
Absichtliche Fehlinterpretationen religiöser Vertreter, deren arrogante Unterstellung, Suizidwillige seien nicht ernst zu nehmen und nicht ganz zurechnungsfähig, prangert Kamann empört an: „...aber ‚eigentlich’, so wird suggeriert, wollen sie gar nicht sterben, sondern nur gut betreut werden.“ Er plädiert hier wie auch sonst für die genaue Sicht des Einzelfalls: Die Pflegeheime seien zu verbessern, Palliativmedizin sei zu verbessern, und trotzdem könne es sein, dass jemand sterben will. Jeglichen Versuch, Sterbeprozesse zu normieren, ob seitens konservativer, ärztlicher oder kirchlicher Vertreter oder ob seitens der Sterbehilfevertreter und -Anbieter, sieht Kamann daher kritisch und bringt zum Beleg einige, unterschiedliche gelagerte Fallbeispiele vor.
Kritik an Kirchen, Konservativen, Ärzten
Den Anspruch der Kirchen, Menschen langsam sterben zu lassen, führt Matthias Kamann schlicht auf das erforderliche Zeitbudget zurück, innerhalb dessen „Muße für die Buße“ gewonnen werden solle und dass noch ausreichend Zeit bleiben müsse, um „die Sterbesakramente und -hilfsangebote der Kirche in Anspruch nehmen zu können“. Er kommt zu der erstaunlichen und für einen offenbar gläubigen Mann überaus kirchenkritischen Aussage: „Man braucht nicht allzu viel bösen Willen, um zu behaupten, dass hier der Palliativmedizin funktional jene Rolle zugewiesen wird, die der Methode Knaus-Ogino im Rahmen der vatikanischen Sexualethik zukommt.“ Etliche Seitenhiebe auf christliche Todestheologen und Kübler-Ross’ „angeblich zu durchlaufenden Sterbephasen“ folgen, in denen er kirchliche Macht- und Monopolinteressen bloßlegt.
An ärztlichen Machtinteressen arbeitet sich Kamann weiter ab, während er das Thema Patientenverfügungen kenntnisreich ausbreitet und sodann auf das Lager politischer Parteien (CDU/CSU) etwas zu detailliert eingeht, welche diese nach seiner Ansicht begrüßenswerten Patientenverfügungen zu verhindern suchten.
Interessant ist zum Ende der Hinweis, dass in den Niederlanden eine bereits eingespielte, inoffizielle Praxis einfach nachträglich legitimiert wurde, ohne dass der Staat eigene Regeln aufstellte. In der Schweiz wiederum hat kein Gesetz, sondern die Sterbehilfe-Vereine betätigen sich in einer Gesetzlücke. Eine Variante der vorbildlichen Verantwortung des Staates zeigt der Autor schließlich am Beispiel Oregons auf.
Den Schluss verschwurbelt Kamann ein wenig, da er selbst offensichtlich den Tod als „schrecklich“ ansieht und ebendiese Sichtweise nicht relativiert (möglicherweise empfinden andere Menschen anders). Damit widerspricht er sich in der eigenen Argumentationslinie der individuellen Selbstbestimmung. Außerdem ist es denkbar, dass, wie in anderen existenziellen Extremsituationen,während des Sterbens Selbstbestimmung als wichtiger individueller Wert zugunsten anderer Faktoren in den Hintergrund tritt.
Fazit
Die Kriterien, anhand derer Kamann seine Ergebnisse bewertet, sind nicht immer klar: einerseits scheinen sie seine eigenen Ängste und persönlichen Werte zu spiegeln, andererseits leitet er sie nachvollziehbar (und manchmal anerkennendes Staunen der Rezensentin hervorrufend) her. Das Buch regt zum Nachdenken über das Sterben an und bringt viele neue Aspekte eines eindeutigen Kenners der Materie auf den Punkt. Die Argumente entlang der thematischen Linie „Patientenverfügung und Sterbehilfe – ja oder nein?“ sind klar und nachvollziehbar. Die anderen, exkursiven Stränge wirken jedoch manchmal seltsam unverbunden und sind oftmals trotz interessanter Erkenntnisse nicht wasserdicht aufbereitet, wodurch sie ihre Kraft verlieren. Kamanns Buch ist jedoch insgesamt ein zutiefst humanistisches Plädoyer wider die Normierung des Sterbeprozesses und für den Menschen im Leben wie im Sterben.
Fiona Lorenz
Matthias Kamann: Todeskämpfe. Die Politik des Jenseits und der Streit um Sterbehilfe. transcript 2009, 158 S