Der reduktionistische Verriss der Psychoanalyse
Da Reduktionisten aufgrund ihrer metatheoretischen Annahmen eine Art „Zombie-Psychologie“ vertreten, die sich (wenn überhaupt) nur für das äußerlich Beobachtbare interessiert, haben sie starke Aversionen gegenüber qualitativen Formen der Psychologie, die sich mit inneren Zuständen, phänomenalen Erlebnissen, Traumata, psycho-dynamischen Komplexen, kognitiven und emotionalen Verarbeitungsmustern etc. beschäftigen. In AMs Artikel-Serie wird diese Abneigung an vielen Stellen deutlich, insbesondere in seiner scharfen Kritik der Psychoanalyse, die er (hier durch die Blume, in manchen Texten jedoch auch expressis verbis) als reine „Pseudowissenschaft“ abqualifiziert.
Nun möchte ich keineswegs verhehlen, dass die Psychoanalyse (gerade in ihrer Anfangszeit) viele pseudowissenschaftliche Elemente enthielt. So ist mittlerweile erwiesen, dass einige von Freuds Musterfällen gefälscht waren. Außerdem sind seine Annahmen zur Sexualfunktionsentwicklung (oral, anal, ödipal, genital) und die daraus abgeleitete Charakterologie (oraler Charakter, analer Charakter etc.) weitestgehend widerlegt. Das Gleiche gilt für seine Überlegungen zur Traumdeutung oder sein Triebkonzept. Auch ist zu bemängeln, dass Freuds Konzepte von Übertragung und Verdrängungswiderstand dazu führten, dass sich Psychoanalytiker in bedenklicher Weise gegen Kritik immunisierten. All dies (und noch einiges mehr) soll hier keineswegs in Abrede gestellt werden! Doch ist das schon hinreichend, um die Psychoanalyse als reine Pseudowissenschaft zu klassifizieren? Dürfen wir sie so einfach mit Astrologie und Homöopathie auf eine Stufe stellen?
Ich meine, dass ein solcher Pauschalverriss keinesfalls gerechtfertigt ist! Denn in Freuds Werken (etwa in „Das Unbehagen in der Kultur“ oder „Die Zukunft einer Illusion“) finden sich viele philosophische und psychologische Überlegungen, die noch heute bemerkenswert sind! Auch seine wegweisenden Anmerkungen zur Arbeitsweise des psychischen Apparats sind nicht völlig von der Hand zu weisen. In der Tat gibt es unbewusste Prägungen, Übertragungen, Gegenübertragungen, Abspaltungen, Fetischbildungen, Verdrängungswiderstände usw., weshalb es nicht verwunderlich ist, dass empirische Untersuchungen über die Jahrzehnte hinweg immer wieder Belege für Freudsche Hypothesen lieferten.
Nur ein Beispiel unter vielen: Eine 1996 an der University of Georgia durchgeführte Untersuchung (siehe u.a. bild der wissenschaft, 11/09, S.69) stützte Freuds Vermutung, dass Hass auf Schwule nicht zuletzt durch eine Verdrängung eigener homosexueller Impulse hervorgerufen werden könne: Denn von den offen homophoben Probanten der Studie zeigten 54 Prozent eine sexuelle Erregung bei der Betrachtung eines Hardcore-Schwulenpornos, bei den nicht-homophoben Untersuchungsteilnehmern waren es gerade einmal 24 Prozent. Ein statistisch signifikantes Ergebnis, das nicht nur den von Freud entdeckten Mechanismus der latenten Projektion eigener Selbstzweifel auf Sündenböcke bestätigt, sondern ganz nebenbei auch den tragisch-komischen Fall des evangelikalen Schwulenhassers Ted Haggard erklärt, der dereinst beim Ausleben seiner „sündigen, fleischlichen Lust“ mit einem Strichjungen erwischt wurde.
So falsch es ist, Sigmund Freud als bloßen Scharlatan abzutun, noch unsinniger wäre es, die gesamte Psychoanalyse als Pseudowissenschaft abzuqualifizieren. Schließlich haben sich innerhalb der psychoanalytischen Tradition sehr unterschiedliche Schulen herausgebildet, die teilweise höchst konträre Positionen einnahmen. Wie etwa könnte man so grundverschiedene Autoren wie Erich Fromm, C.G. Jung, Alfred Adler oder Wilhelm Reich über einen Kamm scheren? Und wie könnte man übersehen, welchen entscheidenden Anteil gerade psychoanalytisch inspirierte Autoren bei der Überwindung der repressiven Sexualmoral oder der Aufhebung der einst gesellschaftlich weithin akzeptierten, autoritären Kindeserziehung hatten?! Wenn man den Unsinn abzieht, der im Rahmen der psychoanalytischen Theoriebildung zweifellos verzapft wurde, so bleibt, wie ich meine, genügend Substanz übrig, um Sigmund Freud sowie einigen Nachfolgern (etwa dem Neofreudianer Erich Fromm) vorderste Ränge in der menschlichen Kulturgeschichte zuzuweisen!
AMs Bild der Psychoanalyse entspricht in etwa dem witzigen Klischee eines Woody-Allen-Films, hat aber mit der realen Praxis der meisten heutigen Psychoanalytiker sehr wenig zu tun. Ginge es nach Andreas Müllers Vorstellungen, bräuchte es im Grunde nur Psychiater zu geben, die ihre Patienten mithilfe von Medikamenten kurieren, sowie höchstens noch ein paar Verhaltenstherapeuten, die mit den Mitteln der Konditionierung erwünschtes Verhalten fördern und unerwünschtes löschen. (Viel mehr ist von einer Zombie-Psychologie, die die Erste-Person-Perspektive vernachlässigt, nicht zu erwarten!) So sehr ich zustimme, dass Medikamentenvergabe bei bestimmten Störungsbildern sinnvoll und Verhaltenstherapie häufig enorm effizient ist (etwa bei der Behandlung konkreter Phobien, siehe hierzu auch JvGuB, Seite 126): Dies bedeutet noch lange nicht, dass wir mit einem derartig verkürzten psychologischen Instrumentarium gut ausgerüstet wären, um komplexe Traumata oder problematische Familienkonstellationen therapeutisch zu bearbeiten! Hier gilt es eben doch, Verdrängtes bewusst zu machen, Abspaltungen zu verdeutlichen, schädliche Projektionen aufzuheben usw.
Die komplexen Prozesse, die in der Innenwahrnehmung des Patienten ablaufen, sind, wie wir wissen, für den therapeutischen Erfolg von allergrößter Bedeutung! Dies haben selbstverständlich nicht nur Psychoanalytiker erkannt! Auch innerhalb der verhaltenstherapeutischen Schule setzte sich nach und nach die Ansicht durch, dass das klassische Modell des Behaviorismus überholungsbedürftig ist. Es reichte eben nicht aus, den Menschen nur von außen zu betrachten und das Innenleben, das in dieser vermeintlichen „Black-Box“ stattfand, zu ignorieren! Und so kam es bereits in den 1960er Jahren zur sog. „Kognitive Wende“ in der wissenschaftlichen Psychologie, was zur Folge hatte, dass die einst tiefen Gräben zwischen tiefenpsychologisch-qualitativen und behavioristisch-quantitativen Verfahren zunehmend geschlossen wurden. Diese theoretische Annäherung hat glücklicherweise auch in die therapeutische Praxis Eingang gefunden: Gute Therapeuten (gleich welcher sie „Schule“ sie nominell angehören) greifen heute pragmatisch auf einen „Methoden-Mix“ zurück, weshalb es Nur-Psychoanalytiker mittlerweile ebenso selten gibt wie Nur-Behavioristen.
Ich habe den Eindruck, dass die bemerkenswerten Fortschritte in Psychologie und Psychotherapie in den Konzepten eliminatorischer Reduktionisten nicht genügend Beachtung finden. Hier herrschen noch immer weitgehend Black-Box-Konzepte vor. Daran ändert sich auch nichts durch die zusätzliche Berücksichtigung neurowissenschaftlicher Befunde, denn diese beruhen letztlich auch bloß auf der Dritten-Person-Perspektive! Die Innenperspektive, d.h. die innerpsychische Bedeutung der von Außen beobachtbaren Prozesse (Verhaltensweisen, neuronale Aktivitäten), bleibt weiterhin fast vollständig ausgeblendet! Diese Verdrängung der Ersten-Person-Perspektive ist so eklatant, dass man bei der Lektüre eliminatorisch-reduktionistischer Texte über die menschliche Psyche mitunter den Eindruck gewinnt, Mr. Data, der genial-naive Androide vom „Raumschiff Enterprise“, persönlich habe sie verfasst – und zwar bevor er sich jenen berühmten „Emotions-Chip“ einsetzte, der ihn erstmalig das ganze Facettenreichtum menschlicher Emotionen erfahren ließ!
Die fehlende Sensibilität gegenüber den feinen Nuancen und mitunter auch dramatischen Aufwallungen, die mit inneren Zuständen verbunden sind, zeigt sich in AMs Text nicht nur in seiner rigorosen Abkanzelung der Psychoanalyse, sondern auch an jenen Stellen, in denen er über die Bedeutung von Schuld und Sühne, Rache und Vergebung, d.h. über die möglichen oder unmöglichen Folgen der Willensfreiheitsunterstellung schreibt. Damit kommen wir endlich zu AMs zentraler Kritik an meinem Buch „Jenseits von Gut und Böse“: Seiner Meinung nach hätte ein Abschied von der Vorstellung der Willensfreiheit nämlich keinerlei positive Konsequenzen für unser Leben. Dies widerspricht in der Tat den von mir im Buch vorgetragenen Thesen. Wie lauten also die Argumente, die Andreas Müller zur Stützung seiner Hypothese vorbringt?