Die multireligiöse "Gretchenfrage"

FRANKFURT. (hpd) Muslime und Islam zwischen Demokratie und Islamismus. Zu den normativen Grundlagen von Integration

in einer offenen Gesellschaft

von Armin Pfahl-Traughber

 

Der folgende Text entstand zur Vorbereitung einer Podiumsdiskussion, die von der „Frankfurter Rundschau" (FR) und der „Humanistischen Union" (HU) am 13. März 2008 zum Thema „Islam: Fundamentalismus oder Integration" in Frankfurt/M. durchgeführt wurde. Teilnehmer waren der Brühler Politikwissenschaftler Prof. Dr. Armin Pfahl-Traughber und der hessische SPD-Landtagsabgeordnete Turgut Yüksel. Von beiden Referenten erschienen in der FR des gleichen Tages Textes in der Rubrik „Dokumentation". Der Beitrag von Pfahl-Traughber wurde ohne Rücksprache mit dem Autor stark gekürzt und zu Beginn auch inhaltlich verändert. Hier kann die ursprüngliche Fassung nachgelesen werden.

 

Worin besteht der Unterschied zwischen Islam und Islamismus? Bei ersterem handelt es sich um einen religiösen Glauben, beim Islamismus um eine politische Ideologie, lautet eine häufig vorgetragene Antwort. Doch so einfach ist es mit dieser Unterscheidung nicht, beanspruchen doch viele Religionen, nicht nur verbindliche Aussagen über das Verhältnis des Einzelnen zu einer Gottesfigur, sondern auch für das Leben in der Gesellschaft vorzunehmen. Diese Eigenschaft ist dem Islam im Besonderen eigen, versteht man ihn doch im Sinne einer „Religion als Gesellschaftsordnung" (Ernest Gellner). Eine derartige Auffassung gab und gibt es im Christentum ebenfalls, versuchte und versucht doch die Kirche den Geltungsbereich ihrer Wertvorstellungen auf Gesellschaft und Staat auszudehnen. Daran kann in einer pluralistischen Sozialordnung zunächst nichts Bedenkliches gesehen werden, streben so etwas doch die verschiedensten Interessengruppen an. Worin bestehen dann aber allgemein bei Religionen und insbesondere beim Islam die Probleme?

Absolutheitsansprüche und Ausgrenzungstendenzen

Sie basieren auf der Anmaßung, die einzig wahre Religion zu vertreten. Daraus leiten sich Absolutheitsansprüche und Ausgrenzungstendenzen ab, welche Christentum wie Islam eigen sind. Man findet in den theologischen Grundlagenschriften von Bibel und Koran keineswegs nur Plädoyers für Freiheit und Toleranz, sondern auch die Diffamierung von Anders- und Nichtgläubigen. Beide Glaubensrichtungen traten als Religionen des Friedens und der Liebe auf, gleichwohl zeigte sich deren Geschichte häufig nicht von diesen Prinzipien geprägt: Dafür sprechen auf der einen Seite die frühen innerchristlichen Verfolgungen bis zur Unterstützung von Diktaturen im 20. Jahrhundert und auf der anderen Seite die ersten Eroberungsfeldzüge Mohammeds bis zur gegenwärtigen Diktatur im Iran. Bei diesen Entwicklungen handelte es sich nicht um eine Abkehr von den behaupteten „eigentlichen Werten" der jeweiligen Religion. Vielmehr waren die angesprochenen historischen Folgen kompatibel mit dem exklusiven Anspruch auf den einzigen Weg zum Heil.

Will man diesen verbindlich auf den Geltungsbereich von Gesellschaft und Staat übertragen besteht ein Spannungsverhältnis zu Demokratie und Grundrechten, Offenheit und Religionsfreiheit. In den christlich geprägten Ländern Europas konnte dies zugunsten einer Ausrichtung von Gesellschaft und Staat auf Säkularität reduziert werden. Durch die Ideen der Aufklärung und der mit ihr verbundenen Religionskritik, durch die Demokratisierung der Gesellschaften und dem damit verbundenen Pluralismus verloren die Kirchen in den letzten vierhundert Jahren an gesellschaftlicher und politischer Macht. Wenn auch spät bekannten sie sich seit Mitte des 20. Jahrhunderts (überwiegend) zu den Wertvorstellungen von Demokratie und Menschenrechten. Zwar lässt sich in Deutschland nicht wie in den USA eine konsequente institutionelle Trennung von Kirche und Staat ausmachen. Gleichwohl reduziert sich doch die Rolle des institutionalisierten Christentums weitgehend auf den Stellenwert einer (allerdings staatlich bevorzugten) Interessenvertretungsorganisation unter vielen.

Stagnation gesellschaftlicher Dynamik

Wie sah es demgegenüber in der islamisch geprägten Welt aus? Ebendort hatte sich bereits im zeitlichen Vorfeld der europäischen eine Art islamische Aufklärung herausgebildet. Die Protagonisten derartiger Auffassungen, welche der menschlichen Vernunft einen höheren gesellschaftlichen Stellenwert zuweisen wollten, konnten sich allerdings in Gesellschaft und Staat nicht durchsetzen. So blieb die Religion eine zentrale identitätsstiftende Größe, ohne in ihren Annahmen einer „kritischen Prüfung" (Hans Albert) ausgesetzt zu werden. In der Folge dieser Entwicklung bzw. Nicht-Entwicklung stagnierte die gesellschaftliche Dynamik, stand doch der religiöse Glaube weiterhin über der menschlichen Vernunft. Darin kann ein, aber nicht der alleinige Grund für den Rückfall der arabischen gegenüber der westlichen Welt gesehen werden. Dies erklärt aber mit, warum die Demokratisierungswellen des 20. Jahrhunderts an den islamischen Ländern vorbeiliefen. Ehemalige Kolonialländer in anderen Regionen wandelten sich demgegenüber viel stärker in diese Richtung.

Besteht demnach ein Gegensatz von Demokratie und Islam? Die Antwort auf diese Frage lautet „ja" und „nein" zugleich. Das „Ja" erfolgt, weil die Auffassung von einem Islam als ganzheitlicher Lebensweise für eine Gesellschaft Grundrechten, Pluralismus und Säkularität entgegensteht. In einem solchen Sinne wird die Gottessouveränität über die Volkssouveränität gestellt. Das Fehlen von Aufklärung und Selbstkritik gegenüber der eigenen Religion und die starke Verschmelzung von Glaube und Rechtsordnung kommen als weitere Gesichtspunkte hinzu. Die Antwort „Nein" erfolgt, weil es keinen einheitlichen Islam gibt und er die unterschiedlichsten Deutungen gestattet. Insofern bildeten sich auch in einigen islamisch geprägten Ländern strukturelle Ansätze für demokratische und rechtsstaatliche Systeme wie in Indonesien oder der Türkei heraus. Noch weitaus bedeutsamer sind in diesem Kontext aber die in den westlichen Ländern lebenden Muslime, die ihren individuellen Glauben bei gleichzeitigem Bekenntnis zu Demokratie und Rechtsstaatlichkeit alltäglich leben.

Ambivalenz der Religionen

Hierbei zeigt sich erneut die Ambivalenz der Religionen im Allgemeinen und des Islam im Besonderen: Letzterer ist sowohl mit der Demokratie wie mit dem Islamismus kompatibel, da es in der Geschichte wie im Koran Ansatzpunkte für Deutungen in beide Richtungen gibt. Jede dieser Interpretationen blendet notwendigerweise die anderslautenden Aspekte aus und verfährt in der jeweiligen Islam-Deutung einseitig und selektiv. Die hierbei deutlich werdende Ambivalenz unter den Muslimen der Gegenwart lässt sich bei den Christen in der historischen Gesamtschau ebenfalls ausmachen. Dies hängt mit der - positiv formuliert - Vielfalt oder - negativ formuliert - mit der Widersprüchlichkeit der Religionen zusammen. Inwieweit man eine solche Lehre dann zur normativen Grundlage des eigenen ethischen Selbstverständnisses macht, muss jedes Individuum für sich selbst entscheiden. Bedeutsam für den hier zu erörternden Zusammenhang bleibt: Die Präsenz von gläubigen Muslimen als demokratischen Staatsbürgern belegt die Kompatibilität von Demokratie und Islam.

Welche Konsequenzen ergeben sich angesichts der vorherigen Ausführungen nun für Muslime hinsichtlich der Integration in einer offenen Gesellschaft - noch dazu mit einer multireligiösen Zusammensetzung? Was kann man von ihnen erwarten und was muss man ihnen zugestehen, ohne jeweils mit der Grundlage des eigenen Selbstverständnisses zu brechen? Da die Religionsfreiheit als Menschenrecht ein tragender Bestandteil des demokratischen Verfassungsstaates ist, müssen alle Artikulationsformen des islamischen Glaubens geduldet werden - sofern sie nicht anderen grundlegenden Geboten und Rechten widersprechen. Hierbei können selbst dogmatische und orthodoxe Deutungen des Islam Toleranz erfahren, so lange daraus nicht Handlungen gegen Menschenrechte und Rechtsprinzipien von der Frauenunterdrückung bis zur Gewalttat erfolgen. Auch die Assimilation an die kulturellen Wertvorstellungen der Mehrheitsgesellschaft stellt keine Notwendigkeit für die individuelle Anerkennung in einer pluralistischen Gesellschaft dar.

"Einheit in Vielfalt"

Derartige Sozialordnungen können das Prinzip „Einheit in Vielfalt" aber nur dann als gelebte Wirklichkeit praktizieren, wenn es eine allgemein verbindliche Basis von Normen im Sinne eines „nicht-kontroversen Sektors" (Ernst Fraenkel) oder „überlappenden Konsens" (John Rawls) gibt. Nur bei der Akzeptanz bestimmter Regeln und Werte ist die Koexistenz unterschiedlicher ethischer, kultureller, politischer, religiöser oder sozialer Tendenzen möglich. Zu solchen Minimalbedingungen gehören die Kenntnis der Landessprache als Kommunikationsmittel, die Akzeptanz der Grund- und Menschenrechte sowie die Einhaltung von Recht und Gesetz. Gerade der mittlere Gesichtspunkt bildet den zentralen Kern der unabdingbaren Normen und ist in dieser Perspektive kultureller und religiöser Identität übergeordnet. Die zentrale Frage, die sich somit nicht nur für Muslime stellt, lautet: Haben die Glaubensinhalte oder die Menschenrechte Vorrang? Vielleicht bildet dieser Satz die neue „Gretchenfrage" für das Leben in der multireligiösen Welt des 21. Jahrhunderts.