2. Zwei gute Gründe, um am christlichen Glauben zu zweifeln
Das Christentum beruht seit jeher auf den Geschichtstaten Gottes, von denen das Alte und das Neue Testament zeugen. „Gott hat Israel aus Ägypten geführt“ und „Gott hat Jesus Christus von den Toten erweckt“ sind zwei allgemein anerkannte christliche Basissätze. Zwar lassen sich Aussagen über Gott nicht verifizieren, wohl aber kann historisch überprüft werden, ob die Gott zugeschriebenen Taten eine geschichtliche Realität haben. Ich werde im Folgenden zeigen, dass im Lichte der neueren Forschung Zweifel an beiden Basissätzen angebracht ist.
a) Hat Gott Israel aus Ägypten geführt?
Die historisch-kritische Erforschung des Alten Testaments ist älter als 200 Jahre. Sie führte zu einer Durchforstung aller alttestamentlichen Bücher mit bis heute gültigen Erkenntnissen, beispielsweise der, dass am Anfang der Bibel zwei verschiedene Schöpfungsberichte stehen. Trotz vieler neuer Einsichten waren sich die Gelehrten in einem Punkt einig: Sie sahen das Bild, das die ersten Bücher der Bibel von Israel malen, im Kern als glaubwürdig an: Der Gott Jahwe habe Israel tatsächlich zu seinem Volk gemacht. Die Berichte von „Israel in Ägypten“, „Moses Rolle bei dem Empfang der Zehn Gebote“ und von der „Einnahme des Gelobten Landes“ reflektierten nach ihrer Überzeugung, bei aller Kritik im Einzelnen, historische Begebenheiten.
Das Blatt wendete sich aber, als man erkannte: Das in der Bibel entworfene Bild des vorstaatlichen Israel (vor 1000 v.Chr.) ist Ergebnis theologischer Fiktionen aus der nachstaatlichen Zeit (ab dem 6. Jahrhundert v.Chr.).
Mit Hilfe von archäologischen Forschungen und subtilen Beobachtungen am Text hat sich diese Einsicht schnell durchgesetzt. Die älteste Erwähnung Israels findet sich auf der Sieges-Stele des Pharao Merenptah, die dieser im Jahre 1208 v.Chr. aufrichten ließ. Da die Inschrift Israel als eine Gruppe von offenbar schon länger in Palästina ansässigen Menschen nennt, widerspricht sie der alttestamentlichen Vorstellung von einem in zwölf Stämmen gegliederten Israel, das nach biblischer Chronologie ungefähr zu derselben Zeit in das Land Kanaan eingedrungen sei. Diese Erkenntnis ist ein starkes Argument gegen das bis dahin geltende biblische Geschichtsbild. Es kommt Folgendes hinzu: Für die Zeit, in der Israel in Ägypten gewesen sein soll (14. Jahrhundert v.Chr.), sind ägyptische Dokumente reichlich vorhanden. Sie erwähnen aber weder Israels Aufenthalt in Ägypten noch die Flucht aus dem Pharaonenreich noch Mose, der gemäß biblischer Darstellung zum ägyptischen Königshaus gehört haben soll. Aus all dem ergibt sich, dass entgegen der biblischen Darstellung die Israeliten ursprünglich selber Kanaanäer waren.
Die ältere Forschung meinte, eine Verehrung Jahwes habe es immer nur zusammen mit dem Ersten Gebot gegeben, das die Existenz anderer Götter zwar nicht bestreitet, aber die alleinige Verehrung Jahwes befiehlt. Doch ist sich die heutige Forschung einig: Weder der Exklusivitätsanspruch Jahwes noch gar die Behauptung, außer Jahwe gebe es überhaupt keine anderen Götter, stand am Anfang des Jahwe-Glaubens. Denn für das achte vorchristliche Jahrhundert belegen Inschriften in Palästina, die erst in den letzten Jahrzehnten entdeckt worden sind, einen toleranten Jahwe-Kult. Sie erwähnen lokale Jahwe-Götter und bezeugen so einen Polyjahwismus. Sie kennen ein Götterpaar, Jahwe und seine Gemahlin Aschera. Demnach war die exklusive Jahwe-Verehrung im Sinne des biblischen Mose zu dieser Zeit in Israel und Juda noch unbekannt. Erst später, nach dem Untergang Judas im Jahr 587 v.Chr. entwickelten Theologen das Erste Gebot, um damit das Volksgeschick zu deuten. Ihre Deutungsregel war: Weil Israel fremden Göttern diente und nicht Jahwe allein, musste es zur Katastrophe kommen.
Somit repräsentiert die vorliegende biblische Tradition die Meinung einer Theologen¬Gruppe, die sich am Ende aus unbekannten Gründen durchsetzte. Jedenfalls hat sie die historische Wahrheit nicht auf ihrer Seite.
Die neuesten alttestamentlichen Forschungen zum Thema „Auszug aus Ägypten“ und – damit verbunden – zum Thema „vorstaatliches Israel“ haben Konsequenzen für den traditionellen christlichen Glauben. Für ihn bleibt nämlich kein geschichtliches Fundament zurück, auf das er doch angewiesen ist. Durch den Beweis, dass Theologen aus der Zeit des nachstaatlichen Judentums das biblische Israel erfanden und der Auszug aus Ägypten daher nicht stattgefunden haben kann, ist die biblische Frühgeschichte Israels entleert. Radikaler Zweifel am Alten Testament als Geschichtsbuch ist daher notwendig.
Zwar äußern sich Exegeten hier oft beschwichtigend. Ihnen zufolge handelt es sich um „zwei selbstständige, sich ergänzende Bilder, Theologie und Geschichte, ‚story and history‘: Das ist Gewinn, Verdoppelung, keinerlei Verlust, keine Destruktion!“ Doch geraten Theologen und Geistliche geradezu in einen selbstmörderischen Zwiespalt, wenn die historische Kritik ihnen sagen muss, dass die kanonischen Schriften des Alten Testaments entgegen der Sicht ihrer Verfasser keine historische Grundlage haben.
b) Hat Gott Jesus von den Toten erweckt?
„Gott hat Jesus von den Toten erweckt“ ist der andere Basissatz des christlichen Glaubens. Die von der Auferweckung handelnden Texte des Neuen Testaments lassen sich in drei Klassen einteilen: 1) Ostererzählungen, die den auferstandenen Jesus in Gegenwart seiner Jünger zeigen, 2) Geschichten vom leeren Grab, 3) Glaubensformeln, denen zufolge Jesus von Gott auferweckt wurde bzw. Jüngern erschienen ist. Es gibt darüber einen großen wissenschaftlichen Konsens. Der sieht so aus: Die frühen Christen waren von der Auferstehung Jesu überzeugt. Sie hatten auch Glaubensformeln darüber gebildet. Von denen gingen die Evangelisten aus und setzten sie in Erzählungen um. Wie die Geschichten vom leeren Grab zu beurteilen sind, ist aber umstritten.
Der älteste Bericht der Evangelien von der Auffindung des leeren Grabes – übrigens durch Frauen – steht im Markusevangelium, Kapitel 16, Verse 1–8. Er hat drei Teile: Die Frauen sind zunächst auf dem Wege zum Grab, dann im Grab, schließlich fliehen sie vom Grab. Eigentlich entdecken sie gar nicht das leere Grab sondern treffen einen jungen Mann, dessen Botschaft: „Jesus wurde auferweckt“, den Mittelpunkt der Geschichte bildet.
Ein wichtiger Einwand gegen die Historizität des Erzählten lässt sich dem Ende der Erzählung entnehmen. Hier heißt es, die Frauen hätten sich gefürchtet und entgegen dem Befehl des Jünglings niemandem etwas erzählt. Damit gibt der Urheber der Geschichte zu verstehen, dass die Kunde vom leeren Grab lange Zeit unbekannt geblieben ist; die Frauen haben ja geschwiegen. Er selbst erzählt als erster davon.
Der älteste Text zur Auferstehung findet sich im ersten Brief des Paulus an die Korinther, Kapitel 15, Verse 3–5. Der Apostel zitiert hier eine Glaubensformel: (A) „Christus starb für unsere Sünden nach den Schriften und wurde begraben, (B) er ist am dritten Tag auferweckt worden nach den Schriften und erschien dem Kephas, dann den Zwölfen.“ Nach der Aufzählung weiterer Auferstehungszeugen betont Paulus am Schluss, dass Christus auch ihm erschienen sei. In dieser Tradition, die aus einem parallel gebauten Zweizeiler besteht, geht es um einen je doppelten „Beweis“: einerseits aus den Schriften des Alten Testaments, auf die jedoch nur allgemein verwiesen wird, und andererseits aus einer bestätigenden Tatsache. Dabei bekräftigt die Aussage über das Begräbnis Jesu dessen Tod, und die Aussage über die Erscheinung vor Kephas die Auferstehung Jesu. Die Erscheinung vor Kephas ist offenbar der Grund für das Bekenntnis: „Jesus ist auferweckt worden“ bzw. „Gott hat Jesus von den Toten erweckt“.
Die von Paulus zitierte Glaubensformel, die in die allererste Zeit der Urkirche hinabreicht, liefert zwei wichtige Einsichten. Erstens, das Grab ist nicht leer, sondern „voll“, denn die Bestattung dient nicht als Beleg für die Auferstehung Jesu, sondern dafür, dass Jesus wirklich gestorben ist. Zweitens, Auslöser der christlichen Bewegung war eine Erscheinung Jesu vor Kephas. Da das Verb „erscheinen“ auch mit „gesehen werden“ übersetzt werden kann, ergibt sich: Kephas hat Jesus in einer Vision gesehen. Eine Vision ist ein Vorgang im menschlichen Geist und Produkt der eigenen Vorstellungskraft, obwohl Visionäre es regelmäßig anders einschätzen. Sie meinen, was sie sehen, sei außerhalb von ihnen, und die Vision wirkt auf sie mit der vollen Kraft einer objektiven Tatsache.
Die Erscheinung Jesu geschah den ältesten Traditionen zufolge, vom Himmel her und nicht als Begegnung mit einem himmlischen Wesen auf dieser Erde, wie es die Ostererzählungen der Evangelien zeichnen. In diesen verzehrt Jesus vor den Augen der Jünger Fisch und Brot, fordert sie auf, ihn zu berühren, und kehrt erst 40 Tage nach seiner Auferstehung in den Himmel zurück. Für das tatsächliche Geschehen in der frühesten Zeit des Christentums tragen diese Erzählungen nichts aus. Sie sind Legenden.
Die Einsicht in die Entstehung des ältesten christlichen Auferstehungsglaubens führt zur Kritik an diesem Glauben. Denn Jesus wurde gar nicht von den Toten auferweckt, obwohl frühe Christen es bekennen und die Kirche darauf gebaut ist. Diese angeblich durch Gottes Handeln geschaffene Tatsache hat keinen Anhalt an den Texten. Sie zeigen, dass am Anfang eine Vision stand, nicht eine Begegnung mit Jesus in seinem erweckten Leib.
Theologen, die sich an das Bekenntnis der Kirche binden, stimmen zwar der obigen Analyse zu, ziehen daraus aber andere Folgerungen. Ich nenne hier stellvertretend für viele Rudolf Bultmann. Obwohl 1976 verstorben, hat der Marburger Neutestamentler bis heute durch seine Bücher und einen großen Schülerkreis eine große Wirkung. Bultmann versteht Jesu Auferstehung als „Heilsereignis“ und hebt hervor, die Aussage „Jesus ist von den Toten auferstanden“ sei nicht von derselben Art wie beispielsweise der Satz „Goethe ist auferstanden“. Wäre letzteres der Fall, handelte es sich um ein historisches Urteil; demgegenüber geht es bei Jesu Auferstehung – so Bultmann – um die Behauptung einer „eschatologischen“ Tatsache, um etwas, das die Geschichte übersteigt. Dieses „Ereignis“ müsse verkündigt werden. Ja, die Predigt darüber sei selbst Teil des eschatologischen „Ereignisses“. Jesus ist quasi in die Verkündigung hinein auferstanden. Daher wertet Bultmann jegliche Rückfrage nach der Berechtigung eines derartigen eschatologischen „Ereignisses“ als dessen Ablehnung.
Dem muss ich widersprechen. Zweifel am „Heilsereignis“ als eines eschatologischen Geschehens ist nicht automatisch eine Ablehnung der Verkündigung. Bultmann immunisiert sich offenbar gegen unbequeme Rückfragen. Seine Verteidigung der Auferstehung Jesu als eines „Heilsereignisses“ ändert nichts daran, dass diese gar nicht stattfand und demgemäß nicht die Grundlage des Glaubens sein kann.