3. Plädoyer für eine neue, religiöse Sicht
Seit im Jahre 1945 in der Nähe des oberägyptischen Nag Hammadi ca. 51 größtenteils unbekannte christlich-gnostische Texte gefunden wurden, kennen wir das frühe Christentum besser. Das griechische Wort „Gnosis“ bedeutet „Erkenntnis“. Die Erkenntnis ist für den Gnostiker und die Gnostikerin in erster Linie Selbsterkenntnis: Die Seele des Menschen ist himmlischen Ursprungs. Durch den Fehltritt einer göttlichen Macht – oft Sophia (Weisheit) oder Epinoia (Gedanke) genannt – entstand die Welt. Sie bleibt wie alle Materie, die als Leere, Chaos oder Stoff aufgefasst wird, mangelhaft. Die göttliche Seele findet sich im Körper gefangen und hat ihre wahre Heimat vergessen. Der unwissende, arrogante Schöpfergott und seine Gehilfen herrschen über Kosmos. Durch den Ruf der Erlöserin oder des Erlösers, den die christlichen Gnostiker mit Jesus gleichsetzen, erwacht die Seele aus ihrem Schlaf und ihrer Trunkenheit. Sie wird über ihre Herkunft und ihren Fall belehrt. Diese Erkenntnis bringt ihr Erlösung und lässt sie – gegen den Widerstand feindlicher Mächte – wieder eins werden mit der himmlischen Welt, aus der sie stammt und in die sie zurückkehrt.
Martina Janßen und ich haben diese Texte bearbeitet und sie im Radius-Verlag 1997 unter dem Titel „Bibel der Häretiker“ als erste deutsche Gesamtübersetzung zugänglich gemacht. Diese in koptischer Übersetzung vorliegenden Schriften, die allesamt auf griechische Originale zurückgehen, stammen aus einer Periode, in der es noch keinen Kanon des Neuen Testaments gab. Zu den jüngsten Dokumenten des Neuen Testaments gehören der Zweite Petrusbrief und das Johannesevangelium in seiner Endgestalt. Zahlreiche griechische Originale der Nag-Hammadi-Texte wurden in etwa zeitgleich mit ihnen verfasst, also in der ersten Hälfte des zweiten Jahrhunderts.
Gegner dieser und ähnlicher gnostischer Schriften waren Bischöfe einer sich rasant ausbreitenden christlichen Kirche. Sie gaben ihr einen einheitlichen Glauben und eine diesem Glauben entsprechende Organisation. Gegenüber politischen Behörden wollten die Bischöfe den Glauben nicht nur als vernünftig, sondern auch als staatstragend erweisen. Darum bedurfte es gegenüber der Öffentlichkeit einer durchsichtigen Ordnung und Organisation. Dies galt umso mehr, als der eine Gott, den die Christen verehrten, Schöpfer und Herrscher der ganzen Welt war. Die Kirchenführer setzten bald Rechtgläubigkeit mit Gehorsam gleich, bedienten sich einer von hierarchischem Denken geprägten Herrschaftssprache und predigten geradezu eine Kultur der Unterordnung. (Ich verdeutliche das gleich mit Äußerungen eines damaligen Theologen.)
Der Hauptstreitpunkt zwischen dem sich zur rechtgläubigen Kirche herausbildenden Christentum und dem Glauben, der den Nag-Hammadi-Texten zugrunde liegt, betraf das Gottesverständnis. Ihre Verfasser hielten den Exklusivitätsanspruch des alttestamentlichen Gottes, in dem die Kirche den Vater Jesu Christi wieder erkannte, für anmaßend. Der Begriff „Gott“ als Bezeichnung des höchsten Wesens erschien ihnen nicht mehr tauglich. Daher zogen sie andere Namen vor: „das Gute“, „die Größe“, „der unbekannte Vater“, „der himmlische Mensch“. Der alttestamentliche Gott sei blind. Warum sonst sollte er den Kosmos so geschaffen haben, dass dieser ein feindseliges Gebilde mit einem tyrannischen Gesetz, einer Ordnung ohne Sinn und bar jeglicher Werte sei? Dieser Kosmos befinde sich zur unbekannten Gottheit in dem gleichen Gegensatz wie die der Welt verfallene Seele des Menschen zu dessen Urkern, der sich nach Befreiung sehne. „Gott“ gehorchten die so Erlösten nicht, sondern erkannten den „himmlischen Menschen“ und damit – nach einer langen spirituellen Reise – auch sich selbst.
Das ist eine Sucherreligiosität, deren aufbegehrender Zweifel an einem tyrannischen Gott mich immer wieder fasziniert. Sie ist mir näher als die Kirchenreligiosität, weil sie den Menschen näher ist. Hinzu kommt: Die Gnostiker weichen das patriarchalische System auf, jedenfalls ansatzweise. Auch das liegt mir näher als der kirchliche Patriarchalismus. Meine Zweifel an der „rechtgläubigen“ Kirche finde ich hier wieder. Kein Wunder also, dass mich die gnostische Religiosität anzieht!
Zurück ins zweite Jahrhundert: Die Kritik der „rechtgläubigen“ Seite ließ nicht lange auf sich warten. Das belegen Reaktionen aus den Werken von Theologen des ausgehenden zweiten Jahrhunderts. Ich lasse Tertullian von Karthago zu Worte kommen, dessen Äußerungen repräsentativ für die bischöfliche Kritik an den Gnostikern war.
Für Tertulllian kommt ein Suchen nach der Wahrheit nicht mehr in Frage. Er schreibt: „Seit Jesus Christus bedürfen wir des Forschens nicht mehr, auch nicht des Untersuchens, seitdem das Evangelium verkündet wurde. Wenn wir glauben, so wünschen wir über das Glauben hinaus weiter nichts mehr. Denn das ist das erste, was wir glauben: es gebe nichts mehr, was wir über den Glauben hinaus noch zu glauben haben.“
Besonders verdächtig erscheint Tertullian die Gleichheit unter den gnostischen Christen. Er bemerkt hierüber: „Ich will nicht unterlassen, auch von dem Wandel der Häretiker eine Schilderung zu entwerfen, wie locker, wie irdisch, wie niedrig menschlich er sei, ohne Würde, ohne Autorität, ohne Kirchenzucht, so ganz ihrem Glauben entsprechend. Vorerst weiß man nicht, wer Taufbewerber, wer Gläubiger ist, sie treten miteinander ein, sie hören miteinander zu, sie beten miteinander – und der Heide auch mit, wenn er etwa dazukommt; sie werfen ihr Heiliges den Hunden und ihre, wenn auch unechten, Perlen den Säuen hin. Das Preisgeben der Kirchenzucht wollen sie für Einfachheit gehalten wissen, und unsere Sorge für dieselbe nennen sie Augendienerei. Was den Frieden angeht, so halten sie ihn auch unterschiedslos mit allen. Es ist in der Tat auch zwischen ihnen, obwohl sie abweichende Lehren haben, kein Unterschied, da sie sich zur gemeinschaftlichen Bekämpfung der einen Wahrheit verschworen haben. Alle sind aufgeblasen, alle versprechen die Erkenntnis. Die Taufbewerber sind schon Vollendete, ehe sie noch Unterricht erhalten haben.
Und dann der laxe Umgang der Gnostiker mit den kirchlichen Autoritäten. Tertullian schreibt: "So ist denn heute der eine Bischof, morgen der andere; heute ist jemand Diakon und morgen Vorleser; heute einer Priester und morgen Laie; denn sie tragen die priesterlichen Verrichtungen auch Laien auf.“
Ein Ärgernis stellen für Tertullian vor allem die ketzerischen Frauen dar. Über sie schreibt er: „Und selbst die häretischen Frauen, wie frech und anmaßend sind sie! Sie unterstehen sich zu lehren, zu disputieren, Exorzismen vorzunehmen, Heilungen zu versprechen, vielleicht auch noch zu taufen.“
Gewiss kann man die Geschichte nicht mehr umdrehen. „Rechtgläubige“ Theologen haben sich durchgesetzt und fast 2000 Jahre die Kirchengeschichte bestimmt. Sie beriefen sich bei ihrem Kampf gegen Dissidenten in ihren eigenen Reihen auf die ältesten Dokumente des Neuen Testaments, die Briefe des Apostels Paulus.