Zweifel und Glauben

Indes fällt auf, dass christlich-gnostisches Denken dem Osterenthusiasmus des frühesten Christentums verwandt ist. Die Protagonisten in den gnostischen Schriften haben ja Visionen vom auferstandenen Jesus. Ihn erfahren sie eben nicht fleischlich-körperlich wie die Verfasser der neutestamentlichen Evangelien, sondern im Geist; darin stehen sie den Zeugen der allerersten Zeit der Kirche nahe. Demnach führte die „Logik“ des Auferstehungscredo nicht nur zum Apostolischen Glaubensbekenntnis; sie konnte auch in den gnostischen Glauben des zweiten Jahrhunderts münden. Daher verdient die gnostische Position – die fast zwei Jahrtausend lang von der Übermacht der Kirche erdrückt wurde und erst jetzt durch Originalquellen bekannt ist – heute noch einmal Gehör. Ich nenne einige mir besonders wichtige Aspekte und setze ein bei gnostischen Deutungen der Auferstehung.

(Philippus-Evangelium, Spruch 21) Diejenigen, die sagen: „Der Herr ist zuerst gestorben und (dann) auferstanden“, sind im Irrtum. Denn er ist zuerst auferstanden und (dann) gestorben. Wenn jemand nicht zuerst die Auferstehung erwirbt, wird er sterben."

Der Verfasser bezeichnet zunächst das kirchliche Dogma von Tod und Auferstehung Jesu als Irrtum und kehrt die Reihenfolge kurzerhand um. Den „rechtgläubigen“ Auferstehungsglauben „Irrtum“ zu nennen, zeigt: Die Gnostiker lehnen ab, sie deuten anders. Zweifel ist hier Ablehnung einer falschen Religion. Auferstehung, gnostisch verstanden, ist eine spirituelle Wirklichkeit, die sich hier und heute, nirgendwo anders, vollzieht.

In gnostischer Sicht ist die Auferstehung der Übergang zu einem neuen Sein. Es gibt zwei Bereiche; der eine ist die Welt, die sich unentwegt wandelt. Sie kann daher nichts Bleibendes sein, sie ist eine Illusion. Der andere Bereich ist unwandelbar: Auferstehung, Wahrheit, neues Sein. Sie sind fest gegründet und daher keine Illusion.

Zahlreiche gnostische Schriften verstehen Auferstehung als Rückführung in den ursprünglichen Seinszustand des Menschen und damit als Rückkehr des Menschen zu sich selbst. In ihr empfangen sich Christen sich so, wie sie am Anfang waren. „Auferstehung“ wird zu einem Bild für das Feststehende. Sie verwirklicht sich durch die Erkenntnis dessen, was man von jeher ist. Wer Auferstehung in ihrer wahren Bedeutung erkennen will, muss daher vom Namen zur Sache vorstoßen. Wir lesen dazu im Philippus-Evangelium (Spruch 11): Die Namen, die man den weltlichen Dingen gibt, verursachen eine große Irreführung. Denn sie wenden den Sinn ab von dem Feststehenden zu dem Nicht-Feststehenden. Und wer Gott hört, der kennt nicht das Feststehende, sondern er hat das Nicht-Feststehende erkannt. So verhält es sich auch mit den Namen ‚der Vater‘ und „der Sohn“ und „der heilige Geist“ und „das Leben“ und „das Licht“ und „die Auferstehung“ und „die Kirche“ und mit allen anderen Namen: Man erkennt nicht das Feststehende, sondern man erkennt das Nicht-Feststehende, außer man hat das Feststehende kennen gelernt. Die Namen, die gehört werden, sind in der Welt und täuschen.

Welche Menschen stehen hinter diesen Texten aus Nag Hammadi? Sie reden von Erfahrung, wenn sie von ihrem Gauben reden. Sie deuten Auferstehung als Rückkehr zu sich selbst. An verschiedenen Stellen nennen sie sich „Angehörige des nicht wankenden Geschlechts“. Ihr Glaube ist Erkenntnis. Sie ist auf die Vollendung des Lebens aus, auf die Verwirklichung des eigenen Potentials. Sie hat keine Furcht vor der eigenen Größe, ja, begeistert sich an der gottähnlichen Kraft, die sie bekommt. Diese Kraft kommt aus der Erkenntnis. In der Schrift „Allogenes“ heißt es dazu:
Meine Seele wurde kraftlos, und ich floh und war sehr verwirrt. Und ich wandte mich zu mir selbst und sah das Licht, das mich umgab, und das Gute, das in mir war, und ich wurde göttlich.

Fortan nehmen die von der Erkenntnis erleuchteten Menschen davon Abschied, die eigene Erlebnisfähigkeit zu drosseln. Der neu erreichte Zustand ist eine Erkenntnis des Seins, ein Sich-Öffnen gegenüber der Welt, von der sie sich vorher abgeschirmt hatten. Dabei gewinnen sie die Fähigkeit der Unterscheidung zwischen dem, was feststeht, und dem, was nicht feststeht, sondern nur täuscht. Diese Täuschung sehen sie in fast allem, was die Schöpfung betrifft. Die ist zerrissen. Daran ist der Schöpfergott schuld, der sich anmaßend verhält und daher nur Spott verdient. Aber die Gnostiker sind stärker als er. Diese ungeheure Umwertung der Werte entspringt dem Zweifel: Die von ihm Ergriffenen erkennen, dass sie stärker sind als Gott und ihn durchschauen. Als Angehörige des nicht wankenden Geschlechts richten sie ihren Blick auf das große Geheimnis des kosmischen Ganzen und machen die ungeheure Erfahrung eines grenzenlosen Dazugehörens.

Ein anderer Text aus Nag Hammadi schildert die Geburt des Erkennenden folgendermaßen: (Evangelium der Wahrheit 22) Einer, wenn er das Wissen hat, ist von oben. … Der Name des Einen kommt zu ihm. Der, der auf diese Weise erkennen wird, weiß, woher er kommt und wohin er geht. Er erkennt wie jemand, der, indem er betrunken war und von seiner Trunkenheit ernüchtert worden und wieder zu sich selbst zurückgekehrt ist, das in Ordnung gebracht hat, was das Seine ist.

Der Text schildert eindrucksvoll die Entdeckung des unbewussten Selbst, das mit dem von oben stammenden göttlichen Einen identisch ist. Zugleich bezeichnet es das Eigene der von der Erkenntnis erleuchteten Menschen. Diese Selbsterkenntnis führt zu einer Stärkung des Selbst, denn durch sie wird das Eigene in Ordnung gebracht werden. Der Gnostiker hat den klaren Blick zurück gewonnen, der infolge der eigenen Selbstvergessenheit, der Trunkenheit, verloren gegangen war. Darum heißt an anderer Stelle im Evangelium der Wahrheit: „Gut für den Menschen, der zu sich zurückkehren wird und aufwachen wird!“ Ein weiterer Nag-Hammadi-Text bemerkt zur Selbsterkenntnis: (Thomasbuch 138) Der Erlöser spricht: „…Wer sich nämlich nicht selbst erkannt hat, hat gar nichts erkannt. Wer sich aber selbst erkannt hat, hat auch schon die Erkenntnis der Tiefe des Alls. Deswegen nun hast du, mein Bruder Thomas, gesehen, was verborgen vor den Menschen ist, nämlich das, woran sie Anstoß nehmen, wenn sie es nicht kennen.

Daher heißt der Gnostiker geradezu „der Mensch, der sich selbst erkannt hat“. Er braucht Gelassenheit und Geduld; er muss warten können. Die Selbsterkenntnis wird wie von selbst kommen. Dann wird er unvergänglich und erhält göttliche Macht.

Im Thomas-Evangelium (Logion 2) ist das noch einmal formuliert: Jesus sagte: „Der Suchende soll nicht aufhören zu suchen, bis er findet. Und wenn er findet, wird er in Erschütterung geraten; und wenn er erschüttert ist, wird er in Verwunderung geraten, und er wird König über das All werden.