Ich habe versucht, Ihnen Gedanken nahe zu bringen, die in den Texten von Nag Hammadi enthalten sind. Für mich sind es faszinierende Gedanken. Hoffentlich habe ich mithelfen können, dass auch Sie den Reiz der gnostischen Position empfinden. In den vorgestellten Texten begegneten wir Gnostikern, die streng vom Menschen aus denken und von den ihm innewohnenden Potenzen. Sie vermeiden den Dualismus von Gott und Mensch und gebrauchen mythische Sprache, um Vorgänge in ihrem Innern auszudrücken. Fixierung des Glaubens auf Tatsachen ist ihnen fremd, Heilsgeschichte ein Irrtum, Selbsterkenntnis der Weg zur innerer Heilung. Diese Menschen verstehen sich als dauerhaft Suchende; eine feststehende Lehre lehnen sie ebenso ab wie einen Gott, der Gehorsam fordert.
Wie viel Zweifel ist erlaubt?“ ist der Titel meines Vortrags. Ich wollte klarmachen: Wissenschaft, die Wissenschaft ist, arbeitet so, dass Erkenntnisse immer wieder in Frage gestellt, überprüft und korrigiert werden. Was ist das anderes als permanenter Zweifel: ein Zweifel, der keine Grenzen kennt, weder die Grenze, die Autoritäten setzen möchten, noch die Grenze, welche die Gültigkeit einer Erkenntnis daran misst, wie lange diese Erkenntnis schon selbstverständlich bejaht worden ist. Wissenschaft ohne Zweifel, die gibt es nicht. Wenn Theologie Wissenschaft sein will, so muss sie auch den nie endenden Zweifel zulassen.
Ich wollte in meinem Vortrag auch noch etwas anderes vorstellen. Der Vergleich des kirchlichen Glaubens mit dem Glauben der Gnostiker sollte zeigen, wie unterschiedlich ein Glaubenssatz verstanden werden kann. Aber auch, dass es etwas über den Menschen aussagt, von welcher Glaubensrichtung er sich angezogen fühlt. Ich ziehe die Gnosis dem kirchlichen Glauben vor.
Die Gnosis bleibt nahe am Menschen. Damit ein Mensch auch Mensch sein kann, muss er zweifeln können: am Sinn seines Lebens, an Gott und Religion, an Lebensweisheiten – und seien sie noch so alt und bewährt.
Zweifeln kann keiner erlauben, wer sollte das wohl sein? Zweifel kann niemand in Portionen teilen, wie sollte das wohl gehen? Zweifel kann man unterdrücken, aber das macht krank. Ein lebendiger Mensch ist immer auch ein zweifelnder Mensch.
In der Gnosis bin ich mit meinen Zweifeln am rechten Ort, ich bin befreit von der Knechtschaft des Gehorsams, urteile selbst, stehe auf festem Grund, weiß wohin ich gehöre. Die vorgestellten gnostischen Texte bereiten der Einsicht den Weg, dass es in der Religion der Zukunft – wenn denn Religion eine Zukunft hat – vor allem um die Menschen, um die Erweckung der in ihnen verschütteten Kräfte gehen muss.
*) Ein Vortrag, den Prof. Dr. Gerd Lüdemann unter dem Titel „Wie viel Zweifel ist erlaubt“ am 1. Dezember 2009 in Darmstadt hielt.