(hpd) Der Politikwissenschaftler Samuel Salzborn will klassische und moderne Deutungen der Judenfeindschaft von Freud über Arendt bis Holz mit den Mitteln einer qualitativen Studie empirisch überprüfen.
Einerseits beeindruckt die Arbeit durch das entwickelte Problembewusstsein und die präsentierten Theorien, andererseits überzeugt deren Überprüfung anhand einer quantitativen Befragung mit nur sieben Personen nicht und lässt auch die Präsentation einer wirklich entwickelten Theorie des modernen Antisemitismus vermissen.
Über die Entstehung und Wirkung des Antisemitismus liegt mittlerweile eine umfangreiche Forschungsliteratur vor. Ausführliche Studien beschrieben die historische Entwicklung damit verbundener Einstellungen, interpretierende Werke präsentierten analytische Deutungen der unterschiedlichen judenfeindlichen Vorurteile. Dabei konzentrierte man sich aber häufig nur auf einen bestimmten Gesichtspunkt, an breiter entwickelten Erklärungsansätzen mangelte es. Dies beklagt auch der Politikwissenschaftler Samuel Salzborn in seiner Studie „Antisemitismus als negative Leitidee der Moderne. Sozialwissenschaftliche Theorien im Vergleich“. Wie der Untertitel bereits andeutet, beabsichtigt er darin eine Auseinandersetzung mit den bisherigen theoretischen Modellen zur Judenfeindschaft. Sie sollen zum einen im Sinne eines empirischen Testes an der Realität überprüft und zum anderen hinsichtlich ihrer Erklärungskraft in ihrem Wechselverhältnis zueinander bestimmt werden. Kurzum, Inhalt und Praxis sollen als gemeinsame Bestandteile einer besonderen Ideologie Beachtung finden.
Salzborns Arbeit gliedert sich in vier unterschiedlich große Teile: Zunächst geht er auf die Bedeutung des Themas, die Entwicklung der Fragestellung und den Stand der bisherigen Forschung ein. Danach folgt als erstes große Kapitel eine Darstellung und Untersuchung wichtiger sozialwissenschaftlicher Theorien über Antisemitismus, wobei die Deutungen einzelner klassischer und neuerer Autoren präsentiert werden: Sigmund Freud, Talcott Parsons, Jean-Paul Sartre, Ernst Simmel, Max Horkheimer/Theodor W. Adorno, Hannah Arendt, Béla Grunberger, Shulamit Volkov, Moishe Postone, Zygmunt Bauman und Klaus Holz. Dem schließt sich die empirische Prüfung von deren theoretischen Annahmen an, wozu die Ergebnisse einer eigenen qualitativen empirischen Studie mit sieben Interviews genutzt werden. Danach folgt eine qualitative Auswertung der einzelnen und eine systematische Auswertung aller Interviews. Und schließlich nimmt der Autor eine bilanzierende vergleichende Betrachtung in Richtung einer Theorie des modernen Antisemitismus vor.
Bilanzierend heißt es: „Antisemitismus, so lassen sich die strukturellen wie individuellen Faktoren zusammenfassen, ist – mit Horkheimer/Adorno und Arendt gesprochen - letztlich eine Art zu denken und – mit Sartre und Clausen - eine Art zu fühlen: Antisemitismus ist zugleich Unfähigkeit wie Unwilligkeit, abstrakt zu denken und konkret zu fühlen; im Antisemitismus wird beides vertauscht, das Denken soll konkret, das Fühlen aber abstrakt sein. ... Der antisemitische Wunsch, konkret zu denken, wird ergänzt um die Unfähigkeit, konkret zu fühlen; die Weltanschauung soll konkret sein, das Gefühl aber abstrakt – was sowohl die intellektuelle, wie die emotionale Perspektive einer Inversion unterzieht, die psychisch aufgrund ihrer Dichotomie zu inneren Konflikten führen muss. Auf der weltanschaulichen Ebene ist Antisemitismus damit eine dezisionistische Haltung zur Welt, eine radikale bewusste wie unbewusste Entscheidung für den kognitiven und emotionalen Glauben an den Manichäismus der antisemitischen Phantasie“ (S. 334).
Das Urteil über Salzborns Studie fällt ambivalent aus: Einerseits zeichnet sie sich durch einen erkenntnisfördernden Ansatz aus, will der Autor doch Theorien über den Antisemitismus empirisch überprüfen. Dazu präsentiert er die einzelnen Ansätze komprimiert und systematisch. Er macht auch zutreffend die unterschiedlichen Ebenen der Argumentation deutlich und fragt nach der möglichen Kompatibilität nur scheinbar gegensätzlicher Erklärungsrichtungen. Hierdurch weist die Studie auf Lücken in der bisherigen Forschung hin und plädiert für eine Erweiterung von deren Perspektiven. Andererseits überzeugt der Versuch, die erwähnten Erklärungsansätze über eine qualitative Studie mit sieben Befragten überprüfen zu wollen, nicht. Eine solche Vorgehensweise mag bezüglich der psychologischen Ansätze angemessen sein. Für die historische und gesellschaftliche Dimension bedarf es aber einer anderen Perspektive. Darüber hinaus fehlt eine wirkliche Abrundung der Erkenntnisse gegen Ende in Richtung einer entwickelten Theorie des modernen Antisemitismus.
Armin Pfahl-Traughber
Samuel Salzborn, Antisemitismus als negative Leitidee der Moderne. Sozialwissenschaftliche Theorien im Vergleich, Frankfurt/Main 2010 (Campus-Verlag), 378 S., 29,90 €