Mörderische Identitäten

Nun kann man sicherlich Abstriche machen an allen Aussagen, die der Autor macht, um die Religionen zu verteidigen. Interessant ist dabei jedoch seine eigene Biographie: Geboren im Libanon in einer christlichen Familie hat er auch einen toleranten Islam erlebt. Allerdings kommt er nicht – wie es mir schon geschah – in den Ruch des Kulturrelativismus. "Immer dann, wenn in der islamischen Gesellschaft Zuversicht herrschte, vermochte sie sich aufgeschlossen zu zeigen. Das Bild des Islam, wie es sich in solchen Zeiten darstellt, hat nicht die geringste Ähnlichkeit mit seinen heutigen Karikaturen. Ich will nicht behaupten, daß sein einstiges Bild den ursprünglichen Geist des Islam besser widerspiegelt, nur soviel, daß diese Religion, wie alle anderen Lehren auch, in jeder Epoche von zeitlichen und geographischen Faktoren geprägt ist." (Seite 60)

Amin Maalouf versucht in diesem Buch auch, eine Lanze für einen aufgeklärten, modernen Islam zu brechen. Und letztlich verständlich zu machen – das vor allem an seine westeuropäischen Leser gerichtet – dass auch das Christentum sich in den letzten Jahrhunderten nicht unbedingt als die tolerante und aufgeklärte Religion gezeigt hat, für die sich hält oder zumindest darzustellen bemüht. (Wie wenig aufgeklärt und wie überaus intolerant diese Religion tatsächlich in der Moderne war und ist, zeigt ein Blick in die tägliche Presse...)

Ich weiß, dass es Einige gibt, die der Meinung sind, dass die Kolonialgeschichte nichts mit dem Entstehen des fundamentalistischen Islam gemein hat; dass hier keine kausalen Zusammenhänge bestehen. Antimuslimismus – ein Begriff, den Armin Pfahl-Traughber prägte [4] - stellt sich in diesen Fragen taub. Das „eigene“, das westliche Versagen, die gnadenlose Ausbeutung von Menschen und natürlichen Ressourcen im ölreichen und zufällig islamischen Nahen Osten (seit mehr als einem Jahrhundert) stehen nicht zur Debatte. Doch "die Muslime der dritten Welt [feinden] den Westen nicht ... deshalb so heftig an, weil sie Muslime sind und der Westen christlich, sondern auch, weil sie arm, unterdrückt und gedemütigt sind, der Westen dagegen reich und mächtig ist." (Seite 61)

Amin Maalouf streift in seinem Essay auch die Vereinbarkeit von Religionen mit der Demokratie. Und stellt dabei fest, dass das Christentum sich von einer intoleranten und totalitären Religion zu einer offenen wandelte, während der Islam eine umgekehrte Entwicklung nahm und nimmt. (Vgl. Seite 55) Er plädiert dafür, Menschen als Identitäten aus verschiedenen Zugehörigkeiten zu begreifen und auch selbst als Identität (Gesamtheit) zu handeln. Denn Demokratie bedeute auch die Verpflichtung zu Toleranz, Integration, Pluralismus und Verständnis. Und damit eben auch den Schutz von Minderheiten. Wenn eine Mehrheit beschließt, eine Minderheit zu unterdrücken, ist die Demokratie gezwungen, nötigenfalls auch gegen die Mehrheit zu entscheiden und zu handeln. (Der Essay ist 1998 erstmalig in Französisch erschienen, da gab es die schweizerische Minarett-Abstimmung noch nicht!) "Unantastbar an der Demokratie sind ihre Werte, nicht ihre Mechanismen." (Seite 135)

Oder, wie Hannah Arendt es ausdrückt: "das Unglück des Rechtlosen liegt nicht darin, daß er des Rechtes auf Leben, auf Freiheit, auf Streben nach Glück, der Gleichheit vor dem Gesetz oder gar der Meinungsfreiheit beraubt ist [...] die Rechtlosigkeit ... entspringt einzig der Tatsache, daß der von ihr Befallene zu keiner irgendwie gearteten Gemeinschaft gehört." [5]

 

Amin Maalouf hat hier ein kluges, nachdenkliches und sehr menschenfreundliches Buch geschrieben (für das er 1999 den Charles-Veillon-Preis erhielt). Obwohl das Buch bereits vor zehn Jahren veröffentlicht wurde, hat es an Aktualität noch nichts verloren. Im Gegenteil. Es ist wegen der besonderen Biographie des Autors jedoch keineswegs ein säkulares Buch; als religionskritisch kann man es aber guten Gewissens bezeichnen. Da es zudem in einer hervorragenden Sprache geschrieben ist und es einfach nur Spaß macht, es zu lesen, möchte ich es gern empfehlen. Und obwohl es nur knapp 150 Seiten stark ist, ist es voller neuer Sichtweisen. Ich habe hier kaum etwas von der Fülle darstellen können.

Frank Navissi

 

[1] Vgl. auch Seite 85: „Es besteht kein Zweifel, daß als Reaktion auf die fortschreitende Globalisierung ein verstärktes Bedürfnis nach Identität entsteht...“

[2] Navid Kermani - Wer ist wir? - Deutschland und seine Muslime, C.H. Beck, München, 2009, Seite 87

[3] Vgl. auch Nazanin Borumand bei ihrer Rede in Berlin am 25.02.2010

[4] Armin Pfahl-Traughber in „Wie hältst Du es mit dem Islam und den Muslimen? - Zwölf Thesen zu einer neuen „Gretchenfrage“ aus Sicht des säkularen Humanismus“, diesseits Heft 90/2010, Seite 17

[5] Hannah Arendt - Elemente und Ursprünge totaler Herrschaft, C.H. Beck, Seite 611

 

Amin Maalouf: Mörderische Identitäten: Essay. Frankfurt: Suhrkamp. 160 Seiten, ISBN: 978-3518121597, EUR 9,50.