Damit hatte Lucia endgültig ihr Thema gefunden. Von 1930 an gingen Lucias persönliche Befindlichkeiten (das heißt: ihre seelisch-mystische Entwicklung während des Erwachsenwerdens im Kloster) eine Union mit dem neuen Kreuzzugsgedanken Roms gegen den „gottlosen Bolschewismus“ ein. Das Wissen um Katholikenverfolgungen in der Sowjetunion war seit der sogenannten Oktoberrevolution im November 1917 verbreitet. Pius XI. sprach in einem päpstlichen Schreiben gar von „Terror in Russland“ und von einem „Wendepunkt im Kampf aller Kulturvölker gegen den Bolschewismus“. Auch die Idee der Landesweihe an das Herz Jesu beinhaltete nichts Neues und diente seit jeher der religiösen Revitalisierung.
Da Lucia bereits grundsätzlich das Thema einer Sühneandacht zum Unbefleckten Herzen auf 1917 zurück datiert hatte, lag es nahe, die Forderung der Gottesmutter nach einer Weihe Russlands nun ebenfalls den Marienerscheinungen von 1917 zuzuschreiben. Und damit erhielt Fatima 13 Jahre nach den “Erscheinungen” ganz unvermittelt eine zusätzliche Dimension: als “Bollwerk gegen den Kommunismus”.
1936 wurde Portugal (und damit auch Schwester Lucia) erneut unmittelbar mit Kriegserfahrungen konfrontiert: Die Portugiesen kämpften an der Seite von Francos Nationalisten im Nachbarland Spanien gegen die Kommunisten. Die Bischöfe Portugals gelobten am 13. Mai in Fatima, eine große nationale Dankeswallfahrt zu veranstalten, wenn Portugal vor kommunistischer Herrschaft bewahrt bleibe. Derweil drängten Lucias Berater die nationalen Oberhirten dazu, die Bitte Lucias bezüglich der Weihe Russlands dem Papst in Rom zu übermitteln. Noch ohne Erfolg.
Erst im Jahr 1942 überschlugen sich die Ereignisse. Lucia schrieb das Zweite Geheimnis von Fatima nieder, in dem es unter anderem heißt: „Wenn man aber nicht aufhört, Gott zu beleidigen, wird unter dem Pontifikat von Papst Pius XI ein anderer, schlimmerer beginnen. Wenn ihr eine Nacht von einem unbekannten Licht erhellt seht, dann wisst, dass dies das große Zeichen ist, das Gott euch gibt, dass Er die Welt für ihre Missetaten durch Krieg, Hungersnot, Verfolgungen der Kirche und des Heiligen Vaters bestrafen wird. Um das zu verhüten, werde ich kommen, um die Weihe Russlands an mein unbeflecktes Herz und die Sühnekommunion an den ersten Samstagen des Monats zu verlangen.
Wenn man auf meine Wünsche hört, wird Russland sich bekehren und es wird Friede sein. Wenn nicht, wird es seine Irrlehren über die Welt verbreiten, wird Kriege und Kirchenverfolgungen heraufbeschwören. Die Guten werden gemartert werden, der Heilige Vater wird viel zu leiden haben, verschiedene Nationen werden vernichtet werden, am Ende aber wird mein Unbeflecktes Herz triumphieren. Der Heilige Vater wird mir Russland weihen, das sich bekehren wird, und der Welt wird eine Zeit des Friedens geschenkt werden.”
Offenkundig sah Lucia – historisch unhaltbar – eine ursächliche Verbindung zwischen dem Spanischen Bürgerkrieg und dem Zweiten Weltkrieg beziehungsweise der Rolle Russlands in beiden Konflikten. Und augenscheinlich vermischten sich nun bei ihr lokale und nationale Ängste und Erfahrungen bezüglich des Kommunismus mit den aktuellen globalen Kriegshandlungen.
An den Widersprüchen im „Zweiten Geheimnis“ von Fatima nahm indes kaum jemand offen Anstoß: Erstens ist das „Geheimnis“ gar kein Geheimnis, denn die wesentlichen Inhalte hatte Lucia schon 1930 verlautbart. Zweitens erscheint es hinreichend sinnlos, ein vom Himmel verheißenes Mittel zur Verhinderung des Zweiten Weltkriegs (nämlich die Weihe Russlands an das Unbefleckte Herz) erst retrospektiv zu offenbaren, drei Jahre nach Kriegsausbruch.
Egal, denn der Fatima-Kult lieferte seinen zahllosen Anhängern eine religiös aufbereitete Sinndeutung des Zweiten Weltkriegs als „Geißel Gottes“ für die entartete Menschheit, verbunden mit der Verheißung, durch gemeinsames rituelles Handeln von Volk und Kirche künftige Strafen aufheben zu können, und legitimiert durch die Verheißung der Himmelskönigin: „Am Ende wird mein Unbeflecktes Herz triumphieren.“
Papst Pius XII. vollzog denn auch am 31. Oktober und am 8. Dezember die „offizielle und feierliche Weihe des Menschengeschlechts an das Unbefleckte Herz Mariens“. Russland sei darin eingeschlossen. Der Krieg ging unvermindert weiter. Lucia erklärte, der Akt sei nicht gültig, weil die Zeremonie „nicht mit allen Bischöfen gleichzeitig“ vollzogen worden sei. Später sagte sie, Maria habe nicht die Weihe der Welt, sondern explizit die Weihe Russlands verlangt.
Papst Paul VI. erneuerte die Weihe an das Unbefleckte Herz zum Abschluss der dritten Sitzungsperiode des Zweiten Vatikanischen Konzils. Selbiges geschah unter Papst Johannes Paul II. 1982 in Fatima, 1983 in Rom und 1984 erneut in Rom. Stets erklärte Lucia Santos im Anschluss, die Weihe sei wegen verschiedener Formfehler nicht vollzogen.
Nach dem Zusammenbruch des Ostblocks 1990 jedoch bejubelten die Fatima-Anhänger endlich den ersehnten Erfolg der Weihe. Zu was genau sich die Sowjetunion nun „bekehrt“ haben soll, bleibt indes völlig unklar.
„Von der Vereinigung der orthodoxen Kirchen mit der katholischen sind wir heute genauso weit entfernt wie 1917“, merkt Monika Hauf nüchtern an. Auch habe die Auflösung des Warschauer Pakts das Gefühl des Friedens und der Sicherheit auf der Welt keinesfalls erhöht. Und von irgendeiner Form religiösen Aufbruchs in Russlands ist ebenfalls nichts zu sehen.
Der mittlerweile verstorbene Regensburger Theologe und Aberglaubenaufklärer Dr. Josef Hanauer führte diesen Gedanken fort: „Mehr als siebzig Jahre lang hat die Welt gebetet und gebüßt. Es war nicht umsonst. Russland hat sich bekehrt und in der Welt herrscht seitdem eitel Friede. Wenigstens die Fatima-Freunde glauben es. Vielleicht.“
Zum Weiterlesen:
• “Die Geheimnisse von Fatima”, Skeptiker Nr. 2/2010
• Hanauer, J. (1996): Muttergottes-Erscheinungen: Tatsachen oder Täuschungen? Karin Fischer Verlag, Aachen
• Scheer, M. (2006): Rosenkranz und Kriegsvisionen.
• Tübinger Vereinigung für Volkskunde e.V.
Veröffentlichung mit freundlicher Genehmigung des gwup-blogs