Die Geheimnisse von Fatima

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"Heiligtum" in Fatima / Foto: Ewan ar Born

ROSSDORF. (gwup/hpd) An Christi Himmelfahrt findet bekanntlich der Publikumstag der 20. GWUP-Konferenz in Essen statt. In München läuft dann der Ökumenische Kirchentag. Und der Papst reist nach Portugal. Genauer gesagt nach Fatima, zum Jahrestag der angeblichen Marienerscheinungen von 1917 und zehn Jahre nach der Seligsprechung der beiden “Seherkinder” Jacinta und Francisco Marto.

Eine Betrachtung von Bernd Harder.


Die Geheimnisse von Fatima I

Ich komme gerade aus Fatima. Eine TV-Produktionsfirma hatte mich für drei Tage dorthin eingeladen. Es ging um ein neues Sendeformat für den Bayerischen Rundfunk mit dem bekannten Schauspieler und Liedermacher Michael Fitz, der an populären Wallfahrtsorten Gläubige und Kritiker zwanglos interviewt. Sehr sympathischer Mann. Völlig uneitel und interessiert. Mal gespannt, welche Passagen unserer mehrstündigen Gespräche an verschiedenen Schauplätzen rund um das Marienheiligtum ausgestrahlt werden.

Beispielbild
Lucia Santos (Mitte) / Foto: wikimedia com.
Natürlich ging es auch um die berühmten und angeblich unwiderlegbaren “Prophezeiungen” sowie um die drei “Geheimnisse” von Fatima – und um die Frage, was Jacinta (7), Francisco (9) und die eigentliche Protagonistin Lucia Santos (10) wohl gesehen haben an jenem 13. Mai 1917, beim Schafe hüten in dem kleinen Talkessel Cova da Iria.

“War Lucia eine Betrügerin?”, wollte Michael Fitz unter anderem wissen.

Das vermutlich nicht – aber einige Menschen haben eidetische Fähigkeiten. Sie können innere Bilder in der Außenwelt wahrnehmen, unterliegen also einer Sinnestäuschung ohne psychotische Ursachen.

Dazu passt auch, dass nur Lucia sich mit der “Erscheinung” (eine von blendenden Lichtstrahlen umgebene Frauengestalt) unterhielt, auch bei allen späteren Begegnungen. Jacinta glaubte zwar auch, die “wunderschöne Dame” zu sehen und zu hören, fragte aber nie selbst etwas. Franciscos Eindrücke waren nach eigenen Angaben stets undeutlich. Der Hirtenjunge sah die “Erscheinung” zeitweise gar nicht und hörte ihre Worte selbst nie. Alles, was die beiden Nebenseher Jacinta und Francisco über die Marienerscheinungen wissen, beruht auf Lucias Erzählungen.

Was könnte der Auslöser für das spontane visuelle Phänomen gewesen sein? Auch das ist nicht schwierig zu erklären: Es ging um persönliche Ängste und Nöte, die auf die “Erscheinung” projiziert wurden. Beredetes Indiz hierfür: Das erste persönliche Anliegen Lucias betraf den Ersten Weltkrieg. Sie wollte von der Gestalt wissen, ob der Krieg bald zu Ende gehe.

Verständlich, denn ein Jahr zuvor war Portugal – im Land höchst umstritten – in den Krieg eingetreten. Die drei Kinder bekamen mit, wie Angehörige, Nachbarn, Verwandte in den Krieg mussten, erlebten Unruhen und Aufstände, weil eine deutsche Seeblockade die Nahrungsmittel drastisch verknappte. Nüchtern betrachtet ging es an keinem einzigen der sechs Erscheinungstage (von Mai bis Oktober, immer am 13. des Monats) um spektakuläre “Geheimnisse” und Voraussagen – sondern um nichts weiter als um den beständigen Appell der “Erscheinung”, den Rosenkranz für die Beendigung des Krieges zu beten.

Neben persönlicher Angstbewältigung hat das von der “Erscheinung” geforderte und von Lucia als “Seherin” verkündete Ritual noch eine zweite wichtige Bedeutung: Es ging um nichts weniger als um die Illusion, etwas “tun” zu können, also jenen schwierigen und bedrückenden Zeiten nicht mehr hilflos ausgeliefert zu sein, sondern dagegen aktiv zu werden – nämlich in dem von der “Erscheinung” geforderten Sinne: beten, opfern, fasten. Um damit Gott zu bewegen, weiteres Unheil abzuwenden.

Das war erst einmal alles. Wie konnte ausgerechnet Fatima zu einem der weltgrößten Marienheiligtümer mit enormer politischer Bedeutung aufsteigen?

Die Geheimnisse von Fatima II – Das Sonnenwunder

Am 13. Mai 1917 begannen die “Marienerscheinungen” von Fatima. Am sechsten und letzten Erscheinungstag, also am 13. Oktober, ereignete sich das berühmte “Sonnenwunder”, das bis heute als unumstößlicher Beweis für die Echtheit der Ereignisse gilt.

Wirklich? Sehen wir uns die Sache näher an.

Schon am dritten Erscheinungstag am 13. Juli hatte die “Seherin” Lucia ein großes Wunder für den 13. Oktober angekündigt – und damit für eine entsprechend gläubige Erwartungshaltung bei den Zuschauern gesorgt.

Schätzungsweise zwischen 50.000 und 70. 000 Menschen versammelten sich daher am letzten Erscheinungstag in der Cova da Iria, wo wiederum Lucia Santos das “Signal” gab und kurz nach 14 Uhr mit lauter Stimme rief: „Schaut auf die Sonne!“ Portugiesische Zeitungen zitierten in den folgenden Tagen einige Zeugen, die gesehen haben wollen, wie sich die Sonne wie ein Rad drehte, am Himmel „tanzte“, rotierte oder zu Boden stürzte. Manche nahmen Marias Gesicht auf der Sonnenscheibe wahr oder eine besonders intensive Strahlung in allen Farben.

Nüchtern betrachtet ist an dem vermeintlichen „Sonnenwunder“ indes wenig Wundersames. Keineswegs alle Anwesenden sahen etwas, und nur die wenigen Ausnahmen machten Schlagzeilen. In einer frommen Kleinschrift zu Fatima etwa wird gesagt, 16 Augenzeugen hätten sich bei einem Pfarrer unter Eid zu dem „Sonnenwunder“ geäußert. Überflüssig zu erwähnen, dass kein Astronom, keine Sternwarte das Phänomen bestätigen konnte.

Allerdings weisen die meisten Aussagen starke Übereinstimmungen auf. Sie beziehen sich in erster Linie auf anscheinend unerklärliche Farbeffekte der Umgebung sowie auf das Phänomen der wild am Himmel tanzenden Sonne. Das alles legt den Schluss nahe, dass es sich bei dem „Sonnenwunder“ um ein rein subjektives Phänomen handelte. Genauer gesagt: Dass ein Zusammenhang besteht zwischen dem In-die-Sonne-Sehen und den übereinstimmenden Wahrnehmungen.

Was ist tatsächlich geschehen? Sehr wahrscheinlich dieses: Kurz vor dem „Sonnenwunder“ hatte es geregnet. Durch den Dunst war die Lichtstärke der Sonne vorübergehend etwas herabgesetzt, sodass einige der Schaulustigen einen Blick auf die Sonnenscheibe riskieren konnten. Wegen der immer noch enormen Helligkeit des Himmelskörpers versucht das Auge, ihr aus Selbstschutz auszuweichen. Der Sonnentanz ist also nichts anderes als ein autokinetischer Effekt, eine optische Täuschung, bei der Lichtquellen durch unwillkürliche Augenbewegungen als bewegt wahrgenommen werden.

Der geschilderte Farbwechsel der Umgebung ist auf den Nachbild-Farbumkehreffekt zurückzuführen, wie wir ihn zur Genüge kennen: Die Umgebung verfärbt sich gelb, weil sie im Nachbild die Farbe der Sonne annimmt.

Dass auch Gläubige in einiger Entfernung von Fatima das Schauspiel beobachtet haben wollen (und sogar Papst Pius XII. im Jahr 1950 sein eigenes „Sonnenwunder“ im Vatikan sah) ist mithin nichts Mysteriöses: Jeder kann unter vergleichbaren Bedingungen Fatima nacherleben – auch wenn man solche Experimente besser unterlassen sollte, da irreparable Netzhautschäden entstehen können.

In der allgemeinen Euphorie um das „Sonnenwunder“ gehen zwei wichtige Punkte unter: Zum einen äußert die Gottesmutter auch an diesem letzten Erscheinungstag nichts, was man als “besonderes Anliegen” interpretieren könnte – so, wie sie es am ersten Erscheinungstag angekündigt hatte. Bei allen sechs Begegnungen der „schönen Dame“ mit Lucia, Francisco und Jacinta ging es um nichts weiter als um einen schlichten Aufruf zum Rosenkranzgebet für den Frieden, realistisch betrachtet genährt durch die Ängste und Hoffnungen von Kindern, deren Familienangehörige kurz davor zum Kriegsdienst eingezogen worden waren.

Zum anderen unterläuft der Seherin Lucia an diesem 13. Oktober ein herber Schnitzer. Bei einer Befragung am Abend nach dem „Sonnenwunder“ erklärt sie, die Gottesmutter habe gesagt, „dass wir uns bessern sollen, dass wir unseren Herrn, der sehr beleidigt sei, nicht beleidigen sollen, dass wir den Rosenkranz beten und Verzeihung unserer Sünden erbitten sollen, dass der Krieg heute aufhören werde und dass wir unsere Soldaten sehr bald erwarten sollen“.

Der Erste Weltkrieg endet jedoch mitnichten an diesem 13. Oktober 1917. Auf Nachfragen betont die Seherin am 19. Oktober: „Ich habe es so gesagt, wie Unsere liebe Frau es gesagt hat.“ In den Fatima-Schriften steht heute zu lesen, Lucia habe lediglich gesagt, der Krieg gehe „bald“ zu Ende. Das ist erstens falsch. Zweitens wenig mehr als eine vage Binse. Und drittens zog sich der Krieg noch ganze sechzehn Monate hin. Für die Gegner der Echtheit der Prophezeiungen zu lange.

Die Geheimnisse von Fatima III – Die Prophezeiungen

Als weiterer unwiderlegbarer Beweis für die Echtheit der “Marienerscheinungen” von Fatima gelten neben dem geschilderten „Sonnenwunder“ die Voraussagen der Gottesmutter, etwa zum Beginn des Zweiten Weltkriegs.

Dazu heißt es nämlich im sogenannten Zweiten Geheimnis von Fatima, das der “Seherin” Lucia Santos am 13. Juli 1917 geoffenbart worden sei: „Der Krieg [der Erste Weltkrieg; Anm. d. Autors] geht seinem Ende entgegen, aber wenn man nicht aufhört, den Herrn zu beleidigen, wird nicht lange Zeit vergehen, bis ein neuer, noch schlimmerer beginnt. Es wird während des Pontifikats Pius XI. geschehen. Wenn ihr dann eines Nachts ein unbekanntes Licht sehen werdet, so wisset, es ist das Zeichen von Gott, dass die Bestrafung der Welt für ihre vielen Verbrechen nahe ist.“

Zugegeben: Im Sommer 1917 wäre das eine recht eindrucksvolle Vorhersage künftiger Geschehnisse gewesen. Nur kann davon überhaupt keine Rede sein. Auch hier haben wir es mit einem typischen Fall von “Nachhersage” zu tun. Und das kam so: 1919 und 1920 starben die beiden Neben-Seher Jacinta und Francisco Marto an der Spanischen Grippe. Durch den frühen Tod der beiden lag die alleinige Deutung und Verfügung über die Botschaften der Gottesmutter nun bei Lucia Santos. Ab 1921 besuchte Lucia eine katholische Privatschule, wo sie lesen und schreiben lernte, ehe sie 1926 ins Kloster ging.

Dort wurde sie im Laufe der Jahre von ihren Beichtvätern und verschiedenen kirchlichen Autoritäten immer wieder aufgefordert, ihre Erinnerungen an die Ereignisse von 1917 “gewissenhaft bis ins Kleinste” aufzuschreiben. Und wann immer Lucia diesem Ansinnen nachkam, dichtete sie neue Details und “Botschaften” der Gottesmutter hinzu – von denen bei den zahlreichen Befragungen an den sechs Erscheinungstagen nie auch nur andeutungsweise die Rede gewesen war.

„Wir stehen vor einem geradezu klassischen Beispiel“, schrieb dazu der Theologe und Skeptiker Dr. Josef Hanauer, „wie durch anhaltendes Befragen und die eindringliche Beschäftigung mit einer Visionärin seitens geistlich-autoriativer Seite immer wieder neue geheimnisvolle Dinge von einer Phantastin produziert werden“.

Dazu gehören neben diversen “Engelserscheinungen”, die Lucia nun plötzlich schon 1915/1916 gehabt haben wollte, auch die drei berühmten “Geheimnisse” von Fatima, die Lucia zwischen 1941 und 1943 verfasste und auf die Erscheinungstage von 1917 zurückdatierte.

Der erste Teil umfasst eine Vision der Hölle, die als riesiges Flammenmeer „in der Tiefe der Erde“ beschrieben wird, darin sich „die Teufel und die Seelen“ befinden, „als seien sie durchsichtige schwarze oder braune glühende Kohlen in menschlicher Gestalt“. Skeptische Theologen erkennen in Lucias Höllenvision wenig Originelles und sprechen von einem „naiven Produkt übersteigerter Phantasie“.

Das Zweite Geheimnis von Fatima rankt sich, wie gesagt, um das Ende des Ersten und den Beginn des Zweiten Weltkriegs. Aber alle diese Ereignisse hatten zum Zeitpunkt der Niederschrift längst stattgefunden – auch das weithin sichtbare Nordlicht am 25. Januar 1938, welches Fatima-Anhänger als das besagte „unbekannte Licht“ deuten.

Peinlich, dass Lucia trotzdem sogar noch ein Fehler unterlief. Anscheinend war sie während der Arbeit am zweiten “Geheimnis” der Überzeugung, zu Kriegsbeginn habe noch Pius XI. regiert. Dieser war indes am 10. Februar 1939 gestorben. Beim deutschen Überfall auf Polen im September 1939 hieß der Papst Eugenio Maria Giuseppe Giovanni Pacelli alias Pius XII. Lucia redete sich später damit heraus, die Besetzung Österreichs 1938 sei bereits der eigentliche Beginn des Zweiten Weltkriegs gewesen. Was Historiker für baren Unsinn halten.

Den dritten Teil des „Großen Geheimnisses von Fatima“ schrieb Lucia 1943 und übergab diesen dem zuständigen Bischof der Diözese Leiria in einem versiegelten Umschlag. Von dort gelangte das Dokument später nach Rom. Erst 1960 sollte das „Dritte Geheimnis“ veröffentlicht werden. Warum? „Weil die heilige Jungfrau es so will“, erklärte Lucia.

Das wurde es aber nicht. Prompt schossen apokalyptische Spekulationen ins Kraut: Papst Johannes XXIII. sei über den Inhalt so entsetzt gewesen, dass er den Text unter Verschluss halte – in dem es angeblich um einen Krieg oder eine große Katastrophe gegen Ende des 20. Jahrhunderts gehe.

Vierzig Jahre lang tat sich nichts. Dann die Sensation: Während eines Besuchs von Papst Johannes Paul II. in Fatima im Mai 2000 gab Kardinal Angelo Sodano ohne Vorankündigung das dritte Geheimnis der Seherin Lucia Santos preis, die zu diesem Zeitpunkt noch am Leben war (sie starb 2005).

Vor dem Hintergrund der blutrünstigen Spekulationen nimmt sich der tatsächliche Inhalt banal aus: Es geht um einen weiß gekleideten Mann, der sich durch eine zerstörte Stadt schleppt und auf einem Hügel erschossen wird, zusammen mit Bischöfen, Priestern und anderen Personen. Engel sammeln das Blut ein. Über dieser Szenerie schweben die Jungfrau Maria und ein Engel mit einem Schwert, der mit lauter Stimme ruft: „Buße, Buße, Buße!“

Die vatikanische Kongregation für die Glaubenslehre und Papst Johannes Paul II. selbst blieben der Tradition der “Nachhersage” treu und deuteten diese Bilder auf „Geschehnisse, die nunmehr der Vergangenheit anzugehören scheinen“, wie etwa die Unterdrückung des Glaubens im Ostblock und das Papst-Attentat am 13. Mai 1981 in Rom.

Warum die späte Veröffentlichung des “Dritten Geheimnisses”, gegen die ausdrückliche Weisung der Gottesmutter? Darüber können wir nur spekulieren.

Nicht ganz unplausibel scheint indes die Vermutung, dass man die hofierte und umjubelte “Seherin” Lucia nicht blamieren wollte und deshalb abwartete, bis man das “Dritte Geheimnis” auf irgendetwas halbwegs Passendes hinbiegen konnte.

Die Geheimnisse von Fatima IV – Der Kommunismus

Der Papst ist mittlerweile in Fatima eingetroffen. Zu den Marienerscheinungen soll er sich bekannt salomonisch geäußert haben: Für ihn seien solche Visionen “keine Frage einer normalen äußeren Sinneswahrnehmung”, aber auch nicht bloß fromme Einbildung. Die Seele der Seher, so Ratzinger, werde “von etwas Realem berührt, auch wenn es jenseits der Sinne liegt”.

Nun ja, genau so hatten wir das Zustandekommen der “Erscheinungen” bereits weiter oben in Teil I erklärt.

Aber gehen wir weiter bei unserer skeptischen Erkundung: Am südlichen Zugang zum Sanktuarium in Fatima stößt man auf ein Betonteil der Berliner Mauer hinter Glas. Was hat es damit auf sich?

Der Aufstieg Fatimas zum kirchlich anerkannten “Erscheinungsort” und zu einem der größten Marienheiligtümer der katholischen Kirche ist eng mit der ihm zugeschriebenen weltpolitischen Bedeutung verbunden – gilt Fatima den Gläubigen doch als die „entscheidende Station auf dem Weg zur Rettung“, sprich: bei der ideologischen und praktischen Überwindung des „atheistischen Marxismus“. Der Regensburger Bischof Rudolf Graber schrieb: „Fatima ist die Antwort des Himmels an Moskau“. Und auf der Webseite Fatima prophetisch lesen wir: „Am 13. Juli 1917 spricht die Gottesmutter eindeutig vom Ende des staatsgetragenen Atheismus, auch wenn dieser für eine längere Zeit seine Herrschaft über Völker und Kontinente ausbreiten wird. Und sie legte es in unsere Hände, an der Befreiung aus dem diktatorischen Joch des Atheismus mitzuwirken: Wenn man auf meine Worte hört, wird Russland sich bekehren und es wird Friede sein, wenn nicht, wird es seine Irrlehren über die Welt verbreiten, wird Kriege und Kirchenverfolgungen heraufbeschwören; die Guten werden gemartert werden, der Heilige Vater wird viel zu leiden haben, verschiedene Nationen werden vernichtet werden." Nimmt man diese Sätze einzeln, so fällt auf, dass die Gottesmutter den Sieg des Glaubens über den Atheismus (was wohl unter ,Russland’ zu verstehen ist) an die Weihe Russlands durch die Kirche bindet.”

Wie schon weiter oben in Teil I und Teil III dargelegt, hatte die “Erscheinung” an allen sechs Erscheinungstagen von Mai bis Oktober 1917 weder zukünftige Ereignisse vorhergesagt noch den Kommunismus gegeißelt. Es ging in den “Botschaften” an die drei Seherkinder um nichts weiter als um die Aufforderung, den Rosenkranz für die Beendigung des Ersten Weltkriegs zu beten.

Die Rolle Fatimas beim Kampf der Kirche gegen den Kommunismus ist eine nachträgliche Konstruktion – und muss in unmittelbarem Zusammenhang mit der Geschichte Portugals sowie der persönlichen Lebensgeschichte der Haupt-”Seherin” Lucia Santos betrachtet werden.

Seit dem Ende der Monarchie im Jahr 1910 befand Portugal sich praktisch permanent im Ausnahmezustand. Innerhalb weniger Jahre wechselten sich insgesamt 45 instabile Regierungen in rascher Folge ab. Und fast immer ging es dabei um harte Auseinandersetzungen zwischen klerikalen und antiklerikalen Kräften, also zwischen Katholiken und Sozialisten.

Schon zu einem sehr frühen Zeitpunkt wurde der Versuch unternommen, die “Marienerscheinungen” von 1917 politisch zu instrumentalisieren. Konkret bereits im Dezember desselben Jahres. Nach einem Putsch in Lissabon übernahm eine prokatholische Militärjunta die Macht im Land – wenn auch nur für ein Jahr. Eine Zeitung schrieb dieses Ereignis prompt der „mütterlichen Hilfe der Jungfrau für unser Vaterland“ zu. Auch ein deutscher Theologe äußerte sich dazu wie folgt: „Das portugiesische Volk wurde durch die Ereignisse von Fatima so erschüttert, dass schon wenige Wochen später der konservative Führer Sidónio Pais seinen Staatsstreich wagen konnte.“

Weniger schwärmerisch veranlagte Gemüter sehen die Sachlage etwas anders: „Die einen sind der Meinung, dass man eine authentische Erscheinung der Jungfrau Maria zur Rechtfertigung eines Putsches von rechts ausnützte“, hat die Historikerin Monika Hauf recherchiert. „Andere halten sogar die Erscheinung an sich für ein geschicktes Machwerk der Klerikalen.“

Wie auch immer: Fraglos wurde die “Seherin” Lucia Santos durch die anhaltenden politischen Kämpfe und die Kommunistenangst der Kirche in ihrer Heimat tief geprägt. Eine direkte Verbindung zu den “Erscheinungen” von 1917 stellte sie nachweislich erst 1930 her. Zu diesem Zeitpunkt nämlich erreichte Schwester Lucia im Kloster zu Tuy eine Anfrage ihres ehemaligen Beichtvaters José Bernardo Gancalves: Inwieweit die angebliche “Bitte der Gottesmutter um die Praxis der Sühneandacht zu ihrem Unbefleckten Herzen” etwas mit der Kirchenverfolgung in der Sowjetunion zu tun haben könnte?

Gancalves bezog sich in seinem Brief auf eine Äußerung Lucias von 1926, nach der die Gottesmutter bei den Erscheinungen von 1917 die Verehrung des „Unbefleckten Herzens Mariens“ in Form einer besonderen Andacht gefordert habe, die die Versöhnung der Menschheit mit Gott bewirken könne. Außerdem erfand Lucia in diesem Zusammenhang eine „Sühnekommunion“ jeweils am ersten Samstag von fünf aufeinander folgenden Monaten.

Als Kritiker sie darauf hinwiesen, dass diese „Offenbarungen“ nahezu identisch seien mit den Visionen einer französischen Nonne namens Margareta Maria Alacoque im 17. Jahrhundert, antwortete Lucia: „Ich kann doch nicht der Mutter Gottes vorschreiben, wie sie sich ausdrücken muss.“

Anscheinend ließ Gancalves sich von solchen Merkwürdigkeiten nicht weiter beirren und ersuchte Lucia um Rat bezüglich der Situation in der Sowjetunion. Lucia antwortete zögerlich:

Wenn ich mich nicht täusche, verspricht der gute Herrgott die Verfolgungen in Russland zu beenden, wenn der Heilige Vater zusammen mit allen Bischöfen der katholischen Welt einen feierlichen und öffentlichen Akt der Wiedergutmachung und der Weihe Russlands an die Heiligsten Herzen Jesu und Mariens durchführen würde.”

Damit hatte Lucia endgültig ihr Thema gefunden. Von 1930 an gingen Lucias persönliche Befindlichkeiten (das heißt: ihre seelisch-mystische Entwicklung während des Erwachsenwerdens im Kloster) eine Union mit dem neuen Kreuzzugsgedanken Roms gegen den „gottlosen Bolschewismus“ ein. Das Wissen um Katholikenverfolgungen in der Sowjetunion war seit der sogenannten Oktoberrevolution im November 1917 verbreitet. Pius XI. sprach in einem päpstlichen Schreiben gar von „Terror in Russland“ und von einem „Wendepunkt im Kampf aller Kulturvölker gegen den Bolschewismus“. Auch die Idee der Landesweihe an das Herz Jesu beinhaltete nichts Neues und diente seit jeher der religiösen Revitalisierung.
Da Lucia bereits grundsätzlich das Thema einer Sühneandacht zum Unbefleckten Herzen auf 1917 zurück datiert hatte, lag es nahe, die Forderung der Gottesmutter nach einer Weihe Russlands nun ebenfalls den Marienerscheinungen von 1917 zuzuschreiben. Und damit erhielt Fatima 13 Jahre nach den “Erscheinungen” ganz unvermittelt eine zusätzliche Dimension: als “Bollwerk gegen den Kommunismus”.

1936 wurde Portugal (und damit auch Schwester Lucia) erneut unmittelbar mit Kriegserfahrungen konfrontiert: Die Portugiesen kämpften an der Seite von Francos Nationalisten im Nachbarland Spanien gegen die Kommunisten. Die Bischöfe Portugals gelobten am 13. Mai in Fatima, eine große nationale Dankeswallfahrt zu veranstalten, wenn Portugal vor kommunistischer Herrschaft bewahrt bleibe. Derweil drängten Lucias Berater die nationalen Oberhirten dazu, die Bitte Lucias bezüglich der Weihe Russlands dem Papst in Rom zu übermitteln. Noch ohne Erfolg.

Erst im Jahr 1942 überschlugen sich die Ereignisse. Lucia schrieb das Zweite Geheimnis von Fatima nieder, in dem es unter anderem heißt: „Wenn man aber nicht aufhört, Gott zu beleidigen, wird unter dem Pontifikat von Papst Pius XI ein anderer, schlimmerer beginnen. Wenn ihr eine Nacht von einem unbekannten Licht erhellt seht, dann wisst, dass dies das große Zeichen ist, das Gott euch gibt, dass Er die Welt für ihre Missetaten durch Krieg, Hungersnot, Verfolgungen der Kirche und des Heiligen Vaters bestrafen wird. Um das zu verhüten, werde ich kommen, um die Weihe Russlands an mein unbeflecktes Herz und die Sühnekommunion an den ersten Samstagen des Monats zu verlangen.
Wenn man auf meine Wünsche hört, wird Russland sich bekehren und es wird Friede sein. Wenn nicht, wird es seine Irrlehren über die Welt verbreiten, wird Kriege und Kirchenverfolgungen heraufbeschwören. Die Guten werden gemartert werden, der Heilige Vater wird viel zu leiden haben, verschiedene Nationen werden vernichtet werden, am Ende aber wird mein Unbeflecktes Herz triumphieren. Der Heilige Vater wird mir Russland weihen, das sich bekehren wird, und der Welt wird eine Zeit des Friedens geschenkt werden.”

Offenkundig sah Lucia – historisch unhaltbar – eine ursächliche Verbindung zwischen dem Spanischen Bürgerkrieg und dem Zweiten Weltkrieg beziehungsweise der Rolle Russlands in beiden Konflikten. Und augenscheinlich vermischten sich nun bei ihr lokale und nationale Ängste und Erfahrungen bezüglich des Kommunismus mit den aktuellen globalen Kriegshandlungen.

An den Widersprüchen im „Zweiten Geheimnis“ von Fatima nahm indes kaum jemand offen Anstoß: Erstens ist das „Geheimnis“ gar kein Geheimnis, denn die wesentlichen Inhalte hatte Lucia schon 1930 verlautbart. Zweitens erscheint es hinreichend sinnlos, ein vom Himmel verheißenes Mittel zur Verhinderung des Zweiten Weltkriegs (nämlich die Weihe Russlands an das Unbefleckte Herz) erst retrospektiv zu offenbaren, drei Jahre nach Kriegsausbruch.

Egal, denn der Fatima-Kult lieferte seinen zahllosen Anhängern eine religiös aufbereitete Sinndeutung des Zweiten Weltkriegs als „Geißel Gottes“ für die entartete Menschheit, verbunden mit der Verheißung, durch gemeinsames rituelles Handeln von Volk und Kirche künftige Strafen aufheben zu können, und legitimiert durch die Verheißung der Himmelskönigin: „Am Ende wird mein Unbeflecktes Herz triumphieren.“

Papst Pius XII. vollzog denn auch am 31. Oktober und am 8. Dezember die „offizielle und feierliche Weihe des Menschengeschlechts an das Unbefleckte Herz Mariens“. Russland sei darin eingeschlossen. Der Krieg ging unvermindert weiter. Lucia erklärte, der Akt sei nicht gültig, weil die Zeremonie „nicht mit allen Bischöfen gleichzeitig“ vollzogen worden sei. Später sagte sie, Maria habe nicht die Weihe der Welt, sondern explizit die Weihe Russlands verlangt.

Papst Paul VI. erneuerte die Weihe an das Unbefleckte Herz zum Abschluss der dritten Sitzungsperiode des Zweiten Vatikanischen Konzils. Selbiges geschah unter Papst Johannes Paul II. 1982 in Fatima, 1983 in Rom und 1984 erneut in Rom. Stets erklärte Lucia Santos im Anschluss, die Weihe sei wegen verschiedener Formfehler nicht vollzogen.

Nach dem Zusammenbruch des Ostblocks 1990 jedoch bejubelten die Fatima-Anhänger endlich den ersehnten Erfolg der Weihe. Zu was genau sich die Sowjetunion nun „bekehrt“ haben soll, bleibt indes völlig unklar.

„Von der Vereinigung der orthodoxen Kirchen mit der katholischen sind wir heute genauso weit entfernt wie 1917“, merkt Monika Hauf nüchtern an. Auch habe die Auflösung des Warschauer Pakts das Gefühl des Friedens und der Sicherheit auf der Welt keinesfalls erhöht. Und von irgendeiner Form religiösen Aufbruchs in Russlands ist ebenfalls nichts zu sehen.

Der mittlerweile verstorbene Regensburger Theologe und Aberglaubenaufklärer Dr. Josef Hanauer führte diesen Gedanken fort: „Mehr als siebzig Jahre lang hat die Welt gebetet und gebüßt. Es war nicht umsonst. Russland hat sich bekehrt und in der Welt herrscht seitdem eitel Friede. Wenigstens die Fatima-Freunde glauben es. Vielleicht.“

Zum Weiterlesen:
• “Die Geheimnisse von Fatima”, Skeptiker Nr. 2/2010
• Hanauer, J. (1996): Muttergottes-Erscheinungen: Tatsachen oder Täuschungen? Karin Fischer Verlag, Aachen
• Scheer, M. (2006): Rosenkranz und Kriegsvisionen.
• Tübinger Vereinigung für Volkskunde e.V.

Veröffentlichung mit freundlicher Genehmigung des gwup-blogs