Beeindruckend und verstörend: ERUV – The Wire

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Kai Wiesinger © Udo Ungar

MASTERSHAUSEN. (hpd) Der bekannte deutsche Schauspieler Kai Wiesinger war die Attraktion der 44. Postmatinee im Haus am See. Er präsentierte seinen prämierten, leisen und verstörenden Dokumentarfilm „ERUV - The Wire“ über bizarr wirkende Erscheinungsformen des Glaubens. Anschließend sprach er mit Michael Schmidt-Salomon und dem Publikum über die Entstehung des Films und Schwierigkeiten des multikulturellen Miteinanders.

 

Kai Wiesinger wirkte in über 40 Filmen mit, zum Beispiel in „Kleine Haie“, „Stadtgespräch“, „14 Tage lebenslänglich“ oder „Comedian Harmonists“. 2004 entstand „ERUV – The Wire“, sein bislang zweiter Film als Regisseur. Obzwar der Film auf mehreren jüdischen Filmfestivals lief und bereits 2004 mit dem „Internationalen Planet Dokumentarfilmpreis“ ausgezeichnet wurde, war er bis heute nicht im deutschen Fernsehen zu sehen. Daher handelte es sich (fast) um eine Premiere, als der 44jährige seinen Film am Sitz der Giordano-Bruno-Stiftung einem eher religionskritischen Publikum zeigte.

Eruv ist ein Draht, ein Sabbatzaun, der um ein Terrain gespannt wird, damit dieses zum quasi privaten Raum wird. So können sich orthodoxe Juden am Sabbat innerhalb dieses Raums anders verhalten als sie es sonst im „öffentlich – öffentlichen“ Raum müssten. Anscheinend gibt es den Eruv in der jüdischen Tradition seit 3300 Jahren, vor 1800 Jahren wurde er erstmals schriftlich niedergelegt. Juden dürfen am Sabbat nichts tragen, wenn sie sich nicht innerhalb des intakten Eruv befinden. Der Draht verläuft auf eine bestimmte Art entlang und auf den Telefonleitungen, so dass er auch ein größeres Gebiet umspannen kann. Eruvs gibt es in vielen Städten der Welt, so in Wien, London oder Jerusalem, in den USA gibt es wahrscheinlich Hunderte.

Wie ein Draht das Leben verändert

Wiesingers Panama-stämmige Schwiegerfamilie lebt in Teaneck, einer Kleinstadt nördlich von New York. Teaneck ist eine Gemeinschaft, in der viele verschiedenartige Menschen leben, wobei ein Drittel der Bevölkerung jüdisch und die Hälfte dieser Juden orthodoxe Juden sind – damit sind nach Schätzungen eines Gesprächspartners im Film ein Sechstel der Stadtbewohner Orthodoxe. Da sich die Nachbarschaft und das Schulsystem in den 15 Jahren zuvor wegen der Orthodoxen und ihres Eruvs zusehends verändert hatten und sich daher Ressentiments der anderen Stadtbewohner entwickelten, begann Wiesinger sich für diesen Draht, Eruv, zu interessieren.

Der Filmemacher nähert sich seinen Gesprächspartnern stets mit offenem, wachem Blick, er lässt die Menschen sprechen und bezieht keine Stellung. Der Film ist sehr ruhig, zeigt die Orthodoxen während ihrer Riten, beim Essen, Händewaschen, dem Anzünden der Kerzen und lässt sie erzählen, welche Konsequenzen der Eruv für ihr Leben hat. Der Rabbi erklärt, er sei sehr froh, dass er am Sabbat nicht arbeiten dürfe, sondern Zeit für andere Dinge des Lebens hätte, denn das verhinderten die Regeln des Sabbat. Auch wenn es sich bloß um einen Draht handele – es gebe Regeln, es gebe Vorschriften, um die Unantastbarkeit des jüdischen Glaubens zu bewahren. Auf Hebräisch bedeute der Begriff: Mischung, süß, dass nunmehr zwei Bereiche vermischt würden, so dass Menschen, die ohnehin tragen, in einer Weise tragen können, die nicht gegen jüdische Gesetze verstoße. Denn Tragen ist eine Form von Arbeit. Da selbst Babys am Sabbat nicht getragen werden dürfen, nicht einmal im Kinderwagen, müssten die Mütter ohne den Eruv an diesen Tagen zu Hause bleiben. Selbst das plötzlich bemerkte, versehentliche Tragen von Taschentüchern in der Hosentasche kann Gläubige in die Bredouille bringen. Auch der Haustürschlüssel fällt unter die Regelung. Doch gibt es Schlupflöcher, indem beispielsweise der Haustürschlüssel zum Schmuckstück konvertiert wird, der um den Hals oder als Brosche getragen werden kann: Sabbat Schlüssel.

Im Talmud finden sich zahlreiche Illustrationen mit komplizierten Messverfahren, mit deren Hilfe die Vorschriften ordnungsgemäß erfüllt werden können. Eine der Befragten erzählt, sie fühle die Liebe Gottes in all den verschiedenen Regeln, die ihnen auferlegt worden seien. Beschränkungen und Gesetze werden als Gelegenheiten angesehen, das Richtige zu tun. Alles, was man tut, erhält eine Bedeutung, selbst der Gang auf die Toilette kann so zum heiligen Ereignis werden.