Heime unterm Hakenkreuz – Verdrängt?

Heimkinder und schwarzer Winkel - ein (verdrängtes) Problem?

Das "Reichsbürgergesetz" vom 15. September 1935 (RGBl. I, S. 1146), das zu den so genannten "Nürnberger Rassengesetzen" gehört, bestimmte, dass nur die Deutschen, die sich des Deutschtums würdig erweisen, die Reichsangehörigkeit besitzen können. Zu den Reichsangehörigen wurden Deutsche mit unerwünschtem Verhalten nicht gerechnet. In ihnen wurden Personen gesehen, von denen eine nachhaltige Gefährdung oder soziale Beeinträchtigung der Volksgemeinschaft ausging. Da ihnen ein Treuebruch gegenüber dem deutschen Volk unterstellt wurde, galten sie als Reichsfeinde, d. h. als Volks- und Staatsfeinde. Allgemein wurde diese Gruppe mit dem Namen "Gemeinschaftsfremde" belegt. Sie wurden rechtlich schlechter gestellt und galten aufgrund eines unterstellten biologischen Defekts als rassisch minderwertig.

Vor diesem Hintergrund wandelte sich die Fürsorge im Dritten Reicht zur "Minderwertigenfürsorge". Dies betraf nicht nur Erwachsene, sondern auch Kinder, vor allem jene, die sich in Kinderheimen und Fürsorgeanstalten befanden. Allgemein wurden zahlreiche Personen, die als gemeinschaftsfremd bezeichnet wurden, in Konzentrationslager eingeliefert und mit dem "schwarzen Winkel" markiert.

Die Nationalsozialisten betrachteten ein soziales Fehlverhalten nicht als eine individuell zurechenbare Tat, sondern als Ausdruck eines biologischen Defekts, und zwar eines biologischen Defekts, der vererbbar sei. Bei sozial auffälligen Personen wurde der familiäre Hintergrund zum Anlass genommen, auch die Kinder als erbbiologisch belastet anzusehen. Jugendliche über 14 Jahren, die angeblich erbbiologisch geschädigt seien, wurden nach dem "Gesetz zur Verhütung erbkranken Nachwuchses" vom 14. Juli 1933 (RGBL. I, S. 529-531) zwangssterilisiert. Man geht davon aus, dass ebenfalls etwa 6 % der Fürsorgezöglinge von diesem Schicksal betroffen waren. Aufgrund der Praxis der Aussonderung von "unerziehbaren" Kindern aus der Fürsorgeerziehung und ihre Einweisung in psychiatrische Anstalten, wurden diese mitunter auch Opfer der Euthanasie. Das Zusammenspiel der Heime mit psychiatrischen Anstalten ist in diesem Zusammenhang völlig unaufgeklärt. Auch Kinder aus jüdischen Waisenhäusern wurden schlicht für unerziehbar erklärt und in Konzentrationslager gebracht (siehe etwa Theodor-Rothschild-Haus in Esslingen).

„Jugendschutzlager“

Jugendliche in den Fürsorgeanstalten waren aber nicht nur von der Sterilisation bedroht, sondern auch von der Einweisung in ein Konzentrationslager. In diesem Punkte konnte sich Heinrich Himmler gegen Widerstände schließlich durchsetzen. Er glaubte nicht an die Erziehbarkeit sozial auffälliger Jugendlicher, sondern forderte die Überstellung dieser Jugendlichen in seinen Zuständigkeitsbereich. Bei jugendlichen Straftätern, wo "die Einordnung in die Volksgemeinschaft" nicht zu erwarten sei, soll der Jugendliche der Polizei zur Aufnahme in ein Jugendschutzlager überstellt werden. ("Reichsführer Himmler ... habe den Wunsch, Jugenderziehungslager einzurichten, da nach seinen Beobachtungen die Einrichtungen der Fürsorgeerziehung nicht zum Ziel führen." ("Niederschrift über die Besprechung vom 1.2.40 über Fragen der Jugendbetreuung", in Bundesarchiv Berlin, Reichsjustizministerium, R 3001 / alt R 22, Nr. 1189, Bl. 84-92, hier Bl. 89)). Hinzu kommt, daß der Reichjustizminister schließlich alle als "asozial" bezeichneten Personen aus dem Strafvollzug an Himmler auslieferte. In den Konzentrationslagern stießen die "Asozialen" in der Regel auf starke Ablehnung durch die übrigen Insassen.

Die Aufgabe der Jugenderziehungslager oder Jugendschutzlager beschreibt Paul Werner vom Reichssicherheitshauptamt in einer Stellungnahme: "Aufgabe der Lager ist es nun, die eingewiesenen Lagerzöglinge auf ihre Erziehbarkeit zu sichten, die noch erziehbar erscheinenden mit geeigneten Mittel zu erziehen, um sie vielleicht doch noch für die Volksgemeinschaft zu gewinnen oder zurück zu gewinnen, und die unerziehbaren bis zu ihrer endgültigen Überführung in ein Konzentrationslager oder in andere Einrichtungen zu verwahren unter größtmöglicher Ausnutzung ihrer Arbeitskraft. (Paul Werner, "Die Einweisung in die polizeilichen Jugendschutzlager", in Roland Freisler (Hrsg.), Deutsches Jugendrecht. Heft 4. (Berlin 1944), Seite 95-106, hier Seite 98). Von dem Jugenderziehungslager Uckermark für weibliche Insassen ist bekannt, dass hier auch Mädchen und junge Frauen aus Fürsorgeerziehungsheimen als unerziehbar eingeliefert wurden. Gleiches gilt für männliche Jugendliche, die ins Jugendschutzlager Moringen kamen. Im schlimmsten Falle kamen sie von hieraus in ein Konzentrationslager. In diesen Zusammenhang gehört dann auch die Anweisung Hitlers, daß Zöglinge, die mit Vollendung des 19. Lebensjahres aus den Fürsorgeheimen zu entlassen waren, bei denen aber die Erziehung nicht angeschlagen habe, nicht frei zu lassen seien. "[…] sie sollen ohne weiteres sofort auf Lebenszeit ins Konzentrationslager kommen. (...) Der Führer wünscht, daß solche minderwertigen Subjekte nicht erst aus der Fürsorgeerziehung entlassen, sondern sofort in ein Konzentrationslager auf Lebenszeit überführt werden." (Karl Heinz Jahnke und Michael Buddrus, Deutsche Jugend 1933-1945: eine Dokumentation. (Hamburg: VSA-Verlag, 1989), S. 339).

Wie viele ehemalige Heimkinder und Fürsorgezögling auf diese Weise in ein Konzentrationslager kamen, ist nicht bekannt. Für den Fall, dass sie nicht einer anderen Gruppe aufgrund eines bestimmten Merkmals zugeordnet wurden, dürften sie sich in der Gruppe wiedergefunden haben, die den "schwarzen Winkel" trug. Um die Gruppe des "schwarzen Winkel" hat sich die Aufarbeitung von NS-Unrecht bisher wenig gekümmert. Das hier soziale Vorbehalte gegen Randgruppen einen Rolle spielen, darf als sicher geltend. Die Gruppe des "schwarzen Winkels" ist aber keineswegs eine homogene Gruppe. Gerade deshalb müsste es von großem wissenschaftlichen Interesse sein, biographisch und soziologisch genauer zu analysieren, wer zu dieser Gruppe gerechnet wurde, vor allem auch deswegen, um die Konsequenzen einer verfehlten Sozialpolitik sichtbar zu machen.

Dass der NS-Staat auch ehemalige Fürsorgezöglinge ins Konzentrationslager steckte, die schon mehrere Jahre die Anstalt hinter sich gelassen hatten, das könnte am Beispiel von Wilhelm Ehlers (1904-1945) zu belegen sein. Er ist derjenige, der den "Ricklinger Fürsorgeprozeß" angestoßen hat. Als Ehlers am 18. Mai 1945 in Osterode am Harz verstarb, fand man unter seinen persönlichen Sachen auch einen KZ-Lagerausweis (Sarah Banach, Der Ricklinger Fürsorgeprozess 1930. Evangelische Heimerziehung auf dem Prüfstand. (Opladen & Farmington Hills: Barbara Budrich Verlag, 2007) (Frauen- und Genderforschung in der Erziehungswissenschaft, 5), Seite 27). Dieser Fall könnte dazu anregen, auch wenn die Forschungslage dadurch schwierig ist, dass viele Akten aus der NS-Zeit in den Heimen und Fürsorgeanstalten verschwunden sind, anhand biographischer Hinweise in anderen Akten, etwas Licht in das Dunkel zu bringen, das über den Heimkindern der NS-Zeit noch immer liegt.

 

Mit freundlicher Genehmigung von top-medien-berlin

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