CELLE. (hpd) Herbert Gerl, emeritierter Professor des Instituts für Humanistische Pädagogik in Schule und Weiterbildung (HPSW), hat für das fowid-Textarchiv einen weiteren Artikel geschrieben, „Eine Zen-Perspektive für lebenslanges Lernen“.
Vor ein paar Monaten folgte Herbert Gerl mit seinem Artikel: „Wohin mit den toxischen Papieren?“ einer Feststellung von Nietzsche, dass alle Religionen ihre Herkunft einer frühen unreifen Intellektualität verdanken und heute - so aufgeklärt wie sie zum Teil sind - ein Problem mit diesen alten Schriften haben, denn einfach verschwinden lassen kann man diese grundlegenden Texte ja nicht. Sein „lerntheoretischer Blick auf alte Lasten und neue Risiken im Prozess der Zivilisierung des christlichen Monotheismus“ entschlüsselte einige der Kommunikationsstrategien der Kirchen.
Nun hat er einen weiteren Text geschrieben, der jetzt im fowid-Textarchiv veröffentlicht wurde: „Selbsterfindung und Abschied vom Ich“ mit dem Untertitel: „Eine Zen-Perspektive für lebenslanges Lernen“.
In seiner „Skizze“ will er einige Hinweise geben auf eine spezifische Art zu denken, zu empfinden und zu handeln, die sich von unseren westlichen, im Kern jüdisch-christlich geprägten Vorstellungen und Handlungsmustern unterscheidet; sich allerdings am Ende - d. h. da, wo durch Aufklärung und einen Akt der „Selbstaufhebung“ (Nietzsche) christlicher Glaube und seine metaphysische Weltsicht zu Ende gegangen sind - doch in mancherlei Hinsicht mit dem berührt, was in den elaborierten Humanwissenschaften heute an Einsichten über den Menschen, sein Weltverständnis und die Logik seines Handelns und Verhaltens festgehalten werden kann.“
In den Abschnitten „Was ist Zen?“ und „Was ist Meditation?“ nähert er sich in aller aufklärerischen Behutsamkeit diesen Fragen, um über das Thema „Dualismus von Subjekt und Objekt und die Möglichkeit nondualer Erfahrung“ zu „Nonduale Erfahrung und der Abschied vom Ich“ zu kommen.
Es geht um das Verlassen des Standpunktes einer christlichen Moral, denn es „(...) fällt christlich orientiertem Denken, ja selbst nachchristlichen (freilich die Struktur solchen Denkens immer noch in sich tragenden) Vorstellungen schwer, solche Aussagen richtig zu verstehen. Hier werden in einer souveränen Weise vorgefertigte Schemata einer moralischen Interpretation menschlichen Tuns zurückgewiesen. Es geht demzufolge bei diesem Tun gar nicht vorrangig um Gut oder Böse, um Sollen oder Nicht-Sollen, um das Erfüllen moralischer Vorgaben. Eine sich in den Vordergrund schiebende moralische Perspektive verhindert gerade das, was hier für menschliches Handeln entscheidend ist: seine Realitätsangemessenheit; d. h. eine möglichste, weder durch Ge- noch durch Verbote behinderte, weder durch Konventionen noch durch Traditionen oder Ideologien beeinträchtigte Genauigkeit der Wahrnehmung von Realität. Erst dann kann sich von selbst zeigen, was zu tun ist. Erst wenn die Verblendungen beseitigt sind, stellt sich ein Können ein. Erst dann bin ich in der Lage, das Richtige zu tun: das, was der Wirklichkeit entspricht.“
Unterwegs
„Wo liegen die eingangs erwähnten Konvergenzen zwischen dem Zen-Weg und westlicher „aufgeklärter“ Einsicht in die Grundstrukturen unserer Psyche und ihres Umgangs mit Realität? Sie liegen genau da, wo eine „humanistische“ Psychologie versucht, mit möglichster Genauigkeit zu beschreiben, wie Menschen, die sich „psychologischer Gesundheit“ erfreuen - offenbar nur selten anzutreffende Exemplare unserer Spezies - ihr Leben organisieren und mit ihrer Mitwelt umgehen.“
Auffallend an solchen psychisch gesunden Menschen ist
• ihre „bessere Wahrnehmung der Realität“,
• ihre größere „Selbstakzeptierung“,
• ihre „Autonomie“ und „Individualität“ in Bezug auf ihre ethischen Maßstäbe,
• ihr deutlich „problemorientierter und nicht ich-orientierter“ Denkstil, und
• ihr Verhältnis zur Religion.
Und wozu das Ganze?
Nachdem ich den Text gelesen hatte, fragte ich mich sofort: „Und wozu das Ganze?“, merkte, dass ich wieder in die reflexive Schleife des Rückbezuges und der Verwertbarkeit geraten war, und musste lauthals über mich selber lachen. Das schrieb ich Herbert Gerl. Seine Antwort:
„Dass Sie nach der Lektüre meines Textes herzlich gelacht haben, empfinde ich als schöne Bestätigung meiner Arbeit. Das ist, wie ich denke, das beste Ergebnis, das philosophische Überlegungen überhaupt erzielen können. Ich bin also sehr zufrieden.“
Nun hatte ich aber doch Einwände, denn war es denn nicht evolutionsbiologisch eine größere Überlebenswahrscheinlichkeit, ständig Kausalzusammenhänge herzustellen, als sie einfach zu ignorieren. Wenn es im Gebüsch knackte, war es vermutlich sinnvoller gewesen, auf einen Baum zu klettern, als vom möglicherweise anschleichenden Säbelzahntiger aufgefressen zu werden?
„Die Evolutionsbiologen haben sicher recht: wenn es im Busch knackt, sollte man vorsichtshalber auf den Baum klettern. Dagegen ist auch aus der Zen-Perspektive nichts zu sagen (auch wenn die Zen-Leute sicher sagen würden, dass es kein Drama ist, aufgefressen zu werden). Trotzdem: überlegtes Handeln aufgrund von Wahrnehmungen/Erfahrungen ist allemal richtig. Problematisch, oft auch schädlich wird Handeln, wenn es sich von Wahrnehmungen abkoppelt und aufgrund bloßer Vorstellungen agiert: Ich klettere auf den Baum, weil mir heute die Götter übel gesonnen sind (weil das ein Priester aus den Eingeweiden gelesen hat usw.).Die Wahrnehmung des Knackens ist eine gute Handlungsgrundlage, der Glaube an das Priesterwort nicht. Das Christentum hat in einem unerhörten Ausmaß gerade die Wahrnehmungen und Erfahrungen der Menschen der Missachtung ausgesetzt und durch selbstgemachten Hokuspokus zu ersetzen versucht.“
Kann denn aber diese Perspektive überhaupt im Alttag realisiert werden?
„Der berufliche Konkurrenzkampf (soweit ich ihn kenne) hat natürlich auch viel mit Hokuspokus zu tun und wer dies als Betroffener sieht und erkennt, muss zusehen, dass er daran nicht verzweifelt. Zen forderte, wie Watts (1990, S. 66f.) ausführt, ursprünglich dazu auf, "in einem bestimmten Alter, nach Erfüllung der familiären und bürgerlichen Pflichten, das konventionelle Leben preiszugeben", als "sichtbares Zeichen für die Erkenntnis, dass der wahre Zustand 'klassenlos' ist, dass die eigene Rolle oder Person lediglich konventioneller Art ist und dass man seiner wahren Natur nach nicht-etwas (nichts) und nicht-jemand (niemand) ist". Wie weit man sich, noch im Berufsleben, dieser konventionellen Verhaltensweisen grundsätzlich entledigen kann, ist eine schwierige Frage. Da ist wahrscheinlich schon viel gewonnen, wenn man sowohl dem Märtyrertum wie auch dem Selbstbetrug ausweichen kann.“
Herbert Gerl: „Selbsterfindung und Abschied vom Ich - Eine Zen-Perspektive für lebenslanges Lernen“.
C.F.