Dr. Leo Igwe ist Gründer der Humanist Association of Nigeria und ist auch Vorstandsmitglied von Humanists International. In einem vom hpd übersetzten Artikel erklärt er die Grundlagen des Humanismus in seinem Heimatland Nigeria.
Wie in anderen Gesellschaften Afrikas ist auch in Nigeria der Humanismus seit jeher präsent. Mit Auftauchen des Homo sapiens trat auch der Humanismus in Erscheinung. In jedem Aspekt und jeder Facette von Leben und Gesellschaft zeigt sich die humanistische Weltanschauung. Die Welle der Vernunft und der fortschreitenden Emanzipation des menschlichen Geistes verbreitet sich in der Gesellschaft. Humanistische Tendenzen gab es bereits vor der Entwicklung von Religion und Theismus, wie wir sie heute kennen. Der humanistische Geist befindet sich in stetiger Auseinandersetzung mit antihumanen, vorsintflutlichen Kräften, den lähmenden und schädlichen Strömungen übernatürlicher und abergläubischer Ideologien. Der folgende Beitrag betrachtet die Besonderheiten dieser Auseinandersetzung und zeigt, welche Perspektiven sich aus der Verortung des Humanismus im Nigeria des 21. Jahrhunderts ergeben.
Traditionelle übernatürliche Vorstellungen
Nigeria als politisches Gebilde wurde von britischen Kolonialisten geschaffen, und dieser äußere Einfluss hat das Land nachhaltig geprägt. Davor war das Gebiet, das heute als Nigeria bekannt ist, von Gesellschaften und Gruppen bevölkert, die durch gemeinsame Sprachen und Kulturen miteinander verbunden waren. Sie hatten eigene Gesetze, Normen und Traditionen, ihren rituellen Glauben und eigene Praktiken, etwa den Glauben an Götter und Ahnen. Sie hatten Geister, die sie anbeteten und verehrten, um dem Dasein und Alltagsleben einen Sinn zu verleihen. Mit ihrem geringen Wissen über die Natur und ihre Zusammenhänge schufen die Menschen Götter; sie gingen vom Vorhandensein übernatürlicher Kräfte aus und dass sie eine Rolle in ihrem Leben spielten, bei der Organisation ihrer Gesellschaften ebenso wie beim Umgang mit Glück und Unglück.
Bei Religion und Theismus handelt es sich also um spätere Entwicklungen. Götter sind Erfindungen, Ideen und Neigungen, die der Mensch als Teil seiner sozialen Existenz entwickelt hat. Einige Personen, die aufgrund von Ausbildung oder Abstammung Anerkennung genossen, leiteten die Gesellschaften als Experten und Spezialisten in Glaubensfragen. Sie wurden konsultiert, beauftragt oder unter Vertrag genommen, um die Götter zu verehren oder zu befragen beziehungsweise im Namen der Menschen das Unergründliche und Geheimnisvolle zu enträtseln. So schufen die Menschen Götter und Gottheiten, die ihren Anliegen und ihrer Entwicklung, dem Glück und dem Wohlergehen dienlich und förderlich sein sollten. Sie riefen das vermeintlich Übermenschliche an, um Krankheiten zu heilen, Dürren und Hungersnöte zu beenden und andere Übel zu lindern, bei denen die bekannten, üblichen Maßnahmen versagten.
Darüber hinaus instrumentalisierte man Religion und Götter, um andere Menschen zu unterdrücken und die eigene Macht zu behaupten. Der Gottesglaube wurde verwendet, andere zu betrügen, zu täuschen, auszubeuten, zu erpressen, zu enteignen und zu verletzen. Der Ahnenglaube diente als Vorwand, um Menschen zu ermorden, zu verstümmeln und zu vernichten. Menschen traten als Götter auf, als Gott des Flusses, des Donners, des Eisens und der Ernte, und gaben sich als deren Boten und Sprachrohr aus. Diese selbst ernannten Gottesmänner und -frauen heiligten Gewalt und Blutvergießen. Sie brachten Menschen dazu, andere, darunter auch ihre Verwandten, den imaginären Göttern zu opfern. Der Name Gottes wurde zur Rechtfertigung von Kastendiskriminierung, Sklaverei, Unterdrückung von Frauen, Kinderheirat und Genitalverstümmelung benutzt.
Einführung globaler Religionen
Natürlich gab es auch Ungläubige, Zweifler und Skeptiker, die gegenteilige Ansichten vertraten und theistische Übergriffe, Ausbeutungen und Verletzungen durch Gottesmänner und -frauen infrage stellten. Die Dynamik von Humanismus und Religion in der Region wurde jedoch durch Kontakt mit dem östlichen und westlichen Kolonialismus verändert, da die religiösen Kräfte nun nicht mehr ausschließlich lokal waren. Die Einführung der länderübergreifenden und imperialistischen Religionen des Christentums und des Islam hatte überwältigende Auswirkungen auf den Humanismus in Nigeria. Sie unterwarfen die politische Ökonomie der traditionellen religiösen Überzeugungen, weil sie auf Überlegenheit beruhten – in rassischer, soziokultureller, politischer, wirtschaftlicher, religiöser Hinsicht und in ihrem Gottesverständnis. Ganz anders die humanistische Weltanschauung, die sich gegen die beherrschenden und erniedrigenden Auswirkungen dieser weltweiten religiösen Kräfte wendet.
Bevor das Christentum und die westliche Kolonisierung in Afrika Fuß fassten, herrschte dort der arabische Imperialismus. Auf der Suche nach Sklaven, Städten, Märkten, Handel, Rohstoffen und Imperien kolonisierten Gelehrte, Migranten, Dschihadisten und Imperialisten aus dem Osten die Region und zwangen den Afrikanern die politische Ökonomie des Islam auf. Durch Handel – einschließlich Sklavenhandel – Wissen, Gewalt und Islamisierung festigten sie ihre Herrschaft und brachten die Region unter ihre Kontrolle. Später folgten der westliche Imperialismus und das Christentum, die sowohl die islamische wie auch die traditionelle politische Ökonomie zerstörten oder es zumindest versuchten. Bis heute befindet sich Nigeria im Schnittpunkt dieser Einflüsse.
Unabhängigkeit
Als Nigeria 1960 die Unabhängigkeit erlangte, war der Humanismus dort in unzählige Auseinandersetzungen mit religiösen und menschenfeindlichen Kräften in Christentum, Islam und traditioneller Weltanschauung verwickelt. Diese religiösen Gruppierungen versuchten, sich selbst und die Menschlichkeit der Nigerianer zunichte zu machen; sie rangen um die Herrschaft über Geist und Verhalten, Staat und Vermögen der Bevölkerung. Nur mit dem Unterschied, dass es sich nach der Unabhängigkeit bei den Hauptakteuren von Christentum und Islam nicht mehr um weiße Missionare aus dem Westen oder arabische Dschihadisten aus dem Osten handelte, sondern um Nigerianer, die von Europa, Amerika, Iran, Saudi-Arabien und anderen christlichen beziehungsweise islamischen Zentren aus eingesetzt, unterstützt und kontrolliert wurden. Zum Zeitpunkt der Unabhängigkeit gab es in Nigeria Bürger, die ihre Religionsgemeinschaften höher wertschätzten als den nigerianischen Staat, ihre heiligen Bücher über die Verfassung stellten und die Geistlichen mehr verehrten als Staatsvertreter. Nigeria war von Menschen bevölkert, deren Loyalität in erster Linie Gott und Allah galt, nicht den afrikanischen Göttern und auch nicht den afrikanischen Staaten.
Jahrhundertelange christliche Missionierung und Islamisierung haben die traditionellen religiösen Überzeugungen und Identitäten verdrängt. Die Wandlung von Afrikanern zu Muslimen und Christen erschwert den Weg zur Aufklärung und zum Aufblühen von Humanismus und Säkularismus. Christen setzen politische Versionen ihrer Religion durch; muslimische Politiker propagieren islamische Theokratie und Separatismus. Mit der Unabhängigkeit nahm Nigeria eine Nationalhymne an, in der es hieß: "Auch wenn Stamm und Sprachen unterschiedlich sein mögen, stehen wir doch in Brüderlichkeit". Die Realität sieht leider anders aus. Christliche und islamische Glaubensgruppen fördern eine spaltende Auffassung von Brüderlichkeit und berufen sich dabei auf ihre Glaubenslehren.
Religionen behindern die Entwicklung des Säkularismus
Die Entwicklung eines säkularen Nigerias ohne Vorurteile gegenüber Menschen mit oder ohne Glaubenszugehörigkeit wird durch das politische Christentum und den Islam behindert, denn ein säkulares Nigeria ist unvereinbar mit religiösem Totalitarismus. Christen und Muslime spielen ihre politische und wirtschaftliche Position aus, um die eigene religiöse Agenda voranzutreiben und ihren Glaubensprogrammen staatliche Unterstützung sowie Zuschüsse zu sichern. Mit öffentlichen Geldern bauen sie Kirchen und Moscheen und finanzieren Scharia-Gerichte, Konfessionsschulen und Pilgerreisen. In Staaten mit mehrheitlich islamischer Bevölkerung übten muslimische Politiker Druck aus, um die Scharia in die Verfassung aufzunehmen und damit deren strafrechtliche Aspekte festzuschreiben. Christliche Politiker haben so viel Einfluss auf Bildung und Gesetzgebung, dass sie durch Lobbyarbeit dafür sorgen, dass Gesetzesentwürfe und Gesetze den christlichen Dogmen entsprechen.
Die wachsende Bedrohung durch den religiösen Extremismus stellt eine Gefahr für die Zukunft des Humanismus dar. Magisches Denken ist allgegenwärtig und hält zu viele Menschen im Würgegriff. Die religiöse Gewaltherrschaft ist unübersehbar, die Unterdrückung und Diskriminierung durch Religion ist systemisch.
Hexenglaube und anderer Aberglaube halten das Land unter ihrem Joch. Auch wenn es unwahrscheinlich ist, dass eine bestimmte Religion, sei es Christentum oder Islam, den nigerianischen Staat überrollt und beherrscht, gibt es dennoch Anzeichen, dass sich diese imperialistischen Religionen auf absehbare Zeit in der Region politisch durchsetzen werden. Dann hätten religiöse Kräfte weiterhin Denken und Moral der Menschen im Griff. Die politischen Ausprägungen von Christentum und Islam untergraben die Rechte von religiösen Minderheiten, darunter auch säkulare Humanisten und Atheisten. In Staaten mit mehrheitlich muslimischer Bevölkerung, wo die Scharia gilt, ist der Islam Staatsreligion, und Nicht-Muslime werden als Bürger zweiter Klasse behandelt.
Staatsregierungen finanzieren die Scharia-Polizei, -Gerichte und -Richter. (...) Gotteslästerung und Apostasie, also Lossagung vom Glauben, gelten als Straftaten. Schon angebliche christliche oder islamische Abtrünnige oder Gotteslästerer, Atheisten, Agnostiker und Freidenker eingeschlossen, sind Feindseligkeit, Gewalt und Misshandlung bis hin zum Mord ausgesetzt, ohne dass die Täter bestraft werden. Es gibt keinen Schutz für die Menschenrechte von Schwulen, Nichtgläubigen und denjenigen, die sich vom Islam abwenden oder Kritik am Propheten Mohammed üben. In christlich geprägten Landesteilen genießt das Christentum staatliche Privilegien. Staatliche Veranstaltungen beginnen und enden mit christlichen Gebeten. Nichtgläubige und Anhänger traditioneller Glaubensformen werden verteufelt. Religiös bedingte Homophobie ist weit verbreitet. Angebliche Hexen werden angegriffen, verfolgt und ermordet. Zudem kommt es immer wieder zu rituellen Angriffen und Menschenopfern.
Hoffnung für den Humanismus in Nigeria
Trotz alldem besteht auch in dieser ernsten, schwierigen und gefährlichen Situation Hoffnung für den Humanismus in Nigeria, denn wo Menschen sind, ist auch Hoffnung. Es gibt ein Licht am Ende des dunklen Tunnels von Aberglauben und religiösem Extremismus. Auch wenn die düstere Situation die Menschen in Afrika verzweifeln lässt, so bietet sie doch auch die Chance für ein intellektuelles Erwachen Nigerias, ja ganz Afrikas, und für eine Aufklärung von globaler Dimension. Die Finsternis in Nigeria ist nicht nur lokal, sondern auch global bedingt, und sie geht über Ländergrenzen hinaus. Die Situation erfordert einen mutigen Einsatz der humanistischen Tugenden gegen Aberglauben und Irrationalismus. Obgleich man in Ost und West Christentum und Islam mit Aufklärung verbindet, haben diese Glaubensrichtungen dennoch Finsternis und Verzweiflung mit sich gebracht und behindern den Fortschritt in moralischer und intellektueller Hinsicht. Es ist notwendig geworden, diese Finsternis in Nigeria zu vertreiben. Die Zukunft des Humanismus in Nigeria hängt ab vom Trotz und dem Widerstand gegen religiöse Gewaltherrschaft und absolutistisches Denken.
Die Zukunft des Säkularismus ist abhängig von der Bereitschaft und der Fähigkeit, gegen unterdrückerische religiöse Tendenzen zu rebellieren, auf falsche und überholte Lehren der verschiedenen Glaubensrichtungen hinzuweisen, Dogmen und Absurditäten anzusprechen, die Gläubige zu Gräueltaten veranlassen sowie falsche und abwegige Ideen infrage zu stellen. Zudem ist es unabdingbar, die Gesellschaft neu zu gestalten und zurückzukehren zu der Menschlichkeit, die lange Zeit unterdrückt wurde. Die Zukunft des Humanismus beruht auf der Entfaltung des freien und kritischen Denkens sowie auf technologischem Wissen. Zur Schaffung dieser Zukunft bedarf es einer Kampagne für intellektuelle Erweckung. Die Nigerianer müssen aus ihrem religiösen Schlummer erwachen. Die Nigerianer, ja alle Afrikaner, müssen ihre religiös bedingte Amnesie überwinden und sich ihrer Humanität, ihrer Rechte und Freiheiten bewusst werden und einen Humanismus verwirklichen, der angemessen für das 21. Jahrhundert ist.
Übersetzung: Inge Hüsgen