(hpd) Min Dît erzählt die Geschichte zweier Kinder, deren Eltern die Opfer eines kaltblütigen, politisch motivierten Mordes wurden und die von diesem Moment an selbst für ihr Überleben sorgen müssen. Doch Min Dît ist auch mehr. Denn durch das Schicksal der beiden Kinder wird auch die Geschichte des kurdischen Volkes im Osten der Türkei erzählt, eine Geschichte von politischer Repression und paramilitärischen Übergriffen, die bis heute nicht überwunden sind.
Regisseur Miraz Bezar tourt derzeit durch Deutschland und stellt seinen Film in zahlreichen Kinos persönlich vor. Am 24. Juni war er im Saarbrücker Filmhaus zu Gast und stand seinem Publikum Rede und Antwort.
Gefährlicher Alltag in Diyarbakir
Am Anfang stand kein Drehbuch, als Regisseur Miraz Bezar 2005 von Berlin nach Diyarbakir zog, um dort für sein erstes großes Filmprojekt über die Situation der kurdischen Provinzen der Türkei zu recherchieren. Damals war es ihm noch nicht einmal klar, ob er vielleicht sogar einen Dokumentarfilm drehen werde, gestand er später in einem Interview. Schließlich wurde doch ein Spielfilm daraus, ein zutiefst emotionales, politisches Drama.
Die beiden kurdischen Kinder Gülistan und Firat wohnen mit ihren Eltern und ihrer neugeborenen Schwester in Diyarbakir, einer Metropole im Osten der Türkei. Ihr Vater ist dort als Journalist für eine türkischsprachige, regimekritische Zeitung tätig.
Alltägliches zwischen Markt und Café erweckt den Eindruck von Normalität in Diyarbakir. Doch schon bald spürt man die latente Bedrohung im vermeintlichen Großstadtidyll. Zwei Männer scherzen, dass ein guter Bekannter mal wieder bei einer Kundgebung verhaftet wurde und dass es in Diyarbakir wohl kaum noch eine Zelle gebe, die er noch nicht persönlich kennengelernt habe. Anders aber, als diese ausgelassene Szene vermuten lässt, ist die Gefahr für die Menschen viel größer. Als ein junger Mann in Gülistans Familie dann eine Bleibe zum Untertauchen findet, bricht diese Gefahr schließlich unmittelbar in das Geschehen des Filmes ein und es wird klar – die Bedrohung ist nicht abstrakt, sondern allgegenwärtig und selbst für die zunächst so unscheinbare Familie, um die sich Min Dît dreht, ganz real und persönlich erfahrbar.
Ein Moment, der alles verändert
Als sich die Eltern mit ihren drei Kindern auf dem Heimweg von einer Hochzeit befinden, nimmt die Tragödie ihren Lauf. Eine vermeintliche Polizeistreife hält das Auto der Familie an, doch anstatt der erwarteten Verkehrskontrolle werden Vater und Mutter vor den Augen ihrer Kinder kaltblütig exekutiert. Mitten im Nirgendwo lassen die Täter die Kinder zurück und verschwinden im Dunkeln. Das Blaulicht an ihrem Wagen blinkt noch immer.
Ohne der Versuchung zu erliegen, diesen tragischen Moment aus dramaturgischen Gründen auszuschlachten, sehen wir nach einer kurzen Blende die Kinder, zurück in Diyarbakir, in der Wohnung ihrer Tante Yekbun. Wie viel Zeit seit dem schrecklichen Vorfall vergangen ist, wissen wir nicht, aber die Kinder scheinen den ersten Schock, die unmittelbare Trauerphase bereits überwunden zu haben. Verantwortungsbewusst kümmern sich Gülistan und Firat um ihre jüngere Schwester.
Yekbun versucht indessen, sich um die Ausreise – oder besser: die Flucht - nach Stockholm zu kümmern. Sie gibt ihnen ein wenig Geld für das Nötigste und macht sich auf den Weg, um Flugtickets für die Kinder zu besorgen. Ein Weg, von dem sie nicht wieder zurückkehren wird.
Überleben auf der Straße
Von diesem Moment an häufen sich die Probleme der Kinder. Ihr Geld wird knapp und sie müssen ihre gesamte Habe verkaufen. Für Fernseher und Kassettenspieler bekommen sie gerade mal fünfzehnmillionen Lira – der Wert einer Flasche Hustensaft. Das Wasser wird abgestellt, dann auch der Strom. Zudem ist ihre kleine Schwester krank, schreit ohne Unterbrechung. Und stirbt. Kurz darauf setzt der Vermieter die beiden Kinder vor die Tür.
Vollkommen auf sich alleine gestellt, müssen sich Gülistan und Firat auf den Straßen von Diyarbakir zu Recht finden. Unterstützung finden die beiden bei Zilal, einem ebenfalls obdachlosen Mädchen gleichen Alters, das ihnen dabei hilft, auf der Straße zu überleben. Während sich Firat zunehmend einer Gruppe von Straßenjungs anschließt, die sich mit Gaunereien über Wasser halten, findet Gülistan Halt bei einer jungen Frau namens Dilara, deren Schicksal und Geschichte wir nicht erfahren. Sie prostituiert sich, jedoch nicht aus freien Stücken, sondern unter größter Scham, um ihr Überleben zu sichern. Je mehr sich der sensible und geschundene Charakter von Dilara offenbart, desto mehr bemerkt man, dass Gülistan auch ihr eine Stütze bietet.
Der Tag der Vergeltung
Doch gerade, als sich die Kinder mit ihrem Straßenleben – ohne Eltern, ohne Geld, ohne Heimat – einigermaßen arrangiert haben, kommt die Wende. Unverhofft treffen sie auf Nuri Kaya, den Mörder ihrer Eltern, zuerst Firat, später dann auch Gülistan. Ein gewaltbereiter und jähzorniger junger Mann ist dieser Nuri, doch Bezar inszeniert ihn nicht ausschließlich als Bestie. Wie so oft in seinem Film beweist er auch hier einen unheimlich sensiblen Zugang zur vielschichtigen Problematik in Min Dît. Wir lernen Nuri nämlich auch als Familienmenschen kennen, der liebevoll mit seinem Sohn umgeht, eine gute Beziehung zu Nachbarn und Bekannten pflegt und seine Tätigkeit bei der Geheimpolizei nach außen hin sorgfältig verschweigt.
Durch einen Zufall gelangt Gülistan in die Wohnung des Mörders und findet dort seine Waffe. Nun hat sie die Gelegenheit, Rache für den Mord an ihren Eltern zu üben. Wie wird sie sich entscheiden?
Sensibel und glaubwürdig
Unmittelbar nach dem Ende der Vorstellung, wurde aus dem Publikum kritisiert, dass die Gewalt im kurdischen Teil der Türkei noch viel drastischer sei, als es in Min Dît dargestellt wird. Daher hätte diese auch filmisch viel intensiver umgesetzt werden müssen. Gerade darauf hat Regisseur Bezar aber klugerweise verzichtet. Min Dît ist ein politisches und in höchstem Maße emotionales Drama, das seine Ereignisse aus der Realität speist und zur Geschichte um den Überlebenskampf zweier Kinder verdichtet. Zu keiner Zeit ist Min Dît so etwas wie ein politischer Thriller, Spannung erzeugt Bezar nicht um der Spannung Willen. Vielmehr sind die kurzen Spannungsmomente des Films effektiv eingesetzt und dienen einzig dem Voranschreiten der Geschichte. Was Bezar interessiert, sind weniger die Schockmomente, als vielmehr deren psychischen Folgen auf die Opfer. Min Dît verkommt daher nie zum bloßen Politkrimi oder zur voyeuristischen Gewaltschau. Mit dieser sensiblen Verbindung einer möglichst umfangreichen Darstellung der politischen Gewalt und einer nur selten expliziten Inszenierung sichert sich Bezar ein Höchstmaß an Glaubwürdigkeit – und zugleich auch an Intensität. Denn gerade der sparsame Einsatz expliziter und womöglich dokumentarischer Aufarbeitung der Verhältnisse vor Ort, lässt es dem Zuschauer eiskalt den Rücken herunterlaufen, wenn er von jenen seltenen Momenten getroffen wird, in denen die Grausamkeiten ins Zentrum des Geschehens rücken. Wo eine akribische und massentaugliche Aufarbeitung der Menschenrechtssituation im Osten der Türkei im Rahmen eines Spielfilmes ohnehin zum Scheitern verurteilt wäre, da übernimmt Min Dît vielmehr die Funktion einer Initialzündung, die den Zuschauer zur Vertiefung des Themas anregt.
Aber Bezar inszeniert auch immer wieder heitere Momente. Diese dienen nicht nur der gelegentlichen Auflockerung des schweren Stoffes, sondern rufen zugleich in Erinnerung, dass sich die Protagonisten, ebenso wie ihr gesamtes Umfeld, in einer gewissen Form von Alltäglichkeit befinden, so sehr diese auch von Terror, Angst und Verunsicherung geprägt sein mag. Insbesondere die originelle Geschäftigkeit von Firat und seiner Jungengruppe, zwischen Straßenhandel und Gaunerei, sorgt dabei für eine unerwartete Komik, obgleich man sich der Tragik ihrer sozialen Rahmenbedingungen stets bewusst ist.
Zudem muss man sich permanent die Frage stellen, woher die vielen anderen Straßenkinder kommen, mit denen sich Gülistan und Firat mehr und mehr umgeben. Welche Geschichten haben sie zu erzählen, welchen Schrecken mussten sie erleben? Als die kleine Zelal Gülistan davon berichtet, wie ihr Dorf niedergebrannt wurde, wird dem Zuschauer genau das ins Bewusstsein gerufen: Die Geschichte von Min Dît ist nur eine von vielen und vermutlich haben die meisten, wenn nicht alle dieser Straßenkinder ähnlich harte Schicksalsschläge verkraften müssen.