Ein „Band der Freundschaft“ knüpfen (II)

hpd: Aber ist das wirklich eine Kränkung? Ist das nicht eine Behauptung, ein Setzen des Christentums, um Menschen sozusagen an Ihre ‚Leimrute’ zu bekommen: Wir haben den Ausweg? Für mich war eine wesentliche Erkenntnis, als ich im kurzen Anhang Ihres Buches „Ecce Terra“ las, wie die griechische Philosophie, vor Platon, den Menschen als Lebewesen sah, wie jedes andere auch, das sich von der Geburt, im Aufwachsen, alt werden und Sterben, in einem natürlichen Kreislaufs des Entstehens und Vergehens befindet. Erst Platon und seine Nachfolger führen dann einen Jenseitsbezug ein, eine zweite Dimension, die außerhalb dieser Welt liegt – das Höhlengleichnis von Platon – und von dort aus kommt dann der Zugriff auf die Menschen, denen diese jenseitige Dimension, weil es sie ja nicht gibt, verschlossen ist. Wenn man sich davon abgelöst hat, funktioniert diese vorgebliche Tröstung auch nicht mehr. Mich kann man seitdem weder mit etwas nach dem Tode erschrecken und belohnen wollen. Womit?

Streminger: Hume, um wieder ihn ins Spiel zu bringen, hätte wohl so ähnlich wie Sie und die griechischen Vorplatoniker argumentiert. Er hat einmal gemeint: „Ich mache mir so große Sorgen über das Leben nach dem Tod, wie ich mir Sorgen mache über das Leben vor der Geburt.“ (Lachen) Aber ich glaube nicht, dass viele so denken – die Kirchen tragen natürlich das ihre dazu bei, dass dieses Wissen nicht bekannt wird. Denn es ist ja in ihrem ureigensten Interesse, die Köpfe der Menschen im Dunkeln zu belassen und zu verkünden, dass das wahre Leben erst nach dem Tode begänne -- dann nämlich, wenn man ewig in der Nähe Gottes sitzen und frohlocken kann. Aber diese Verkündigung hat mehrere Haken.

Einer ist der – und alle, die sich so sehr nach dem Jenseits sehnen, mögen dies doch bedenken –, dass die ersten Menschen die Gottesnähe als so umwerfend angenehm gar nicht empfanden: Ein Gott, der durchs Dickicht schleicht und alles sieht; der eine Schlange erschafft, die sie belog, als sie noch gar nicht vom Baum der Erkenntnis dessen, was gut und böse ist, gegessen hatten, also die Täuschung noch gar nicht wirklich durchschauen konnten. Und das soll attraktiv sein? Danach sehnen Menschen sich `mit ganzem Herzen, mit ganzem Gemüt und mit ganzer Seele´? Und das gleich auf ewig? Na, ich weiß nicht. Die ersten Menschen sind jedenfalls sündig und daher aus dem Paradies vertrieben worden. Sie mussten nun zwar arbeiten und unter Schmerzen gebären, aber sie waren … frei! Frei von der Nähe Gottes!

Ich würde also ihre Frage so beantworten: Ein solches, rein am Diesseits orientiertes ‚wahres’ Bewusstsein bedarf der Erkenntnis und auch der Disziplin. Viele Menschen erleben etwa Sterben als großes Scheitern, als großen Schmerz, und hier finden die Kirchen zunächst ein reiches Betätigungsfeld. Zu dieser Todesgewissheit gesellen sich noch die verschiedensten Verluste, der Tod der Lieben, deren Krankheiten etc. Schopenhauer verglich deshalb die Kirchen mit Leuchttürmen (oder auch nur Leuchtwürmern), die der Dunkelheit bedürfen, um zu leuchten. Es ist genau diese Düsternis, in der Kirchen prächtig gedeihen und die sie noch am Leben hält. Not lehrt eben beten, und viele wollen erst dann die Frohbotschaft hören, wenn es schon gehörig donnert. Während die meisten Ärzte wollen, dass es den Menschen besser geht, ist es im Interesse der Kirchen, dass es den Menschen nicht allzu zu gut geht, damit sie ihre Botschaft verkünden und Heil spenden können. Sie wecken dann unendliche Sehnsüchte, die das Diesseits nicht erfüllen kann und so zum Ort des Mangels wird, an dem Menschen sich nicht mehr heimisch fühlen können.

hpd: Aber wer hat ihnen das erzählt, dass der Tod ein Scheitern wäre?

Streminger: Natürlich die Kirchen, aber auch unabhängig davon gibt es viele Formen von Leid, von Verlust, von der Angst, dass man seine Möglichkeiten nicht verwirklichen konnte, dass man zu früh sterben könnte, noch ehe man ein erfülltes Leben geführt hat. Ich denke, solche Menschen erleben die Vorstellung vom Ende des Lebens als etwas sehr Negatives, manche vielleicht sogar als regelrechten Skandal.

Sie dürfen nicht vergessen, dass auch die Griechen, die sie zu Recht so positiv zitiert haben, das Bewusstsein von Leid und Tod nicht einfach hingenommen hatten. Aber sie haben sich zur Bewältigung des Schmerzes etwas ganz anderes erdacht als Religion, also die Rückbindung an eine Höhere Macht, nämlich: die Tragödie, die Kunst. Die Möglichkeit, die dadurch eröffnet wird, nämlich unter bestimmten Bedingungen am großen, fremden Leid teilzuhaben, reduziert das eigene, das kleinere Leid. Wird in einer Tragödie dargelegt, dass es mir noch viel schlimmer gehen könnte als es tatsächlich der Fall ist, Ödipus als Beispiel, und wird das künstlerisch so überzeugend vorgeführt, dass es mich packt, dann gehe ich gereinigt aus dem Theater. Vieles fällt wieder leichter, zumindest für geraume Zeit, denn ich wurde mit allem Ernst daran erinnert, dass ich nicht der Einzige bin, der leiden muss, und mein Leid ist nicht so groß wie das manch’ Anderer. Ich bin keinesfalls der erste und schon gar nicht der einzige! Dieses Wissen bleibt einige Zeit bewusst, und verschwand es wieder in der Nacht des Vergessens, dann ging ich als Grieche nicht in die Kirche, um niederzuknien und Buße zu tun – durch meine Schuld, durch meine Schuld, durch meine übergroße Schuld! –, sondern ging wieder ins Theater unter freiem Himmel und saß neben Menschen auf Steinen, die den ganzen Tag lang von der Sonne beschienen worden waren.

Kurz gesagt: Auch die Griechen haben etwas erdacht, etwas viel Besseres, meine ich, um mit dem Wissen um Endlichkeit und Leid verschiedenster Art fertig zu werden. Ihr Angebot finde ich attraktiv, dasjenige der Religion nicht. Denn es gibt, und das ist ein weiterer religionskritischer Einwand, es gibt, wie sich meines Erachtens genau zeigen lässt, keinen gütigen Gott, der eine ausgleichende Gerechtigkeit im Jenseits garantieren könnte. Der Gedanke an ein Leben nach dem Tode mag Trost spenden, aber da nicht gezeigt werden kann, dass es einen gütigen Gott gibt, ist die Vorstellung von einem künftigen Paradies reines Wunschdenken. Menschen orientieren sich hier am Lustprinzip, wie Sigmund Freud dies ausdrücken würde, und nicht am Realitätsprinzip. Der Gedanke an ein herrliches Jenseits mag Stress reduzierend sein, aber es dürfte einen viel größeren Stress bedeuten, wenn man einsehen muss, dass es – so wie die Welt nun einmal beschaffen ist -- gar keinen gütigen Gott geben könne. Man mag es bedauern oder auch nicht, aber die Menge an Leid in dieser Welt ist mit der Existenz eines gütigen, gerechten und mächtigen Gottes nicht vereinbar. Allerorts wird der Religion eine Trostfunktion zugestanden. Aber wie viele Fragen und Probleme handelt man sich bereits ein, wenn man den Schöpfer Himmels und der Erde – angesichts allen Leids -- für gütig und gerecht hält?