Der Humanismus – ein offenes System

Aus Sicht des Rezensenten kommt dem Vortragstext “Religionsfreiheit – ein Menschenrecht im Spannungsfeld von Humanismus, Reformation und Aufklärung – Zur Erinnerung an 1700 Jahre ‘Toleranz-Edikt’ 313 – 2013” (Berlin 2013) die größte Bedeutung zu. Insbesondere in Anbetracht aller theologisch-politischen Versuche, Gottes-Bezüge in Verfassungen aufzunehmen bzw. zu halten, des Jammerns über angeblich 100 Millionen verfolgte Christen weltweit und des Hypes um Luther und die Reformation (Luther-Dekade).

Gleich in der ersten Zwischenüberschrift macht Cancik darauf aufmerksam, worum es wirklich ging und gehen muss – um Religionsfreiheit für alle und nicht bloß für Christen, und damit auch um die Freiheit, keine Religion zu haben.

Cancik zitiert in einer Fußnote auf S. 132, dass lt. Kirchengeschichtsschreibung in der Zeit von Nero bis Konstantin elf Millionen verfolgte Christen als Märtyrer gestorben seien. Wissenschaftlichen Forschungen zufolge seien in diesem Zeitraum jedoch aber nur etwa 4.000 bis 5.000 Christen staatlichen Verfolgungen zum Opfer gefallen. Er selbst schreibt: “Die historische Forschung rechnet jetzt für die diokletianische Verfolgung mit insgesamt 2.500 bis 3.000. Die Repressalien waren wirkungslos. Licinus und Konstantin vereinbarten in Mailand, sie zu beenden und das Christentum durch die Verkündung einer allgemeinen, staatlich garantierten Religionsfreiheit in das System der römischen Reichsreligion aufzunehmen.” (S. 132)

Die beiden Kaiser verkünden 313 in ihrem sogenannten Toleranz-Edikt, “dass ein jeder die freie Verfügungsgewalt in der Verehrung dessen hat, was sich ein jeder ausgewählt hat.” (S. 133) Cancik dazu, dass es ihnen aber nicht um Duldung – Toleranz – des Christentums als Religion bzw. Kirche ging, denn: “Die beiden Kaiser verkünden vielmehr allgemeine und individuelle Religionsfreiheit. (…) Die Kaiser und ihre juristischen Berater benutzen keine speziellen, ‘positiven’ religiösen Ausdrücke. Religionsfreiheit ist eine zivile, rechtliche, sittliche Angelegenheit. Die Begriffe ‘Freiheit – Individualität – Wille’ konstituieren das Menschenrecht auf Selbstbestimmung des Einzelnen. (…) Sie werden mit der Vernunft und der Geschichtlichkeit des Menschen verbunden und bereits im 1. Jahrhundert v.u.Z. mit dem Begriff ‘Menschenwürde’ (dignitas hominis) zusammengefaßt.” (S. 133 – 134)

Dieses Edikt würdigt Cancik daher wie folgt: “Die Mailänder Vereinbarung von 313 ist die erste europäische Erklärung der allgemeinen und individuellen Religionsfreiheit. Sie ist das Paradigma für die humanistische Begründung von Religionsfreiheit als Menschenrecht.” Aber dabei dürfe man dieses keinesfalls vergessen: “außerhalb Europas gab es schon viel früher und unter völlig anderen Voraussetzungen eine Erklärung zu Toleranz und Religionsfreiheit.” (S. 135) Er benennt hier die diesbezüglich früheste schriftlich erhaltene staatliche Erklärung, die des indischen Herrschers Ashoka (304 – 232 v.u.Z)!

In seine Betrachtungen bezieht Cancik auch die Lehren des nordafrikanischen Christen Tertullian (etwa 150 bis 220) und die des Engländers Thomas Moore (1478 – 1535) in dessen Schrift “Utopia” mit ein. Und er stellt sich der Frage, warum das System von 313 schon nach wenigen Jahrzehnten zum Scheitern kam, als das Christentum unter Kaiser Theodosius I. (347 – 395) zur alleinigen Staatsreligion erhoben wurde – verbunden mit dem Totalverbot aller anderen Religionen (und des Atheismus). Diesen staatlichen Christentumszwang habe der “Heilige Augustinus” (354 – 430) als katholischer Bischof theologisch, juristisch und politisch begründet. Die Lehren des Augustinus seien darüber hinaus zu “einem Eckstein” der Lutherschen Reformation geworden. Erst mit den französischen und US-amerikanischen Erklärungen der Menschenrechte ab 1789 habe die Religionsfreiheit als individuelles Menschenrecht wieder Eingang in den christlich geprägten Raum gefunden – allerdings gegen den heftigen Widerstand des Klerus.

Cancik prangert daher die “Versuchung der nachträglichen Sakralisierung” der Menschenrechte, insbesondere der Religionsfreiheit, an und setzt sich mit den kirchlichen “Perspektiven für das Reformationsjubiläum 2017”, vor allem mit der 15. Perspektive, auseinander. Er zitiert diesbezüglich dem Bochumer Historiker Lucian Hölscher, der es auf den Punkt bringt: “Da sehe ich die Gefahr, dass man die protestantische Sicht mit historischen Fakten gleichsetzt.” (S. 151) Was wohl für das Christentum 2000jährige Tradition hat! Und beabsichtigt wird vom protestantischen Klerus in der Endkonsequenz nicht mehr und weniger als die allumfassende Sakralisierung von Kultur und Gesellschaft…

Cancik zitiert in einer Fußnote auf S. 152 schließlich den Rechtsphilosophen und Verfassungsjuristen Hasso Hofmann über die logische Konsequenz solch anmaßender, ahistorischer klerikaler Bestrebungen: “Christliche Freiheit ist Freiheit in und aus der [eigenen; SRK] Glaubenswahrheit. Danach gilt der Christ als frei und der Nichtchrist als unfrei.”

Der abschließende Text gibt Hubert Canciks Vortrag “Die Formierung einer ‘Abrahamitischen Religion’ im Rahmen der westeuropäischen Kultur: griechisch, römisch, humanistisch” wieder (Budapest 2013). In seinen Ausführungen schreibt er u.a.: “Abrahamitische Theologie und reale Religionsgeschichte lassen sich nicht in Deckung bringen.” (S. 169) “Menschenrechte sind individuelle, subjektive Rechte einer jeden Person. (…) Die Religionsfreiheit ist eines dieser Rechte. Sie ist nicht religiösen Ursprungs. Ihr Kontext ist der Anspruch des Menschen und Bürgers auf Freiheit der Meinung, der Rede und der Presse.” (S. 173) Und er folgert: “Die Lehre aus der Geschichte: Die Menschenrecht sakralisieren heißt – die Menschenrechte schwächen.” (S. 175) Denn die Geschichte lehre, “dass Religionsfreiheit und die Menschenrechte nicht von Religionen hervorgebracht wurden. Sie können nicht von Organisationen garantiert werden, die sich auf die ‘Weisheit der Religionen’ stützen. Religionsfreiheit und friedliche Beziehungen zwischen Glaubensgemeinschaften, das lehrt uns die Geschichte ebenfalls, beruhen auf einem breiten bürgerlichen Konsens, auf sozialer und politischer Freiheit, auf Selbstbestimmung und auf allgemeiner Sicherheit.” (S. 176)

Der Wert dieses Sammelbandes besteht nicht nur in der Publikation bislang unveröffentlichter akademischer Vortragstexte. Sein Wert besteht vor allem darin, dass mit ihm eine kompakte wissenschaftliche Handreichung all denen gegeben wird, die antike Quellen nicht im Original lesen können. Der Sammelband ist zugleich eine ausgezeichnete Argumentationshilfe für Humanisten im Diskurs über Menschenrechte, Religionsfreiheit und Humanismus.

Dafür sei den Autoren Hubert Cancik und Hildegard Cancik-Lindemaier sowie dem Herausgeber Horst Groschopp lobender Dank gesagt. Nicht unerwähnt bleiben soll, dass Gabriele Groschopp auch für diesen Band in bewährter Weise das Layout besorgt hat und hier insbesondere für eine optimale Platzierung der Illustrationen Sorge trug.

 


Hubert Cancik & Hildegard Cancik-Lindemaier: Humanismus – ein offenes System. Schriftenreihe der Humanistischen Akademie Deutschland, Band 5. 188 S. m.Abb. kart. Alibri-Verlag. Aschaffenburg 2014. 15 Euro. ISBN 978–3–86569–162–0

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