WEIMAR. (hpd) Der nun vorliegende Band 5 aus der Schriftenreihe der Humanistischen Akademie Deutschland vereint acht bis dato unveröffentlichte Vortragstexte der renommierten klassischen Philologen und Humanismusforscher Hubert Cancik und Hildegard Cancik-Lindemaier. Diese Vorträge wurden in den Jahren 2009 bis 2013 im In- und Ausland gehalten, darunter auch in der VR China und auf Taiwan. Ihre Themen sind Humanismus, Antihumanismus, Religionsfreiheit und die Aktualität antiker Menschenbilder. Mit ihren historischen Kulturstudien unterbreiten sie Angebote zur offenen Debatte über Humanismus als ein nie vollendetes System. Ein System, das aus dieser Lückenhaftigkeit, dem Zweifel und dem beharrlichen Streben der daran interessierten Akteure, es inhaltlich auszufüllen, seine Energie ziehe. Die Autoren fragen auch, was aus der Antike zu lernen ist.
Dieser Akademie-Sammelband ist der letzte, der in Verantwortung des Kulturwissenschaftlers Horst Groschopp entstanden ist. In seinem Vorwort wertet er den Humanismus als ein kulturelles System. Zu den Cancik-Texten heißt es bei ihm: “Es ist nützlich, die Genealogie humanistischer Ideen und Ideale zu erforschen und präsent zu halten. (…) Wir erfahren Wichtiges zu den ursprünglichen Zusammenhängen, die Humanismus hervorbrachten.” (S. 10) Groschopp weist nachdrücklich darauf hin, dass bestimmte Begriffe in den Texten “bewusst besonders diejenigen Akteure im Humanismus, die jede Systembildung für schädlich halten” provozieren wollen. Denn Humanismus sei, wie Religionen auch, Kultur und müsse sich deshalb verstetigen, institutionalisieren. (S. 10/11)
Humanismus muss praktisch sein und heutig, das fordern Humanismus-Funktionäre unentwegt. Weshalb dann jetzt eine so umfangreiche Beschäftigung mit der hellenistischen und römischen Antike, die doch schon lange Geschichte ist? Wer dies fragt, der sollte unbedingt die in diesem Band versammelten Texte eingehend lesen. Denn dann wird derjenige sehen, wie aktuell noch heute vieles aus der Antike ist. Ganz besonders sichtbar wird das im Vortrag vor der URANIA im Jahre 2013 zur Erinnerung an 1700 Jahre “Toleranz-Edikt”!
Im Vortrag “Humanismus als offenes System” (Weimar 2012) geht Hubert Cancik auf Vergemeinschaftung, Begrifflichkeit und Darstellungsformen ein. Und wendet sich dabei besonders Marcus Tullius Cicero (106 – 43 v.u.Z) sowie Johann Gottfried Herder (1744 – 1803) und dessen Briefen zur Beförderung der Humanität zu. Cancik stellt zum “System” fest: “Die Unfertigkeit kann, wie etwa für die humanistische Bewegung, durchaus ein Element der Systemform sein. ‘Humanismus’ ist unvollendet, unfertig, unvorhersagbar, offen, aber dennoch ein veritables ‘System’.” (S. 18 – 19) Und eben keine ewige und fertige absolute Wahrheit… Es “ist ‘offen’, ‘unfertig’, weil es auf freie Personen, unvorhergesehene Situationen und auch zukünftige Handlungen und Erkenntnisse bezogen wird.” (S. 33)
Um einen Grundbegriff des “europäischen Humanismus” und seinen römischen Hintergrund geht es in Canciks Vortrag “Humanitas – inhumanitas” (Taipeh 2012). Er bemerkt dazu, dass seine “unvollständige Skizze dringliche Aufgaben für die Forschung” erkennen lassen will: “Nur eine sei hier erwähnt – die Aufgabe, weitere Grundbegriffe des europäischen Humanismus zu sammeln, sie durch Geschichte und Theorie in ihrem semantischen Umfeld zu konstituieren, sie zu vergleichen mit ähnlichen Konzepten in außereuropäischen Traditionen…” (S. 48) Ja, gerade darauf kommt es immer mehr an: den Humanismus und seine Ursprünge universal zu sehen und zu erkennen und auch in diesem Bereich endlich eine rein eurozentristische Weltsicht zu überwinden.
Beide Autoren üben im Vortrag “Antike Menschenbilder im humanistischen Diskurs” (Beijing 2012) historische Kritik an Martin Heideggers Brief “Über den Humanismus” aus dem Jahre 1946. Zu Heideggers Postulat “das Christentum sei Humanismus” schreiben sie prägnant: “Humanismus treibt keinen Kult und ist keine Religion. (…) das Christentum ist überall eine Erlösungsreligion, in einigen Regionen und Epochen stärker hellenisiert oder romanisiert, nie aber ist es ein Humanismus. Heideggers Annahme, das Christentum sei ein Humanismus, missbraucht beide Begriffe und die geschichtlichen Gegebenheiten.” (S. 64) Und auch 70 Jahre nach Heidegger können Kräfte der Gegenaufklärung mit dessen Postulat noch immer meist unwidersprochen in den Mainstreammedien hausieren gehen.
Um “die Wahrnehmung kultureller Verschiedenheit im antiken Hellas und in Rom” geht es in Hubert Canciks gleichnamigen Vortrag (Oxford 2011). Wie wurden eigentlich seinerzeit Völkerkunde und Geschichtsschreibung betrieben? Eine spannende Frage noch heute, er geht dazu u.a. auch näher auf künstlerische Reflexionen, wie die antiken Perser-Dramen, ein. Cancik stellt fest: “Die griechische Geschichtsschreibung hat Religion als eigenes Phänomen entdeckt, fremde Religionen ohne Abscheu und Bekehrungseifer wahrgenommen, beschrieben und mit der eigenen Religion verglichen.” (S. 71) Ach, wenn man das heute auch so betreiben würde – Stichwort “Islamophobie”. Was die Geschichtsschreibung angeht, so gibt es exemplarische schriftliche Überlieferungen aus der europäischen Antike.
Aber, und das ist für Cancik die große Frage, “wie haben die Anderen fremde Kulturen wahrgenommen und dargestellt?” (S. 85) Ja, gibt es Überlieferungen von Berichten von Gesandtschaften und Handelsreisenden, die seinerzeit aus dem Osten in den mediterranen Raum gekommen sind? Das dürfte für die Archäologen eine spannende Aufgabe sein. Cancik: “Wie Menschen Fremde wahrnehmen, wie sie sich ihr Bild von den Anderen machen und von sich selbst, ist eine fruchtbare, schwierige und notwendige Frage – nicht nur für die antike Kultur.” Es gelte zu suchen nach einem “interkulturellen Humanismus, nach anthropologischen Universalien, nach den kulturspezifischen Ausprägungen von Humanismus bzw. nach den Ursachen von Ethnozentrismus, Eurozentrismus, kolonialistischer Abwertung anderer Kulturen.” (S. 86)
Ein Vortrag von Hildegard Cancik untersucht und beleuchtet “Humanität und Freundschaft in der Sprichwörtersammlung des Erasmus” (Weimar 2012).
Um die griechischen und römischen Wurzeln eines modernen Konzepts geht es in Hubert Canciks Vortrag “Natur und Menschenrechte” (Houston 2009). Hierauf soll nicht näher eingegangen werden, da dessen Kernaussagen zum Allgemeinwissen gebildeter Menschen gehören sollten. Allerdings sollte man immer bedenken, dass Demokratie und auch Menschenrechte seinerzeit – in antiken Sklavenhaltergesellschaften – nur für eine winzige Minorität von Menschen, also sklavenbesitzenden Polis-Bürgern, galten. Was sich in spezifischer Form sogar bis in die neuere Neuzeit erhalten hat. Dennoch sind es zu verallgemeinernde Grundsätze.
Aus Sicht des Rezensenten kommt dem Vortragstext “Religionsfreiheit – ein Menschenrecht im Spannungsfeld von Humanismus, Reformation und Aufklärung – Zur Erinnerung an 1700 Jahre ‘Toleranz-Edikt’ 313 – 2013” (Berlin 2013) die größte Bedeutung zu. Insbesondere in Anbetracht aller theologisch-politischen Versuche, Gottes-Bezüge in Verfassungen aufzunehmen bzw. zu halten, des Jammerns über angeblich 100 Millionen verfolgte Christen weltweit und des Hypes um Luther und die Reformation (Luther-Dekade).
Gleich in der ersten Zwischenüberschrift macht Cancik darauf aufmerksam, worum es wirklich ging und gehen muss – um Religionsfreiheit für alle und nicht bloß für Christen, und damit auch um die Freiheit, keine Religion zu haben.
Cancik zitiert in einer Fußnote auf S. 132, dass lt. Kirchengeschichtsschreibung in der Zeit von Nero bis Konstantin elf Millionen verfolgte Christen als Märtyrer gestorben seien. Wissenschaftlichen Forschungen zufolge seien in diesem Zeitraum jedoch aber nur etwa 4.000 bis 5.000 Christen staatlichen Verfolgungen zum Opfer gefallen. Er selbst schreibt: “Die historische Forschung rechnet jetzt für die diokletianische Verfolgung mit insgesamt 2.500 bis 3.000. Die Repressalien waren wirkungslos. Licinus und Konstantin vereinbarten in Mailand, sie zu beenden und das Christentum durch die Verkündung einer allgemeinen, staatlich garantierten Religionsfreiheit in das System der römischen Reichsreligion aufzunehmen.” (S. 132)
Die beiden Kaiser verkünden 313 in ihrem sogenannten Toleranz-Edikt, “dass ein jeder die freie Verfügungsgewalt in der Verehrung dessen hat, was sich ein jeder ausgewählt hat.” (S. 133) Cancik dazu, dass es ihnen aber nicht um Duldung – Toleranz – des Christentums als Religion bzw. Kirche ging, denn: “Die beiden Kaiser verkünden vielmehr allgemeine und individuelle Religionsfreiheit. (…) Die Kaiser und ihre juristischen Berater benutzen keine speziellen, ‘positiven’ religiösen Ausdrücke. Religionsfreiheit ist eine zivile, rechtliche, sittliche Angelegenheit. Die Begriffe ‘Freiheit – Individualität – Wille’ konstituieren das Menschenrecht auf Selbstbestimmung des Einzelnen. (…) Sie werden mit der Vernunft und der Geschichtlichkeit des Menschen verbunden und bereits im 1. Jahrhundert v.u.Z. mit dem Begriff ‘Menschenwürde’ (dignitas hominis) zusammengefaßt.” (S. 133 – 134)
Dieses Edikt würdigt Cancik daher wie folgt: “Die Mailänder Vereinbarung von 313 ist die erste europäische Erklärung der allgemeinen und individuellen Religionsfreiheit. Sie ist das Paradigma für die humanistische Begründung von Religionsfreiheit als Menschenrecht.” Aber dabei dürfe man dieses keinesfalls vergessen: “außerhalb Europas gab es schon viel früher und unter völlig anderen Voraussetzungen eine Erklärung zu Toleranz und Religionsfreiheit.” (S. 135) Er benennt hier die diesbezüglich früheste schriftlich erhaltene staatliche Erklärung, die des indischen Herrschers Ashoka (304 – 232 v.u.Z)!
In seine Betrachtungen bezieht Cancik auch die Lehren des nordafrikanischen Christen Tertullian (etwa 150 bis 220) und die des Engländers Thomas Moore (1478 – 1535) in dessen Schrift “Utopia” mit ein. Und er stellt sich der Frage, warum das System von 313 schon nach wenigen Jahrzehnten zum Scheitern kam, als das Christentum unter Kaiser Theodosius I. (347 – 395) zur alleinigen Staatsreligion erhoben wurde – verbunden mit dem Totalverbot aller anderen Religionen (und des Atheismus). Diesen staatlichen Christentumszwang habe der “Heilige Augustinus” (354 – 430) als katholischer Bischof theologisch, juristisch und politisch begründet. Die Lehren des Augustinus seien darüber hinaus zu “einem Eckstein” der Lutherschen Reformation geworden. Erst mit den französischen und US-amerikanischen Erklärungen der Menschenrechte ab 1789 habe die Religionsfreiheit als individuelles Menschenrecht wieder Eingang in den christlich geprägten Raum gefunden – allerdings gegen den heftigen Widerstand des Klerus.
Cancik prangert daher die “Versuchung der nachträglichen Sakralisierung” der Menschenrechte, insbesondere der Religionsfreiheit, an und setzt sich mit den kirchlichen “Perspektiven für das Reformationsjubiläum 2017”, vor allem mit der 15. Perspektive, auseinander. Er zitiert diesbezüglich dem Bochumer Historiker Lucian Hölscher, der es auf den Punkt bringt: “Da sehe ich die Gefahr, dass man die protestantische Sicht mit historischen Fakten gleichsetzt.” (S. 151) Was wohl für das Christentum 2000jährige Tradition hat! Und beabsichtigt wird vom protestantischen Klerus in der Endkonsequenz nicht mehr und weniger als die allumfassende Sakralisierung von Kultur und Gesellschaft…
Cancik zitiert in einer Fußnote auf S. 152 schließlich den Rechtsphilosophen und Verfassungsjuristen Hasso Hofmann über die logische Konsequenz solch anmaßender, ahistorischer klerikaler Bestrebungen: “Christliche Freiheit ist Freiheit in und aus der [eigenen; SRK] Glaubenswahrheit. Danach gilt der Christ als frei und der Nichtchrist als unfrei.”
Der abschließende Text gibt Hubert Canciks Vortrag “Die Formierung einer ‘Abrahamitischen Religion’ im Rahmen der westeuropäischen Kultur: griechisch, römisch, humanistisch” wieder (Budapest 2013). In seinen Ausführungen schreibt er u.a.: “Abrahamitische Theologie und reale Religionsgeschichte lassen sich nicht in Deckung bringen.” (S. 169) “Menschenrechte sind individuelle, subjektive Rechte einer jeden Person. (…) Die Religionsfreiheit ist eines dieser Rechte. Sie ist nicht religiösen Ursprungs. Ihr Kontext ist der Anspruch des Menschen und Bürgers auf Freiheit der Meinung, der Rede und der Presse.” (S. 173) Und er folgert: “Die Lehre aus der Geschichte: Die Menschenrecht sakralisieren heißt – die Menschenrechte schwächen.” (S. 175) Denn die Geschichte lehre, “dass Religionsfreiheit und die Menschenrechte nicht von Religionen hervorgebracht wurden. Sie können nicht von Organisationen garantiert werden, die sich auf die ‘Weisheit der Religionen’ stützen. Religionsfreiheit und friedliche Beziehungen zwischen Glaubensgemeinschaften, das lehrt uns die Geschichte ebenfalls, beruhen auf einem breiten bürgerlichen Konsens, auf sozialer und politischer Freiheit, auf Selbstbestimmung und auf allgemeiner Sicherheit.” (S. 176)
Der Wert dieses Sammelbandes besteht nicht nur in der Publikation bislang unveröffentlichter akademischer Vortragstexte. Sein Wert besteht vor allem darin, dass mit ihm eine kompakte wissenschaftliche Handreichung all denen gegeben wird, die antike Quellen nicht im Original lesen können. Der Sammelband ist zugleich eine ausgezeichnete Argumentationshilfe für Humanisten im Diskurs über Menschenrechte, Religionsfreiheit und Humanismus.
Dafür sei den Autoren Hubert Cancik und Hildegard Cancik-Lindemaier sowie dem Herausgeber Horst Groschopp lobender Dank gesagt. Nicht unerwähnt bleiben soll, dass Gabriele Groschopp auch für diesen Band in bewährter Weise das Layout besorgt hat und hier insbesondere für eine optimale Platzierung der Illustrationen Sorge trug.
Hubert Cancik & Hildegard Cancik-Lindemaier: Humanismus – ein offenes System. Schriftenreihe der Humanistischen Akademie Deutschland, Band 5. 188 S. m.Abb. kart. Alibri-Verlag. Aschaffenburg 2014. 15 Euro. ISBN 978–3–86569–162–0
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1 Kommentar
Kommentare
weber am Permanenter Link
Die mir bekannte Bezeichnung für System ist, "die Gesamtheit von aufeinander bezogenen oder miteinander verbundenen Elementen, die als Einheit angesehen werden", die Betonung liegt dabei auf Einheit.
Wie kann dann ein System offen sein?
Beispiel Deutschland-Polen 0:2, der deutsche Fussball verharrt im System.