In den Regionen dieser Welt mit gebildeteren und aufgeklärteren Menschen verlieren die religiösen Weltbilder an Einfluss, wissenschaftlich fundierte Sichten auf Natur und Mensch dagegen gewinnen an Bedeutung. Dieser Wandel vollzieht sich nicht ohne dramatische Auseinandersetzungen.
Die Vertreter metaphysischer Vorstellungen bäumen sich auf und verteidigen umso entschlossener ihre Jahrhunderte alten Glaubenssätze. Sie wollen nicht wahrhaben, dass ihre Zeit abläuft. Die Anwälte des neuen Denkens setzen überlegt und sachlich auf Rationalität und auf die Naturwissenschaften, die man treffender als Wissenschaften von der Wirklichkeit bezeichnen könnte. Sie entwickelten auf dieser Basis eine betont nichtreligiöse Anschauung von der Welt mit einer naturalistischen Sicht auf die uns umgebenden Dinge und Erscheinungen, eine vernunftbasierte, säkulare Ethik und eine auf das Diesseits orientierte Lebensgestaltung – so ganz ohne Götter und Dämonen.
Ein kompetenter Vertreter dieses neuen Denkens ist Bernd Vowinkel, u. a. Physiker, Astronom und Autor wissenschaftlicher und populärwissenschaftlicher Bücher und Artikel über maschinelles Bewusstsein, künstliche Intelligenz und Transhumanismus sowie der damit verbundenen philosophischen Fragen und Folgerungen. Er ist Mitglied des Beirates der Giordano-Bruno-Stiftung und zudem aktiv in der religionskritischen Regionalgruppe Köln des Förderkreises der Giordano-Bruno-Stiftung. Sein vorliegendes Buch ist der sehr gelungene Versuch, ein in sich konsistentes Weltbild auf der Grundlage unserer heutigen wissenschaftlichen Einsichten zu skizzieren. Es beschreibt – wie es der Untertitel zum Ausdruck bringt – die Philosophie des sog. neuen Humanismus.
In sieben Kapiteln entwickelt der Autor sein Konzept eines neuen Humanismus. Einige wenige Punkte seien herausgegriffen. Der Autor startet im Kapitel Humanismus mit einem Blick auf die Geschichte des Humanismus. Fragt dann im nächsten Kapitel nach den Quellen unserer Erkenntnis und ihren möglichen Grenzen. Er befasst sich sodann mit der "Wirklichkeit", deren Existenz bekanntlich nicht zu beweisen ist, an deren tatsächliche Existenz wir dennoch nicht ernsthaft zweifeln. Diese Wirklichkeit ist der Gegenstand der Naturwissenschaften, weswegen diese treffend auch als Wirklichkeitswissenschaften bezeichnet werden. Sie bilden insofern die Grundlage jeden verlässlichen Denkens und Forschens über Mensch, Natur und die Welt. Es folgen im nächsten Kapitel Gedanken zum neuen, die Religionen hinter sich lassenden Menschenbild, das die Naturwissenschaften, allen voran die Evolutionstheorie, provoziert haben. Weiter stellt sich der Autor u. a. den Fragen, was Bewusstsein ist und ob wir einen freien Willen haben. Im Kapitel Ethik wird aufgezeigt, welche Rolle der Vernunft bei ethischen Problemen zukommt, und es wird die begrifflich so schwer greifbare Menschenwürde diskutiert und vorgeschlagen, stattdessen sinnvoller von der "persönlichen Autonomie" zu sprechen. Im Kapitel Gesellschaftspolitik wendet sich der Blick den Fragen des Zusammenlebens zu, und es werden Probleme der weltanschaulichen Neutralität des Staates, der Bioethik (Stichworte: PID, Genmanipulation, Sterbehilfe), der Entwicklungshilfe, der sozialen Gerechtigkeit und offenen Gesellschaft erörtert. Im Schlusskapitel Zukunft wird der Transhumanismus thematisiert, jene Disziplin, die sich mit der physischen und kognitiven Weiterentwicklung des Menschen befasst, sei es durch planmäßig gesteuerte Evolution oder durch Nutzung der Vielzahl technischer Möglichkeiten, um die natürlichen Fähigkeiten des Menschen durch Verstärkung und Erweiterung mit Hilfe von Informations- und Nanotechnik zu steigern.
Maschinen mit Bewusstsein, wie sie der Autor für möglich hält und auch erwartet, dürften nicht nur das bisher immer noch tendenziell religiös geprägte Menschenbild endgültig demontieren, sie würden wohl den Dualismus von Geist und Materie definitiv als überholt erscheinen lassen. Eine hochspannende, für manche eine höchst beunruhigende Vision ist die vom Autor thematisierte "technologische Singularität", die Entwicklung einer ultraintelligenten Maschine als letzte Erfindung des Menschen; "letzte" Erfindung deswegen, weil Intelligenz und Kreativität einer solchen Maschine das Können eines noch so intelligenten Menschen bei Weitem übertreffen und damit den Menschen als Motor der Entwicklung ablösen würde.
Das Spektrum der behandelten Fragen und Probleme ist wesentlich umfassender als hier angedeutet. Eine Stärke dieses Buches ist, dass die Merkmale eines Weltbildes und einer Gesellschaftsordnung nach den Vorstellungen des neuen Humanismus sachkundig und detailliert betrachtet, philosophisch reflektiert, auch mit Quellen belegt, und in einer Form dargestellt werden, die dem schon Informierten noch viel Neues zu bieten hat, für den mehr allgemein Interessierten dabei gut verständlich bleibt. Die eigentliche Leistung dieses Buches sehe ich in seiner Überblick und Orientierung über ein umfassendes Gebiet gebenden Funktion. Es werden die relevanten Fragen aus der Perspektive des Denkens des neuen, des naturalistischen Humanismus behandelt und beantwortet – vom Beitrag der Naturwissenschaften, über die Ethik und deren Begründung durch Vernunft und Erfahrung bis hin schließlich zu Fragen des Lebenssinns und der Lebensgestaltung bei einer stetig wachsenden und sich näher kommenden Weltbevölkerung. In einer Zeit sich immer weiter spezialisierender Disziplinen ist die Fähigkeit eines Autors hoch zu schätzen, die relevanten Aussagen zu einem in sich schlüssigen Weltbild, hier des neuen Humanismus, übersichtlich und gut verständlich zusammengestellt zu haben.
Als Rezensent gestehe ich freimütig, bei der Lektüre viel Neues und Wissenswertes gelernt zu haben, obwohl ich mich selbst auf diesem Gebiet keinesfalls als Neuling betrachte. Ganz nebenbei möchte ich anmerken: Als junger Student, der damals nach Orientierung und Sinnstiftung suchte, hätte ich ein solches Buch geradezu verschlungen. Aber auch das muss wohl konstatiert werden: Vieles von dem hier Gesagten wird einem fest im Glauben und in der Tradition des christlich-abendländischen Denkens stehenden Menschen kaum bewegen, von seinen Auffassungen über "Gott und Religion" zu lassen. Hier gilt jedoch das Wort von Max Planck, Begründer der Quantenphysik, der damals über seine Widersacher sagte: "Eine neue wissenschaftliche Wahrheit pflegt sich nicht in der Weise durchzusetzen, dass ihre Gegner überzeugt werden und sich als belehrt erklären, sondern dadurch, dass die Gegner allmählich aussterben und dass die heranwachsende Generation von vornherein mit der Wahrheit vertraut gemacht ist."
Bernd Vowinkel: Wissen statt Glauben! Das Weltbild des neuen Humanismus. Lola Books, Berlin 2018, 423 S., ISBN 978-3-944203-33-1, 25,00 Euro
Siehe auch den Bericht vom Humanistischen Salon Nürnberg.
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Junius am Permanenter Link
Wissenschaften sind der organisierte und gemeinschaftliche Versuch, nachprüfbare Modelle beobachtbarer Zusammenhänge zu erstellen und weiterzuentwickeln.
Weltbilder oder Weltanschauungen sind dagegen subjektorientierte Vorstellungen „über das Leben und alles“. Da sie überzeugen wollen und umfassend zu sein vorgeben, füllen sie zwangsläufig die Lücken ihres Wissen durch Fantasievorstellungen, durch Wunsch- oder Angstträume unterschiedlicher Art.
Wissenschaftliche Weltbilder scheitern schon daran, daß niemand heute mehr in der Lage ist, einen vollständigen Überblick auch nur über unser gegenwärtiges Wissen zu haben, zu wissen, wie groß unser Nichtwissen eigentlich ist, oder wo unser heutiges Wissen der Irrtum von morgen ist. Anzunehmen, unsere heutigen wissenschaftlichen Vorstellungen hätten höchstens noch kleinere Lücken und wir könnten „von einem wissenschaftlichen Weltbild sprechen“ (O-Ton Vowinkel), dürfte einer dieser Irrtümer sei.
Wissenschaften sind sachorientiert und unvollständig, Weltbilder wie Weltanschauungen dagegen subjektorientiert, umfassend und daher voller Illusionen. Ein „wissenschaftliches Weltbild“ ist somit notwendig ein Widerspruch in sich. Nach dem Scheitern religiöser wie philosophischer Glaubensvorstellungen sollten wir, kaum das wir den einen -ismus hinter uns gebracht zu haben meinen, nicht umgehend einen „neuen“ aus der Taufe heben, sondern es vielleicht eine Zeit lang mal mit der Glaubenslosigkeit versuchen.