Cradle to Cradle Kongress in Lüneburg

Auf dem Weg zu einer humanistischen Ökologie

Die Rede von der “Bewahrung der Schöpfung”, die in ökologistischen Kreisen so ungemein populär ist, ist daher gleich in zweifacher Hinsicht problematisch: Erstens, weil aus wissenschaftlicher Sicht nichts dafür spricht, dass so etwas wie eine “Schöpfung” überhaupt stattgefunden hat. Zweitens – und das ist für das Konzept noch viel verheerender, weil der vermeintliche Schöpfer, wenn es ihn denn gäbe, gar kein Interesse an der “Bewahrung seiner Schöpfung” haben dürfte, denn ansonsten hätte er die Parameter des Kernfusionsreaktors Sonne sicherlich etwas lebensfreundlicher eingestellt. Möglich gewesen wäre dies allemal, immerhin gibt es in unserer Galaxie viele Millionen Sonnen, die weit länger und zuverlässiger brennen als jenes instabile Gebilde, um das wir armen Erdlinge kreisen.

Worauf ich hinauswill: Wenn wir die vielen Forschungsergebnisse, die wir besitzen, zur Kenntnis nehmen, wird klar, wie falsch, wie irreführend das traditionelle, romantisch verklärte Naturbild ist. Wir sind eben nicht – wie es im klassischen Ökologismus unterstellt wird – Teil einer gut gemeinten, gut gemachten “Schöpfung”, die ohne den zerstörerischen Zugriff des Menschen “heil” wäre, sondern eines hochsensiblen, verletzlichen Ökosystems, das ohne Einsatz menschlicher Technologie von vornherein dem Untergang geweiht ist!

Nicht der technologische Fortschritt ist also das Problem, sondern die Tatsache, dass unsere Technologie bislang nicht fortschrittlich, nicht intelligent genug ist. Genau hier setzt Cradle to Cradle an, das uns eine intelligentere Form des Produzierens und Konsumierens abverlangt. Um es einmal salopp zu formulieren: Im Unterschied zum traditionellen Ökologismus führt C2C die globale Misere nicht direkt auf die gestiegene Biomasse des Menschen zurück, sondern vielmehr auf die zu wenig genutzte Hirnmasse. Die zentrale Botschaft lautet: An sich sind wir nicht zu viele, wir sind bislang einfach nur zu blöde, um so viele sein zu können. Denn jede ökologische Nische verträgt nur ein gewisses Maß an Dummheit – und der Mensch überspannt den Bogen in dieser Hinsicht gewaltig.

Aber das muss nicht zwangsläufig so sein. Wenn wir lernen würden, in Kreisläufen zu denken, könnte der Mensch selbst in einer Population von 10 Milliarden vom Umweltschädling zum Umweltnützling heranreifen. Der Clou von C2C besteht ja gerade darin, den negativen Fußabdruck des Menschen nicht bloß zu reduzieren, sondern seinen positiven Fußabdruck zu verstärken. Während der traditionelle Ökologismus in jedem neugeborenen Kind eigentlich nur eine Verschärfung des Umweltproblems sehen kann, ist mit ihm aus C2C- Perspektive die Hoffnung auf mehr Kreativität verbunden, die uns dazu verhelfen könnte, bessere, menschen- und umweltfreundlichere Lösungen zu finden. Dieser positive Blick auf die Entwicklungspotentiale des Menschen weist Cradle to Cradle als den ersten ökologischen Ansatz aus, der zutiefst humanistisch ist. Ein Aspekt, der in Zukunft, wie ich meine, noch sehr viel stärker herausgearbeitet werden sollte.

Nun weht Cradle to Cradle nicht nur von traditionellen Ökologisten Widerstand entgegen, sondern auch von ökologischen oder technologischen Pragmatikern, die sich überhaupt nicht vorstellen können, dass die Weltwirtschaft jemals in ihrer Gänze nach C2C-Kriterien funktionieren könnte. Man kann diese Skepsis durchaus nachvollziehen. Im Grunde sprechen wir bei ja Cradle to Cradle von nichts Geringerem als von der vierten industriellen Revolution, von gesellschaftlichen Umwälzungen, die etwa vergleichbar sein dürften mit jenen, die mit der Verbreitung der Dampfmaschine, der Elektrifizierung und der Digitalisierung einhergegangen sind.

Die Herausforderungen, vor denen wir stehen, könnten wahrlich kaum größer sein – und so ist es kein Wunder, dass viele vor der Größe dieser Aufgabe zurückschrecken. Unseren gesamten Stoffwechsel mit der Natur nach C2C- Kriterien neu organisieren zu wollen, das klingt zugegebenermaßen größenwahnsinnig. Momentan halten es daher auch nur die allerwenigsten Experten für denkbar, dass solch ein Ziel technologisch und kulturell umsetzbar wäre. Allerdings sollte man den unter Experten verbreiteten Mangel an Phantasie nicht als Realismus fehldeuten. Im Gegenteil: Um künftige Entwicklungen realistisch einschätzen zu können, muss man mit Möglichkeiten rechnen, die derzeit noch völlig unrealistisch erscheinen. Ein Blick in die Geschichte beweist, dass die Menschheit immer wieder innerhalb kürzester Zeiträume Fortschritte machen konnte, die kein Realist, kein Pragmatiker zuvor für möglich gehalten hätte.

Denken Sie nur daran, wo die Menschheit noch Anfang des 20. Jahrhunderts stand: Sie wusste noch nichts vom Urknall, von fremden Galaxien und schwarzen Löchern, von den Vorgängen im Atom und in der Sonne, sie ahnte noch nichts von der Bedeutung der DNA, den neuronalen Grundlagen des Bewusstseins und schon gar nichts von den Möglichkeiten des Fernsehens, Computers oder Internets. Ihre medizinischen Kenntnisse waren damals noch so begrenzt, dass schon kleinste Schnittverletzungen den Tod bedeuten konnten. Auch in ethisch-politischer Hinsicht lebten die Menschen in einem völlig anderen Zeitalter: Es gab kaum Demokratien und die wenigen demokratischen Länder, die es gab, gewährten den Frauen selbstverständlich kein Wahlrecht, Minderheiten wurden rigoros verfolgt, Lesben und Schwule diskriminiert, Kinder gezüchtigt, Rassismus und Chauvinismus boomten und der Krieg wurde von Bevölkerungsmehrheiten mit solchem Enthusiasmus begrüßt, als handele es sich um ein internationales Sportereignis.

Wir, die Bürgerinnen und Bürger der modernen Wissenschaftsgesellschaften stehen heute zweifellos in fast jeder Hinsicht besser da als die Menschen vergangener Zeiten – und es wäre völlig absurd, zu glauben, dass mit dem gegenwärtigen Stand der Zivilisation die Entwicklungspotentiale der Menschheit bereits ausgereizt wären. Im Gegenteil: Wir sollten davon ausgehen, dass die Menschheit in der Wissenschaft, der Technologie, Medizin, Kunst und Ethik in den nächsten Jahrzehnten und Jahrhunderten ein Entwicklungsniveau erreichen kann, das so weit von unseren heutigen Möglichkeiten entfernt ist, dass wir uns dies gar nicht vorstellen können.