Cradle to Cradle Kongress in Lüneburg

Auf dem Weg zu einer humanistischen Ökologie

Es ist daher keineswegs unrealistisch, davon auszugehen, dass es uns in den nächsten Jahrzehnten gelingen könnte, Produktion und Konsumtion nach Cradle to Cradle-Kriterien umzugestalten. Ich bin hier aus drei Gründen sehr optimistisch: Erstens, weil in der Bevölkerung bereits ein Mentalitätswandel eingesetzt hat, der Cradle to Cradle sehr entgegenkommt. Gerade jüngere Menschen interessieren sich nicht mehr dafür, bestimmte Güter materiell zu besitzen, es kommt ihnen vielmehr darauf an, die entsprechenden Services nutzen zu können. So käme es meinen Kinder gar nicht in den Sinn, wie ihr verrückter Vater CDs und Schallplatten zu sammeln. Die Musik, die sie hören wollen, laden sie sich aus der Cloud herunter. In diesem Sinne liegt das C2C- Prinzip “Service nutzen, statt Hardware besitzen” voll im Trend der Zeit.

Wichtiger noch ist ein zweiter Aspekt: Anders als der traditionelle Ökologismus macht Cradle to Cradle nicht den Fehler, den Altruismus des Einzelnen zu überreizen. Wir wissen ja aus der Geschichte nur zu gut, dass Ideensysteme, die dem Individuum abverlangen, auf eigene Vorteile zugunsten eines abstrakten Allgemeinwohls zu verzichten, zum Scheitern verurteilt sind. Völlig zu Recht stellt C2C daher die Vorteile in den Mittelpunkt, die der Ansatz für jedes einzelne Individuum hat.

Damit verbunden ist ein dritter Aspekt, der meines Erachtens in besonderer Weise für den Erfolg von Cradle to Cradle spricht: C2C ist nämlich der erste ökologische Ansatz, der im Einklang mit modernen evolutionsbiologischen Erkenntnissen steht. Lassen Sie mich das kurz erläutern: Lange Zeit haben Evolutionsbiologen ähnlich gedacht wie traditionelle Ökologisten. Sie gingen davon aus, dass die Lebewesen im Kampf ums Überleben darauf bedacht sein müssten, ihre Ressourcen möglichst effizient und sparsam einzusetzen.

C2C Kongress 2014

Allerdings hat schon Charles Darwin darauf hingewiesen, dass man die Vielfalt der Formen und die Pracht der Farben in der Natur mit einem solchen evolutionären Sparsamkeitsprinzip nicht erklären kann. In seinem zweiten evolutionsbiologischen Hauptwerk “Die Abstammung des Menschen” ergänzte er die Lehre von der natürlichen Auslese, die von Effizienzkriterien geprägt ist, um die Lehre von der sexuellen Auslese, die erklärt, warum wir in der Natur so viel “intelligente Verschwendung” vorfinden. Darwin zeigte auf, dass diese verschwenderische, sexuelle Selektion für die Entstehung der Arten, insbesondere für die Entwicklung des Menschen, von allergrößter Bedeutung ist. Allerdings rechnete Darwin damit, dass es angesichts der auch unter Wissenschaftlern verbreiteten Prüderie wohl noch Jahrzehnte dauern würde, bis dieses Faktum allgemein akzeptiert würde.

Tatsächlich begannen die Forscher erst 100 Jahre nach Darwins Tod die enorme Bedeutung der sexuellen Selektion zu begreifen. Heute gibt es keinen namhaften Naturforscher mehr, der dieses Prinzip bestreiten würde. Denn in der Evolution geht es keineswegs nur um das “Survival of the Fittest” (wie es leider heute noch in den meisten Schulbüchern steht), sondern nicht zuletzt auch um das “Survival of the Sexiest”. Um sich fortpflanzen zu können, muss ein Organismus eben nicht nur so gut angepasst sein, dass er lange genug überlebt, er muss zudem auch noch attraktiv auf seine Artgenossen wirken, um Sexualpartner zu finden. Attraktiv wirken aber nur solche Individuen, die es sich leisten können, überschüssige Energie in Schönheit zu investieren, denn dadurch demonstrieren sie auf verführerischer Weise, dass sie aus dem Vollen schöpfen, also verschwenderisch mit ihren Ressourcen umgehen können.

Halten wir fest: Intelligente Verschwendung ist ein Grundprinzip der sexuellen Selektion und damit natürlich auch ein Grundprinzip des Lebens, weshalb man evolutionär entstandenen Lebewesen wie uns den Aufruf zum Verzicht schwerlich vermitteln kann. Mit der Botschaft, auf jegliche Verschwendung zu verzichten, erreicht man allenfalls einige asexuelle Asketen. Für die breite Masse ist diese Botschaft schlichtweg nicht sexy genug und wird daher auch keinen Widerhall in den Köpfen und Herzen der Menschen finden.

Michael Braungart hat daher auch aus evolutionsbiologischer Perspektive Recht, wenn er darauf besteht, dass gute Produkte nicht nur ökologisch nachhaltig, sondern auch ästhetisch schön, sprich: kreativ verschwenderisch sein sollten. Ich halte dies für einen entscheidenden Punkt – auch wenn viele ihn leider missverstehen. Die meisten denken beim Wort “Verschwendung” sofort an Müllberge. Allerdings resultieren die wachsenden Müllberge der Erde ja nicht aus der kreativen Verschwendung, sondern vielmehr aus der unkreativen Vergeudung von Ressourcen. Es dürfte eine der dringenden kulturellen Aufgaben der nächsten Zeit sein, ein Bewusstsein zu schaffen für diesen fundamentalen Unterschied von lebensförderlicher Verschwendung und lebensfeindlicher Vergeudung.

Meine Damen und Herren, die unansehnlichen, mehligen, mit Maden durchsetzten Bioäpfel der 80er Jahre sind aus unseren Bioläden glücklicherweise längst verschwunden. Es ist nun an der Zeit, dass auch das dahinter stehende unnatürliche, letztlich zynische Ökologiekonzept aus den Köpfen der Menschen verschwindet. Sollte es dazu kommen, werden wir erleben, dass viele neue, kreative Energien freigesetzt werden – gerade auch bei solchen Kräften, die das so fürchterlich unattraktiv wirkende ökologische Terrain bisher gemieden haben wie der sprichwörtliche Teufel das Weihwasser.

Wenn es uns gelingen sollte, das Schreckgespenst des “Beiß-in-den-mehligen- Apfel”-Ökologismus zu vertreiben, kann ich mir gut vorstellen, dass Deutschland mit seinem großen technologischen und wirtschaftlichen Potential eine Vorreiterrolle spielen könnte bei der Durchsetzung von C2C-Prinzipien weltweit. Vielleicht kann dieser Kongress ein klein wenig dazu beitragen. Ich danke Ihnen für Ihre Aufmerksamkeit.