Es ist daher keineswegs unrealistisch, davon auszugehen, dass es uns in den nächsten Jahrzehnten gelingen könnte, Produktion und Konsumtion nach Cradle to Cradle-Kriterien umzugestalten. Ich bin hier aus drei Gründen sehr optimistisch: Erstens, weil in der Bevölkerung bereits ein Mentalitätswandel eingesetzt hat, der Cradle to Cradle sehr entgegenkommt. Gerade jüngere Menschen interessieren sich nicht mehr dafür, bestimmte Güter materiell zu besitzen, es kommt ihnen vielmehr darauf an, die entsprechenden Services nutzen zu können. So käme es meinen Kinder gar nicht in den Sinn, wie ihr verrückter Vater CDs und Schallplatten zu sammeln. Die Musik, die sie hören wollen, laden sie sich aus der Cloud herunter. In diesem Sinne liegt das C2C- Prinzip “Service nutzen, statt Hardware besitzen” voll im Trend der Zeit.
Wichtiger noch ist ein zweiter Aspekt: Anders als der traditionelle Ökologismus macht Cradle to Cradle nicht den Fehler, den Altruismus des Einzelnen zu überreizen. Wir wissen ja aus der Geschichte nur zu gut, dass Ideensysteme, die dem Individuum abverlangen, auf eigene Vorteile zugunsten eines abstrakten Allgemeinwohls zu verzichten, zum Scheitern verurteilt sind. Völlig zu Recht stellt C2C daher die Vorteile in den Mittelpunkt, die der Ansatz für jedes einzelne Individuum hat.
Damit verbunden ist ein dritter Aspekt, der meines Erachtens in besonderer Weise für den Erfolg von Cradle to Cradle spricht: C2C ist nämlich der erste ökologische Ansatz, der im Einklang mit modernen evolutionsbiologischen Erkenntnissen steht. Lassen Sie mich das kurz erläutern: Lange Zeit haben Evolutionsbiologen ähnlich gedacht wie traditionelle Ökologisten. Sie gingen davon aus, dass die Lebewesen im Kampf ums Überleben darauf bedacht sein müssten, ihre Ressourcen möglichst effizient und sparsam einzusetzen.
Allerdings hat schon Charles Darwin darauf hingewiesen, dass man die Vielfalt der Formen und die Pracht der Farben in der Natur mit einem solchen evolutionären Sparsamkeitsprinzip nicht erklären kann. In seinem zweiten evolutionsbiologischen Hauptwerk “Die Abstammung des Menschen” ergänzte er die Lehre von der natürlichen Auslese, die von Effizienzkriterien geprägt ist, um die Lehre von der sexuellen Auslese, die erklärt, warum wir in der Natur so viel “intelligente Verschwendung” vorfinden. Darwin zeigte auf, dass diese verschwenderische, sexuelle Selektion für die Entstehung der Arten, insbesondere für die Entwicklung des Menschen, von allergrößter Bedeutung ist. Allerdings rechnete Darwin damit, dass es angesichts der auch unter Wissenschaftlern verbreiteten Prüderie wohl noch Jahrzehnte dauern würde, bis dieses Faktum allgemein akzeptiert würde.
Tatsächlich begannen die Forscher erst 100 Jahre nach Darwins Tod die enorme Bedeutung der sexuellen Selektion zu begreifen. Heute gibt es keinen namhaften Naturforscher mehr, der dieses Prinzip bestreiten würde. Denn in der Evolution geht es keineswegs nur um das “Survival of the Fittest” (wie es leider heute noch in den meisten Schulbüchern steht), sondern nicht zuletzt auch um das “Survival of the Sexiest”. Um sich fortpflanzen zu können, muss ein Organismus eben nicht nur so gut angepasst sein, dass er lange genug überlebt, er muss zudem auch noch attraktiv auf seine Artgenossen wirken, um Sexualpartner zu finden. Attraktiv wirken aber nur solche Individuen, die es sich leisten können, überschüssige Energie in Schönheit zu investieren, denn dadurch demonstrieren sie auf verführerischer Weise, dass sie aus dem Vollen schöpfen, also verschwenderisch mit ihren Ressourcen umgehen können.
Halten wir fest: Intelligente Verschwendung ist ein Grundprinzip der sexuellen Selektion und damit natürlich auch ein Grundprinzip des Lebens, weshalb man evolutionär entstandenen Lebewesen wie uns den Aufruf zum Verzicht schwerlich vermitteln kann. Mit der Botschaft, auf jegliche Verschwendung zu verzichten, erreicht man allenfalls einige asexuelle Asketen. Für die breite Masse ist diese Botschaft schlichtweg nicht sexy genug und wird daher auch keinen Widerhall in den Köpfen und Herzen der Menschen finden.
Michael Braungart hat daher auch aus evolutionsbiologischer Perspektive Recht, wenn er darauf besteht, dass gute Produkte nicht nur ökologisch nachhaltig, sondern auch ästhetisch schön, sprich: kreativ verschwenderisch sein sollten. Ich halte dies für einen entscheidenden Punkt – auch wenn viele ihn leider missverstehen. Die meisten denken beim Wort “Verschwendung” sofort an Müllberge. Allerdings resultieren die wachsenden Müllberge der Erde ja nicht aus der kreativen Verschwendung, sondern vielmehr aus der unkreativen Vergeudung von Ressourcen. Es dürfte eine der dringenden kulturellen Aufgaben der nächsten Zeit sein, ein Bewusstsein zu schaffen für diesen fundamentalen Unterschied von lebensförderlicher Verschwendung und lebensfeindlicher Vergeudung.
Meine Damen und Herren, die unansehnlichen, mehligen, mit Maden durchsetzten Bioäpfel der 80er Jahre sind aus unseren Bioläden glücklicherweise längst verschwunden. Es ist nun an der Zeit, dass auch das dahinter stehende unnatürliche, letztlich zynische Ökologiekonzept aus den Köpfen der Menschen verschwindet. Sollte es dazu kommen, werden wir erleben, dass viele neue, kreative Energien freigesetzt werden – gerade auch bei solchen Kräften, die das so fürchterlich unattraktiv wirkende ökologische Terrain bisher gemieden haben wie der sprichwörtliche Teufel das Weihwasser.
Wenn es uns gelingen sollte, das Schreckgespenst des “Beiß-in-den-mehligen- Apfel”-Ökologismus zu vertreiben, kann ich mir gut vorstellen, dass Deutschland mit seinem großen technologischen und wirtschaftlichen Potential eine Vorreiterrolle spielen könnte bei der Durchsetzung von C2C-Prinzipien weltweit. Vielleicht kann dieser Kongress ein klein wenig dazu beitragen. Ich danke Ihnen für Ihre Aufmerksamkeit.
5 Kommentare
Kommentare
Franz am Permanenter Link
Und was ist Cradle to Cradle nun? Mehr als "Verschwenden statt sparen" konnte ich aus dem Referat nicht herauslesen.
Mich erschreckt außerdem die Denkweise, eine in der Evolution gefunde Regel, das Survivest of the sexiest, als halbgare Begründung für diese Verschwendungsideologie heranzuziehen. Genau so wenig wie Evolution als Argument für den Sozialdarwinismus herhalten kann, kann sie es für das ökologische Handeln in der kapitalistischen Gesellschaft sein.
Erhaltung der Artenvielfalt und einer Umwelt, wie wir sie heute kennen, muss weder mit der Erhaltung der Schöpfung gleichgesetzt werden (was hier wohl lediglich eine "aufklärerische" Argumentationsweise erleichtern sollte) noch ist sie als reine Kosten-Nutzenrechnung auf heutigem Stand der Wissenschaft betrachtbar.
Wenn schon nach "mehr Hirn" gesehent wird, warum dann nicht gleich in Verbindung mit einer ideologiefreien Ökologiepolitik, als verkrampft einen Gegenpol zum Ökologismus herbeizureden?
Mich wundert es nach diesem Referat wirklich nicht, dass ich bisher noch nichts von Cradle to Cradle gehört habe.
Hendrik am Permanenter Link
Man muss bei einem Referat, welches auf einem Cradle to Cradle Kongress gehalten wurde natürlich davon ausgehen, dass die Teilnehmer des Kongressen bereits wissen, was Cradle to Cradle ist.
Natürlich kann die Evolution nicht als Argument für den Sozialdarwinismus herhalten. Allerdings darf man mit ihr als Argument getrost davon ausgehen, dass Gesellschaftssysteme zum Scheitern verurteilt sind, die von Individuen verlangen, dass sie ihre fitness nicht zu verbessern suchen.
Äquivalent darf das Prinzip "survival of the sexiest" als starker Hinweis gelten, dass auch Gesellschaftssysteme die zu sehr den Verzicht predigen zum Scheitern verurteilt sind. Das System wäre schlicht nicht mit der Natur des Menschen zu vereinen, das ist hier das Argument. Das Argument ist nicht, dass zur absoluten Verschwendung aufgerufen wird indem das "survival of the sexiest" von einem Naturgesetz zu einer Art moralischem Gesetz umgeformt wird (und dies wäre ja das entsprechende Äquivalent zum Sozialdarwinismus).
Die Cradle to Cradle-Idee ganz bestimmt nicht auf nahezu ALLE Konsum- und Produktionsweisen anwendbar. Ganz im Gegenteil: Die Aufgabe besteht gerade darin, jene Konsum- und Produktionsweisen zu (er)finden, die der Idee entsprechen. Und eben nicht den Versuch zu starten Konsum und Produktion stattdessen abzuschaffen (Verzicht-Prinzip), was aufgrund o.g. Argumente als krass unrealistisch erscheinen muss.
Am Ende kennen wir als Ansätze zu langfristiger Nachhaltigkeit bisher den Verzicht und Cradle-to-Cradle-ähnliche Ansätze. Verzicht ist theoretisch möglich, das ist sofort ersichtlich - allerdings muss man den Menschen als Faktor komplett ignorieren. Cradle to Cradle ist, wenn es technologisch möglich ist auch praktisch möglich - das ist der entscheidende Vorteil.
Wolfgang am Permanenter Link
Etwas sarkastisch zusammengefasst meine Interpretation der Aussagen Michael Schmidt-Salomons:
1. kurzfristiges Heilsversprechen (Beseitigung unserer ökologischen Probleme durch ungehemmten Konsum) auf Basis einer unsicheren Vision
2. Verleitet zum Zurückstellen dringend notwendiger Maßnahmen durch vage Hoffnung auf eine einfache Lösung des Problems in der Zukunft
3. es klingt der Versuch durch, die Ökobewegung / Zweifler am C2C durch eine pauschalisierte Darstellung als emotional verblendet darzustellen. Damit spart man sich eine sachliche Beschäftigung mit den Einwänden und Bedenken. Eine teilweise vergleichbare Situation war die Diskussion zur Stromerzeugung aus Mais und anderen Pflanzen, die doch in der Folge zu gravierenden negativen Auswirkungen führte
4. bei Nachlesen der C2C-Standards muss man feststellen, dass alle Produkte mit einem C2C-Standard BASIC, BRONCE, SILVER, GOLD immer noch der Umwelt schaden, d.h.: das Siegel vermittelt eine falsche Sicherheit über die Nützlichkeit der Produkte
und jetzt alles noch mal genauer:
Im C2C-Produktstandard (http://www.c2ccertified.org/images/uploads/C2CCertified_Product_Standard_V3_121112.pdf) werden die unterschiedlichen Anforderungen an die Zertifikate beschrieben. Der Wiederverwendungsanteil des Materials von Produkten liegt bei einem Produkt mit dem Label C2C-Gold bei 65 %, erst Platin-Produkte (heutige Anzahl in der C2C-DB: KEINE Einträge http://www.c2ccertified.org/products/registry ) lassen sich so weiter verwerten, dass beim Verschwenden keine Müllberge entstehen. Auch der bei der Herstellung verwendete Strom wird berücksichtigt und spiegelt sich sinnvollerweise im Zertifikat wider. Erst ein C2C-Produkt der Klasse Platin wird zu 100 % aus regenerativer Elektrizität hergestellt. Der aktuelle Plan bzgl. der Versorgung der EU mit regenerativen Energien liegt für das Jahr 2050 bei 60 % (Quelle UBA). Deshalb wird schon aus Sicht der Energiebereitstellung eine Umsetzung des C2C-Prinzips „PLATIN“ in der Fläche bis dahin nicht möglich sein.
Das von Braungart und Schmidt-Salomon befürwortete lebensförderliche Verschwenden ist bis 2050 damit sicher in der Fläche eine Illusion und wird wahrscheinlich in der Übergangszeit bis zum aus meiner Sicht unwahrscheinlichen Erreichen des flächendeckenden C2C-Einsatzes zu einer Verschlimmerung der Situation führen.
MSS hat durchaus recht, wenn er feststellt, dass eine für das Individuum positive Botschaft einfacher zu vermitteln ist als eine negative. Dies ändert aber leider nichts an den bestehenden konzeptuellen Problemen und Unsicherheiten des C2C-Prinzips.
Auch die evolutionäre Begründung von Verschwendung ist inhaltlich sehr fragwürdig. Wie richtig festgestellt, lässt die Evolution Verschwendung zu, um sich gegenüber den direkten sexuellen Konkurrenten als besonders gesund und stark zu zeigen, z.B. durch die Größe des Rads eines Pfaus. Ist der Schwanz des Pfaus aber zu lang, wird dieser wegen mangelnder Ressourcen zum Überleben vor der Vermehrung gefressen, so dass sich in Folge je nach Umwelt ein Kompromiss zwischen Verschwendung zur sexuellen Attraktivität und Überleben einspielen wird.
Bis zur Verfügbarkeit freier Ressourcen durch das C2C-Prinzip müssen wir uns trotz zu geringer Bereitschaft zum Altruismus mit der Begrenztheit der Ressourcen arrangieren. Deshalb ist eine Botschaft zum intelligenten Verschwenden mindestens verfrüht, im Augenblick sogar schädlich.
Die Darstellung von Andersdenkenden (die Gruppe der „Ökologisten“) als asketisch, lustfeindlich, asexuell und zynisch erinnert eher an eine Diffamierung und ein argumentum ad hominem als an einen offenen, kritischen Umgang mit sachlichen Argumenten wie es in der Philosophie Usus wäre.
Trotzdem ist das C2C-Prinzip durchaus ein richtiger Schritt.
MM am Permanenter Link
Wenn die mehligen Äpfel aus den Bioläden verschwunden sind, dann liegt das daran, dass dort besonders viele nicht hinreichend ansehnliche Lebensmittel weggeworfen werden, unabhängig davon, ob sie schmack- oder nahrha
Frank Linnhoff am Permanenter Link
Cradle-to-Cradle ist eine Denkweise, welche bestens zum evolutionären Humanismus passt, verzichtet diese doch gänzlich auf das Konzept von Schuld und Buße, welches immer noch unendlich viel Leid in das Leben vieler Me