Ein Abend mit Prof. Dr. Johanna Rahner

Von Nietzsche zu Dawkins und darüber hinaus

Der Humanismus und die Gretchenfrage.

Mehrfach an diesem Abend gab sich Rahner verwundert darüber, dass der neue Humanismus von der klassischen Gretchenfrage abgerückt sei. Die Frage ’Wie hältst du’s mit der Religion?“[5] ließen Atheisten links liegen. Rahner äußerte sich besorgt, dass der Neue Humanismus sich mit dem Menschen beschäftige und neue Menschenbilder entwerfe. Und dies freilich in Konkurrenz zum Gottes- und Menschenbild der Bibel. Doch was ist daran schwer zu verstehen? Zu Klarheit in dieser Rahner verwirrenden Frage verhilft uns Forrest Gump: Der mit einfachen Weisheiten aufwachsende Gump antwortet auf Rahners vermisste Gretchenfrage: ”Sag mal, hast du Jesus schon gefunden, Gump?“ mit ”Ich hab überhaupt nicht gewusst, dass ich ihn suchen sollte, Sir."

Veranstaltungsplakat
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Oder anders erklärt: Einem Kind von 9 oder 10 Jahren dürfte bei einem Wort wie Humanismus bereits klar sein, dass sich der Humanismus heute keineswegs an der Gretchenfrage abarbeiten muss: Wer sich Humanist nennt, der kreist nicht mehr um die Gottesfrage! Der oder die hat die Eierschalen der religiösen Phase abgestreift und schaut darauf, was er selber ist, was der Mensch zu sein und zu werden vermag.

“Ein freier Gott schafft freie Menschen.”

Einer Erwähnung wert ist der “Nagel”, an dem die Anthropologie Rahners “hängt”: Gott. Ein Gott, der Liebe ist. Für den Bibelkenner ist klar: Dass Gott die Liebe sei, steht in der “Heiligen Schrift Alten und Neuen Testaments” nur ein einziges Mal. Ansonsten spricht der Großteil der alt- und neutestamentlichen Schriften eine andere Sprache, aber eines gewiss nicht: die Sprache der Liebe, der Barmherzigkeit oder der Freiheit.

Grundanliegen des Christentums sei es Rahner zufolge, von der Freiheit des Menschen zu reden. Sie brachte es auf die Formel: “Ein freier Gott erschafft freie Menschen.” Für aufgeklärte Kenner der Kirchen- und Dogmengeschichte, der Religionsgeschichte überhaupt, ein Brocken, den man erst einmal verdauen muss bzw. der in intellektueller Hinsicht gleich an einem vorbeifliegt. Die Freiheit als die Quintessenz des Christentums feil zu bieten, spricht nun gegen so vieles der biblischen Schriften und der kirchlichen Praxis.

Lässt man einmal für eine kritische Betrachtung der These Rahners die geschichtlichen Fakten beiseite und nimmt die Grunddokumente des christlichen Glaubens zu Kenntnis, dann zerfällt die These zu dem, was sie ist: Eine bloße Phrase.

Mitnichten verkündet das Christentum die Freiheit des Menschen. Das Christentum redet dem Menschen – um mit Reinhard Mey zu sprechen – “Schuld und Sünden ein / Und wildert an der Brut im eignen Garten.” [6]

Ein kurzer Blick ins christliche Schrifttum genügt: “Ich bin mit Christus gekreuzigt worden; nicht mehr ich lebe, sondern Christus lebt in mir.” (Galaterbrief 2, 19–20.) - “Denn es gibt keinen Unterschied: Alle haben gesündigt und die Herrlichkeit Gottes verloren.” (Römer 3,22–23) - “Durch einen einzigen Menschen kam die Sünde in die Welt und durch die Sünde der Tod und auf diese Weise gelangte der Tod zu allen Menschen, weil alle sündigten.” (Römer 5,21)

Die vier Evangelien sind angefüllt mit Geschichten, in denen deutlich “verkündigt” wird, dass der Mensch ohne Glauben an Jesus ein “verdammter” Sünder bleiben muss, der “verloren” geht.

Folgt man dem, was die junge Christenheit als Jesu Worte tradiert hat, so erklärt Jesus jeden Menschen zu einem Sünder: Die berühmte und sprichwörtlich gewordene Aussage “Wer von euch ohne Sünde ist, werfe als Erster einen Stein” (Johannes 8,7) ist ja zunächst und vor allem eine Feststellung des Status Quo und demnach nichts anderes als das Urteil des “Gottessohnes” über alle Menschen: “Ihr alle seid Sünder und könnt vor Gott nicht bestehen.” Jesus predigt nirgends eine pauschale Freiheit aller Menschen. Jesus ist kein Büttenredner, der – passend zum 11.11. (Datum der Veranstaltung mit Prof. Rahner) – den Kanon anstimmte “Wir sind alle kleine Sünderlein, / ’s war immer so, ’s war immer so. / Der Herrgott wird es uns bestimmt verzeih’n, / ’s war immer, immer so.”

Humanistisch nicht nachvollziehbar. Theologisch nicht haltbar: Die These(n) Rahners

Rahner entgegnete auf die Frage aus dem Publikum nach den zahlreichen Bibelworten, die den Menschen als “Sünder” darstellen und diesen damit “schlechter machen als dieser eigentlich sei”: Sie sei “dankbar dafür”, dass sie katholisch sei. Sie könne “den Menschen von der Gottesebenbildlichkeit her verstehen” und müsse ihn nicht wie die lutherische Seite als Sünder sehen.

Erstaunlich: Zunächst beklagt sich Rahner, dass keiner der neuen Atheisten der Gretchenfrage sich widmen möchte. Dann erhält sie eine Anfrage auf der Grundlage ihrer eigenen Religion, eine Frage nämlich nach dem Gottes- und Menschenbild der Bibel (Gott sei “heilig”, der Mensch eben “Sünder”). Die Professorin für katholische Theologie entzieht sich der Diskussion. Doch damit veranschaulicht Rahner in persona ein tiefgreifendes Problem moderner Theologie:

Objektive Grundannahmen oder Wortspielerei?

Eine vereinzelte Bibelstelle, die davon spricht, dass der Mensch “Gottes Ebenbild” sein soll (Rahner hat hier 1.Mose/Genesis 1,27 im Sinn[7]), dient ihr als Grundlage ihrer Theologie. Damit jedoch gesteht sie zu, dass Theologie, christlicher Glaube, Religion in dem besteht, was der Vater aller modernistischen christlichen (und jüdischen und islamischen) Theologie “Anschauung und Gefühl” nennt: Rahners Theologie ist das, was Theologie seit Friedrich Daniel Ernst Schleiermacher (gest. 1834) immer sein muss: Eine sehr, sehr subjektive Angelegenheit, die sich jeder objektiven Betrachtung dadurch entzieht, dass sie sich ins “Universum” der Innerlichkeit, da Gott wohnt, verflüchtigt.

Mit anderen Worten: Theologie und Glaube ist immer das, was der- oder diejenige gerade für sich persönlich, in seinem “Inneren” für wahr hält. Damit jedoch ist die Gewissheit des Glaubens verloren, die Verkündigung desselben wird zur Spiegelfechterei nackter Religionsvirtuosen.

Nietzsche und Feuerbach als Taufpaten moderner Theologie

Doch damit nicht genug. Zeigt sich Prof. Rahner als eine gute Schülerin Nietzsches: Hier ist in der Tat “der Horizont weggewischt.” Angekommen sind derartige Jüngerinnen und Jünger bei von äußerst subjektiven Meinungen getragenen Wortspielereien. “Ein freier Gott schafft freie Menschen.” Ja, das ist doch eine klare Aussage, oder? Nein, ist es nicht. Es handelt sich dabei streng genommen noch nicht einmal um einen Satz: Das Subjekt existiert nicht. Und der Mensch, das arme Objekt? Er hängt in der Luft …

Als eine Theologin im Wortsinne, das ist eine, die von Gott redet und die Dinge, die sie von Gott weiß, sortiert und darlegt, hat sich Rahner damit dem Publikum nicht gezeigt. Sie hat viel gesprochen ohne – Philipp Melanchthon (gest. 1560) würde es “Assertiones” nennen – “sichere Aussagen” zu machen. Wenn Gott nicht mehr der Gegenstand der Theologie ist, sondern der Mensch in seiner religiösen Befindlichkeit, dann sollte man das Feld ehrlicherweise den Religionspsychologen überlassen. Spricht Rahner von Gott und meint jedoch des Menschen Freiheit, was ist dann ihre – ich muss schon Anführungszeichen setzen – “Theologie” noch? Wie sagte Rahner noch der Hörerschaft: “In der Religion vergegenständlicht der Mensch also sein eigenes Wesen, in dem (sic) er es ’in den Himmel projiziert’ - Gott ist sozusagen die ins Vollkommene gezogene Extrapolation des Menschen; das vom Menschen sich selbst gesetzte transzendente Über-ich (sic).” Lauschen wir noch einmal, wie Rahner vom Menschen redet: “Ein freier Gott erschafft freie Menschen.” Als gelehrige Schülerin Feuerbachs erweist sie sich.

Ein Aufklärungsstück.

Und so geriet dieser Eröffnungsvortrag zu einem Aufklärungsstück par excellence: Besser konnte man einer Theologin nicht bei der “Arbeit” zuschauen: Ohne Bezugnahme auf christliche Grunddokumente – der suchende Agnostiker oder der zweifelnde Thomas ging an diesem Abend ohne feste Kost nach Hause – breitete Rahner ihre eigenen Gedanken aus. Sie skizzierte alte und neue Atheisten und entwarf damit gleichsam die Drohkulisse für ihre Rede von der “Freiheit des Menschen”, eine Freiheit, die das “jüdisch-christliche” Denken in die Welt gebracht habe und neu postulieren müsse, damit die “neuen Humanisten” ihre schreckliche, weil “naturalistische”, “Schöne Neue Welt” nicht errichten können. Es lag ein Hauch von Verschwörung über Rahners Menetekel.

Alles rund? Die Fragerunde.

Und eben dies brachte ihr den Widerspruch derer ein, die beispielsweise Dawkins und Schmidt-Salomon gelesen hatten: Schmidt-Salomon schösse mit seiner Polemik hier und da über das Ziel hinaus, so sinngemäß eine Teilnehmerin, die sich selbst als Agnostikerin bezeichnete. Aber die grundsätzlichen Angebote eines neuen Humanismus seien nötiger denn je und müssten zur Kenntnis genommen werden. Rahners Darstellung der Vertreter des Humanismus kämen, so warf ein Zuhörer ein, in ihrer Einseitigkeit einer Verzerrung gleich. Prof. Rahner verteidigte sich: Sie könne die Atheisten und deren Thesen in ihrer polemischen und platten Art und Weise “nicht besser machen als sie sich selbst darstellten.”

Man konnte sich des Eindrucks nicht erwehren, dass Prof. Rahner das Grundanliegen des neuen Humanismus, wie es beispielsweise im Manifest des evolutionären Humanismus oder in “Hoffnung Mensch” begegnet, intellektuell nicht oder kaum durchdrungen hatte: Wer den skizzierten Vertretern atheistischer/humanistischer Positionen unterstellt, das Menschsein nur noch auf “naturalistische oder biologistische Weise” verstehen, ferner “technisch” beherrschen zu wollen, der wandelt in Gedanken vielleicht in Sloterdijks “Menschenpark” umher, ist aber dem Anliegen der Humanisten fern.

Hans Küng hätte gewiss differenzierter dargestellt, geduldiger die andere Partei angehört und kritische Anfragen nicht mit persönlichen Glaubensmeinungen weggebügelt.

Aber so ist es oft mit denen, die einem Meister nachfolgen: Sie bleiben weit hinter dem zurück, was der Meister einst vorlebte. Das ist bei Jesus und seinen Anhängern so. Bei dem stets um Verstehen des anderen bemühten Hans Küng und seinen neuen Nachfolgern nicht minder.

Literatur zum Thema: a. Zum Abschied von der Wahrheitsfrage in der Theologie Hempelmann, Heinzpeter: Der Neue Atheismus und was Christen von ihm lernen können, Gießen/Basel 2010. Ders.: Wir haben den Horizont weggewischt: Die Herausforderung: Postmoderner Wahrheitsverlust und christliches Wahrheitszeugnis, Witten 2007.

b. Theologie- und Religionskritik Assmann, Jan: Monotheismus und die Sprache der Gewalt, Wien 2006. Göpfert, Hans: Statt religiöser Erziehung: Welterklärung ohne Gott, Leipzig 2009. Hempelmann, Heinzpeter: Was sind denn diese Kirchen noch…?: Christliche Gemeinde vor den Provokationen der Postmoderne, 2. Aufl. Gießen 2008 (Kirchenkritik aus bibeltreuer Sicht) Hitchens, Christopher: Der Herr ist kein Hirte, München 2007. Lehnert, Uwe: Warum ich kein Christ sein will – Mein Weg vom christlichen Glauben zu einer naturalistisch-humanistischen Weltanschauung, 4. Aufl., Berlin 2011.

 


  1. Text zitiert nach http://www.nietzschesource.org/#eKGWB/EH-Klug–10. - Die Fortsetzung des Zitats ist allemal aufschlussreich: Hier erblickt Nietzsche in dem Papst als dem Repräsentanten des Christentums den Todfeind “gegen das Lebens” (ebd.).  ↩

  2. Zit. nach http://www.nietzschesource.org/#eKGWB/FW–125  ↩

  3. Zit. [Nach http://www.nietzschesource.org/#eKGWB/FW–343](Nach http://www.nietzschesource.org/#eKGWB/FW–343)  ↩

  4. Dabei gibt es weitaus anrüchigere Begriffe in Sloterdijks „Regeln für den Menschenpark“. Die Frage bleibt, wie man diese Begriffe im Zusammenhang des Textes verstehen will. - Der Text ist verfügbar hier: http://philosophie.hfg-karlsruhe.de/sites/default/files/sloterdijk_regeln_menschenpark.pdf (14.11.2014)  ↩

  5. “Nun sag, wie hast du’s mit der Religion? Du bist ein herzlich guter Mann, allein ich glaub, du hältst nicht viel davon.”  ↩

  6. Songtext unter http://www.reinhard-mey.de/start/texte/alben/füchschen  ↩

  7. Dort heißt es: “Gott schuf also den Menschen als sein Abbild; als Abbild Gottes schuf er ihn.”  ↩