Umgang mit neuen Technologien der Humangenetik und Reproduktionsmedizin

Schöne Neue Welt

Wenn hier behauptet wird, dass es keine moralische Rechtfertigung dafür gibt, die Eizellspende, die Leihmutterschaft, die Geschlechtswahl und andere reproduktionsmedizinische Verfahren mit den Mitteln der Strafgesetzgebung zu verbieten, bedeutet dies freilich nicht, dass jeder Arzt dazu verpflichtet sein sollte, diese Behandlungsmethoden durchzuführen. Ärzten, die es beispielsweise nicht mit ihrem Gewissen vereinbaren können, lesbischen Paaren zu einem Kind zu verhelfen, sollte es selbstverständlich frei stehen, ihnen ihre Hilfe zu verweigern. Doch Ärzte, die bereit sind, einem lesbischen Paar zu helfen, sollten weder mit strafrechtlichen noch mit standesrechtlichen Sanktionen bedroht werden.

Die Freiheit hat bekanntlich ihren Preis. Das ist bei der Fortpflanzungsfreiheit nicht anders. Eine unerlässliche Bedingung, die an den ungehinderten Zugang zur reproduktionsmedizinischen Behandlung geknüpft sein sollte, ist die, dass jedes Paar für die Kosten seiner Behandlung selbst aufkommen muss. So wie es nicht angeht, dass Christen, die sich dem Prinzip der “Heiligkeit des menschlichen Lebens” verpflichtet fühlen, mit ihren Steuergeldern Abtreibungen finanzieren, so sollten diejenigen, die eine Geschlechtswahl als “Gott spielen” betrachten, auch nicht dafür bezahlen, dass sich andere ihren lang gehegten Traum von einer Tochter erfüllen.

Wie die Bemerkungen zum Arztvorbehalt und zur Finanzierung vielleicht deutlich gemacht haben, ist eine moralische und rechtliche Verankerung des Prinzips “in dubio pro libertate” tatsächlich in unser aller Interesse, ganz gleich, ob wir uns nun als konservativ oder progressiv betrachten. Es gibt uns die Freiheit, unser Leben so zu leben, wie wir es für richtig halten, solange wir anderen keinen Schaden zufügen. Und der einzige Preis, den wir für diese Freiheit zu entrichten haben, ist der, dass wir es tolerieren müssen, dass andere ihr Leben in einer Weise leben mögen, die wir für falsch, unsittlich oder gar gottlos halten, ohne deshalb jedes Mal gleich nach der Polizei rufen zu können. Ich denke, dies ist ein Handel, den niemand ausschlagen kann.

künstliche Befruchtung
künstliche Befruchtung

Die Vorzüge des Prinzips “in dubio pro libertate” werden noch augenfälliger, wenn man die möglichen Alternativen betrachtet. Die erste Alternative, die vielen in den Sinn kommen mag, ist das Majoritätsprinzip. Da wir in einer Demokratie leben, so meinen sie, sollte die Mehrheit darüber entscheiden, was gesetzlich zugelassen oder verboten werden sollte. Wenn sich die Mehrheit für eine Geschlechtswahl mit Hilfe der Präimplantationsdiagnostik ausspricht, dann sollte sie erlaubt sein, wenn sie sich dagegen ausspricht, sollte sie verboten sein. Doch so kann nur jemand reden, der nicht weiß, wo er lebt. Deutschland ist ein freiheitlicher Rechtsstaat, der dem Majoritätsprinzip durch die in der Verfassung garantierten Rechte deutliche Grenzen gezogen hat. Allein die Anerkennung individueller und grundgesetzlich geschützter Rechte bewahrt uns sowohl vor einer Diktatur des Staates als auch vor einer Tyrannei der Mehrheit. Und so wie eine noch so große Mehrheit eine Minderheit nicht einfach ihres Rechts auf Leben berauben kann, so kann sie sie auch nicht ihres Rechts auf Fortpflanzung berauben. Mit anderen Worten: Selbst wenn 99,9 Prozent unserer Bevölkerung gegen eine Behandlung gleichgeschlechtlicher Paare wäre, könnte das keine Rechtfertigung dafür sein, lesbischen Frauen und schwulen Männern den Zugang zur Reproduktionsmedizin zu verwehren.

Sollten vielleicht Ethikkommissionen über die Zulässigkeit reproduktionsmedizinischer Technologien entscheiden? Nun, gemessen an der “Enquetekommission für Recht und Ethik in der modernen Medizin” haben wir mit unserem “Deutschen Ethikrat” gewiss noch Glück gehabt. Dennoch: Was darf man sich von einem parteipolitisch ausgewogenen Gremium, in dem selbstverständlich auch Vertreter der Deutschen Bischofskonferenz und des Rats der Evangelischen Kirche nicht fehlen dürfen, anderes erwarten als einen faulen Kompromiss? Hinzu kommt, dass Ethikkommissionen sich für gewöhnlich mit der falschen Frage beschäftigen. In aller Regel versuchen sie zu entscheiden, ob ein bestimmtes reproduktionsmedizinisches Verfahren moralisch zulässig oder unzulässig sei. Angesichts der Tatsache, dass wir in einer pluralistischen Gesellschaft leben, in der die Menschen unterschiedliche Moralvorstellungen haben, wird sich über diese Frage jedoch nie Einigkeit erzielen lassen. Die Frage, die solche Kommissionen tatsächlich prüfen sollten, lautet daher vielmehr: Würde die Zulassung eines bestimmten reproduktionsmedizinischen Verfahrens nachweislich eine Schädigung Dritter beinhalten und somit überhaupt die unerlässliche Voraussetzung für eine strafrechtliche Sanktionierung erfüllen?

In Großbritannien hat das “Committee of Inquiry into Human Fertilisation and Embryology” beschlossen, dass reproduktionsmedizinische Verfahren nur dann zugelassen werden sollten, wenn sie “notwendig und wünschenswert” sind. Doch wie genau soll man die hoffnungslos dehnbaren Begriffe “notwendig” und “wünschenswert” verstehen? Darüber, was “wünschenswert” ist, werden Anglikaner, Agnostiker, Atheisten, Hinduisten, Buddhisten und Muslime mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit anderer Ansicht sein. Ja, selbst bei dem weitaus unzweideutigeren Begriff “notwendig” dürfte es das Problem geben, dass eine nicht unbeträchtliche Zahl von Menschen nach wie vor der Ansicht ist, dass es schlicht und einfach nicht notwendig sei, unfruchtbaren Paaren mit kostspieligen Methoden zu eigenen Kindern zu verhelfen, solange es auf dieser Welt Millionen hungernder Kinder gibt, die sie gut und gern adoptieren könnten. Wenn die Briten dennoch ein für deutsche Verhältnisse über die Maßen liberales Gesetz verabschiedet haben, kann es wohl nur darauf beruhen, dass sie bereit waren, die individuellen Rechte ihrer Bürger zu respektieren und deren Fortpflanzungsfreiheit nur insoweit zu beschneiden, als dies zur Verhinderung einer Schädigung Dritter unbedingt erforderlich ist.

Das “Select Committee on Science and Technology” des britischen House of Commons hat sich denn auch klar zu seinem liberalen Ansatz bekannt. In seinem Bericht “Human Reproductive Technologies and the Law” hat es erklärt, dass es keine Rechtfertigung dafür gebe, den Zugang zur reproduktionsmedizinischen Behandlung auf heterosexuelle Ehepaare zu beschränken. Es hat gefordert, dass auch alleinstehende Frauen und lesbische Paare behandelt werden müssen. Darüber hinaus hat es vorgeschlagen, dass neben der bereits seit vielen Jahren praktizierten Eizellspende und Leihmutterschaft auch die vorgeburtliche Geschlechtswahl mittels PID zugelassen werden sollte.

Aus Deutschland erschallte daraufhin der sattsam bekannte Ruf der Kassandra: “Wollen wir wirklich in einer Gesellschaft leben, in der Eltern ihre Kinder wie aus einem Versandhauskatalog bestellen können?” Abgesehen davon, dass es sich um eine rein rhetorische Frage handelt, die lediglich den perfiden Zweck verfolgt, vollkommen unbegründete Ängste zu schüren, muss man sich auch darüber wundern, wer mit “wir” eigentlich gemeint sein soll. In einer pluralistischen Gesellschaft, die die unterschiedlichsten Menschen mit den unterschiedlichsten Überzeugungen beherbergt, gibt es kein “wir”. “Wir” – das sind Joseph Ratzinger, Alice Schwarzer, Michael Schuhmacher, Gregor Gysi, Dieter Bohlen, Roger Willemsen, Mario Götze, Karl Lagerfeld, Helmut Schmidt, Udo Lindenberg, Günter Grass, Boris Becker, Olaf Henkel, Reinhold Messner, Michel Friedman, Ranga Yogeshwar, Renate Künast und Nina Hagen. Wollte wirklich irgend jemand behaupten, dass sich diese Menschen eine gemeinsame Vorstellung von “unserer” Gesellschaft teilen? Die einzige Vision, die sich diese Menschen miteinander teilen könnten, ist die von einer Gesellschaft, die es allen gleichermaßen erlaubt, entsprechend ihren eigenen Vorstellungen zu leben und in der es niemandem gestattet ist, die staatliche Gesetzgebung dazu zu missbrauchen, anderen ihre Werte aufzuzwingen.

In einer freien Gesellschaft müssen wir damit leben, dass Menschen vieles tun, mit dem wir nicht einverstanden sind. Wir mögen ihre Entscheidungen missbilligen und – vorausgesetzt, sie sind bereit, zuzuhören – mit ihnen darüber reden; doch solange sie mit dem, was sie tun, anderen keinen Schaden zufügen, haben wir kein Recht, sie mit Gewalt daran zu hindern, und zwar selbst dann nicht, wenn dies zum Wohle der Gesellschaft oder gar zu ihrem eigenen Beste wäre. Heiße ich es gut, dass einige Paare von der Reproduktionsmedizin Gebrauch machen, um das Geschlecht ihrer Kinder auszuwählen? Nein! Doch dies gibt mir nicht das Recht, einen Arzt, der bereit ist, ihnen zu helfen, ins Gefängnis zu werfen.

Vor allem aber kann uns letztlich nur der Schutz der individuellen Fortpflanzungsfreiheit vor der viel beschworenen Schönen Neuen Welt bewahren. Denn das, was die Schöne Neue Welt so erschreckend macht, ist schließlich, dass der Einzelne seiner Freiheit beraubt wird und allein der Staat darüber bestimmt, wer sich fortpflanzen darf und wer nicht.