Umgang mit neuen Technologien der Humangenetik und Reproduktionsmedizin

Schöne Neue Welt

GIESSEN. (hpd) In seinem 1932 erschienenen Roman “Schöne Neue Welt” entwarf Aldous Huxley eine düstere Vision unserer Zukunft. Im Jahre 632 nach Ford, unserem 26. Jahrhundert, werden die Menschen nicht mehr in intimen Umarmungen gezeugt, sondern in anonymen Laboratorien gezüchtet.

Bereits vor der Geburt hat der Staat jedem Erdenbürger sein künftiges Los zugeteilt. Sie werden in eine von fünf Kasten geboren und müssen ihr Dasein als “Alphas”, “Betas”, “Gammas”, “Deltas” oder “Epsilons” fristen. Während die “Alphas” dazu bestimmt sind, sich höheren Aufgaben zu widmen, sind die “Epsilons” dazu verurteilt, niedere Dienste zu verrichten. Dank der “Hypnopädie”, einer Form frühkindlicher Indoktrination, und der psychoaktiven Droge “Soma” gibt es jedoch kein Aufbegehren und jeder fügt sich willig in das ihm zugedachte Schicksal.

Die Schöne Neue Welt ist inzwischen zu einem Synonym für eine von der Reproduktionsmedizin und der Humangenetik beherrschten Gesellschaft geworden. Wann immer eine Schlagzeile wie “Baby als Ersatzteillager für seinen Bruder gezeugt” die Titelseiten unserer Nachrichtenmagazine ziert, erhebt sich ein Sturm der Entrüstung. Derartige Schlagzeilen sind nicht nur ein beredtes Zeugnis für das atemberaubende Tempo, mit dem sich die Reproduktionsmedizin entwickelt, sondern auch ein unverkennbares Zeichen für die moralische Verunsicherung, die uns angesichts der rasanten Fortschritte der Biotechnologie befällt. Wie sollte man mit den neuen Möglichkeiten der Fortpflanzungsmedizin umgehen? Inwieweit darf der Staat in die reproduktiven Entscheidungen seiner Bürger eingreifen? Und vor allem: Gibt es irgendein konsensfähiges Prinzip, mit dessen Hilfe der Gesetzgeber entscheiden könnte, welche reproduktionsmedizinischen Technologien gesetzlich zugelassen oder verboten werden sollten?

Das einzige Prinzip, das mit den Grundsätzen eines freiheitlichen Rechtsstaates wie der Bundesrepublik Deutschland vereinbar ist, ist das Prinzip “in dubio pro libertate” oder “Im Zweifel für die Freiheit”. Dieses Prinzip ist keineswegs neu. Es geht auf die Väter des Liberalismus – auf so namhafte Philosophen wie Wilhelm von Humboldt und John Stuart Mill – zurück. Wie sich leicht zeigen lässt, hat es über die Jahrhunderte nichts von seinen Vorzügen verloren. Ganz im Gegenteil, eine konsequente Anwendung dieses Prinzips ist heute nicht nur wünschenswerter, sondern auch unumgänglicher als je zuvor.

Westliche Gesellschaften sind pluralistische Gesellschaften. Sie bestehen aus Menschen, die unterschiedliche Weltanschauungen und somit zumeist auch unterschiedliche Moralvorstellungen haben. Dementsprechend wird es in solchen Gesellschaften stets Uneinigkeit darüber geben, was moralisch richtig und moralisch falsch ist. Wenn ein Staat seinen Bürgern eine ganz bestimmte Form der Moral aufzudrängen versuchte, wären soziale Konflikte unvermeidlich. Um derartigen Spannungen vorzubeugen, muss die Politik pluralistischer Gesellschaften auf weltanschaulicher Neutralität, gegenseitiger Toleranz und größtmöglicher Liberalität beruhen: Jeder Bürger sollte das Recht haben, sein Leben so zu leben, wie er es für richtig hält, solange er anderen keinen Schaden zufügt. Der Staat sollte sich in die persönlichen Belange des Einzelnen daher nur einmischen, um seine Bürger vor Schaden durch andere zu bewahren.

Das dem Liberalismus verpflichtete “Schadensprinzip” hat fünf wichtige Implikationen. Erstens, die Beweislast haben stets diejenigen zu tragen, die sich für ein strafrechtliches Verbot einer bestimmten Handlungsweise aussprechen. Es ist an ihnen zu zeigen, dass die jeweils zur Debatte stehende Handlung tatsächlich eine Schädigung anderer beinhaltet. Zweitens, die Argumente dafür, dass eine Handlungsweise anderen schadet, müssen einsichtig und überzeugend sein. Sie dürfen nicht auf vollkommen spekulativen soziologischen oder psychologischen Annahmen beruhen. Drittens, Handlungsweisen, die ausschließlich dem Handelnden selbst schaden, dürfen nicht unter Strafe gestellt werden. Der Staat soll seine Bürger nicht vor sich selbst, sondern nur vor Übergriffen durch andere schützen. Viertens, dass eine Handlungsweise anderen schadet, ist eine notwendige, aber noch keine hinreichende Bedingung dafür, sie strafrechtlich zu verbieten. Wenn die Kriminalisierung eines Verhaltens mehr Schaden verursacht als verhindert, widerspricht sie dem Sinn des Schadensprinzips und muss aufgehoben werden. Und fünftens, die bloße Tatsache, dass eine Handlung den moralischen oder religiösen Überzeugungen anderer widerspricht, reicht für ein strafrechtliches Verbot nicht aus. In einer pluralistischen Gesellschaft kann die Aufgabe des Staates nicht in der Durchsetzung einer bestimmten Moral oder Religion bestehen, sondern ausschließlich in der Verhinderung einer Schädigung Dritter.

Es gehört nicht sonderlich viel Phantasie dazu, um zu sehen, dass sowohl das von der Bundesregierung erlassene Embryonenschutzgesetz als auch die von der Bundesärztekammer erlassenen Richtlinien zur Durchführung der assistierten Reproduktion nach dem Prinzip “in dubio pro libertate” viel zu restriktiv sind. In einem freiheitlichen Rechtsstaat kann es keine Rechtfertigung dafür geben, unverheirateten Paaren, alleinstehenden Frauen oder homosexuellen Partnern den Zugang zur fortpflanzungsmedizinischen Behandlung zu verweigern und international etablierte Verfahren wie die Eizellspende, die Leihmutterschaft oder die Geschlechtswahl strafrechtlich zu verbieten. Mit welchem Recht maßen wir es uns beispielsweise an, einem Arzt, der bereit ist, einer Mutter dreier Söhne zu der lange ersehnten Tochter zu verhelfen, zu einer Gefängnisstrafe von einem Jahr zu verurteilen?

Während das strafrechtliche Verbot der Geschlechtswahl Ausdruck einer moralistischen Gesetzgebung ist, sind die strafrechtlichen Verbote der Eizellspende und der Leihmutterschaft Ausdruck einer paternalistischen Gesetzgebung. Mit welchem Recht, so muss man wieder fragen, darf der Staat es einer Frau untersagen, ihrer Freundin eine Eizelle zu spenden oder ihrer Schwester ein Kind auszutragen? Sicher, sowohl die Eizellspende als auch die Leihmutterschaft sind mit einem gewissen medizinischen Risiko verbunden. Doch in einem freiheitlichen Rechtsstaat kann die Entscheidung darüber, ob eine Frau die mit diesen Eingriffen verbundenen Risiken in Kauf nehmen sollte, nicht beim Gesetzgeber, sondern allein bei der Betroffenen liegen. Es ist schwer einzusehen, dass eine Frau zwar den Ärmelkanal durchschwimmen oder den Mount Everest erklimmen, nicht aber eine Eizelle spenden oder ein Kind für eine andere austragen darf.

Einige werden vermutlich erwidern, dass die bestehenden Gesetze gegen die Eizellspende und die Leihmutterschaft ja nicht nur die Frauen vor einer möglichen “Ausbeutung ihres Körpers” bewahren sollen, sondern vor allem auch dem “Schutz des Kindes” dienen. Doch dieser Rechtfertigungsversuch ist schlichtweg unhaltbar. Entwicklungspsychologische Untersuchungen aus Ländern wie Belgien, Großbritannien und den USA zeigen, dass sich die mit Hilfe der Eizellspende und der Leihmutterschaft gezeugten Kinder derselben physischen und psychischen Gesundheit erfreuen wie die auf natürlichem Wege gezeugten Kinder.

Auch im Falle von Kindern, die unter der Obhut von alleinerziehenden Müttern oder lesbischen Paaren aufwachsen, ist schwer zu sehen, wie sie durch die bestehenden Gesetze “geschützt” werden. Es wird nämlich allzu häufig übersehen, dass diese Gesetze auf einem offenkundigen Paradoxon beruhen. Insofern nämlich alle reproduktionsmedizinischen Verbote, die wir im Namen des Wohlergehens des Kindes erlassen, zur Folge haben, dass diejenigen, die durch diese Gesetze geschützt werden sollen, gar nicht erst zur Welt kommen, implizieren sie, dass es für die betroffenen Kinder besser wäre, gar nicht erst geboren zu werden! Kaum jemand wird bezweifeln, dass es besser für Kinder ist, wenn sie von ihren biologischen Eltern aufgezogen werden – doch wer wollte allen Ernstes behaupten, dass ohne einen Vater aufwachsen zu müssen oder von zwei Müttern großgezogen zu werden, ein derart unzumutbares Schicksal sei, dass es besser für diese Kinder wäre, nie geboren zu werden?

Von diesem Paradoxon sind selbstverständlich auch die standesrechtlichen Verbote der postmenopausalen und der posthumen Reproduktion betroffen. Es mag zugegebenermaßen alles andere als optimal für ein Kind sein, wenn es von einer fünfundfünfzigjährigen Frau geboren oder mit dem Sperma eines bereits verstorbenen Mannes gezeugt wird. Doch es wäre einfach grotesk, wenn man behaupten wollte, dass besser für diese Kinder wäre, sie hätten nie das Licht der Welt erblickt.

Wem dieser Einwand zu “philosophisch” erscheinen mag, sei an die juristische Debatte um die sogenannten “Wrongful Life”-Klagen erinnert. Als der französische Revisionsgerichtshof vor einigen Jahren einem gelähmt, taub, blind und geistig behinderten Kind eine Entschädigung dafür zusprach, “geboren worden zu sein”, gab es einen derartigen Aufschrei, dass sich die französische Nationalversammlung genötigt sah, sogleich einen neuen Gesetzentwurf zu verfassen, in dem es explizit hieß, “dass niemandem durch seine Geburt geschadet werden kann”. Wie aber passen die Behauptung, dass man einem Kind, das von einem lesbischen Paar großgezogen wird, schade, mit der Behauptung zusammen, dass man keinem Kind durch seine Geburt schaden könne? Ist unter zwei Müttern aufzuwachsen, tatsächlich ein schrecklicheres Schicksal als gelähmt, taub, blind und geistig behindert geboren zu werden?

Die standesrechtlichen Regelungen zum Schutz des Wohlergehens des Kindes, wie sie in den von der Bundesärztekammer erlassenen “Richtlinien zur Durchführung der assistierten Reproduktion” enthalten sind, beruhen aber nicht nur auf einem philosophischen Paradoxon, sie führen auch zu einer vollkommen ungerechtfertigten Diskriminierung unfruchtbarer Paare. Indem Paare ohne gültigen Trauschein gezwungen sind, erst den Segen der zuständigen Ethikkommission einholen zu müssen, bevor sie zur reproduktionsmedizinischen Behandlung zugelassen werden können, werden sie gewissermaßen doppelt bestraft: Als wäre es für diese Paare nicht schon Strafe genug, unfruchtbar zu sein und sich den Kosten und Mühen einer künstlichen Befruchtung unterziehen zu müssen, werden sie zudem noch einem “Eignungstest” unterworfen, den sich jedes Paar, das auf natürlichem Wege Kinder bekommen kann, mit Recht verbitten würde. Zudem ist es angesichts der wachsenden Zahl alleinerziehender Mütter und der gesetzlichen Anerkennung homosexueller Partnerschaften schlichtweg anachronistisch, wenn man alleinstehenden Frauen und lesbischen Paaren länger die Hilfe zur Mutterschaft vorenthalten wollte.