Zügige Auffrischungsimpfungen gegen das Coronavirus Sars-CoV-2 für die Hälfte der Bevölkerung könnte die vierte Infektionswelle wahrscheinlich brechen. Denn sie könne die Zahl Ansteckungen und Übertragungen bei diesen Personen nochmal auf ein Zehntel reduzieren. Dies ist eine zentrale Aussage einer Stellungnahme, die ein Team um Viola Priesemann, Leiterin einer Forschungsgruppe am Max-Planck-Institut für Dynamik und Selbstorganisation in Göttingen, formuliert hat.
Die Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler haben zudem berechnet, wie gut regelmäßige Tests die immer schnellere Verbreitung des Virus eindämmen könnten und wie unterschiedlich 2G- und 3G-Regeln wirken. Martin Stratmann, Präsident der Max-Planck-Gesellschaft, und Otmar D. Wiestler, Helmholtz-Gemeinschaft Berlin, unterstützen die Stellungnahme des interdisziplinären Expertenteams aus Deutschland, Österreich und den Niederlanden. Viola Priesemann sowie weitere Autorinnen und Autoren haben die Stellungnahme in einer Pressekonferenz des Science Media Centers am 11. November 2021 erläutert.
Dass sich zu viele Menschen gar nicht impfen lassen wollen, könnte aus epidemiologischer Sicht durch eine dritte Impfung für 50 Prozent der Menschen, die bereits doppelt gegen das Coronavirus Sars-CoV-2 geimpft sind, teilweise wettgemacht werden. Die Boosterimpfung frischt zum einen den Schutz der doppelten Impfung auf, die bereits nach etwa fünf Monaten nachlässt und auch die Übertragung des Virus nicht mehr so wirksam verhindert wie anfangs. Eine dritte Impfung verstärkt den Impschutz zum anderen noch zusätzlich. Allerdings müsste die Kampagne der Drittimpfungen schneller vonstattengehen als diejenige der Erst- und Zweitimpfungen, bei der in diesem Sommer pro Tag maximal ein Prozent der Bevölkerung geimpft wurde. Dann kann der erhöhte Schutz der dreifach Geimpften den rasanten Anstieg der Neuinfektionen rasch bremsen und damit die Belastung von Intensivstationen durch Covid-19-Erkrankte bald reduzieren. Zu diesem Schluss kommen die Forschenden um Viola Priesemann in der Stellungnahme, in der sie die aktuelle epidemiologische Lage analysieren und Handlungsoptionen skizzieren, um die vierte Coronawelle zu brechen und eine Überlastung von Intensivstationen zu verhindern. Martin Stratmann unterstützt die Aussagen der Stellungnahme: "Wir sind sehenden Auges in die derzeitige Situation geraten, die für einen Großteil der Bevölkerung unerträglich und gefährlich ist", sagt der Präsident der Max-Planck-Gesellschaft. "Die Politik hätte viel früher auf die eindeutigen Analysen der Wissenschaft reagieren und bundesweit eine konsequente 2G beziehungsweise 3G-Regelung einführen müssen."
Die Boosterimpfung reduziert die Virusverbreitung und die Zahl der Intensivpatienten
Wie das Autorenteam in seiner Veröffentlichung schreibt, könnte in der jetzigen Situation eine Boosterimpfung nicht nur die Ausbreitung des Coronavirus bremsen, sondern auch den Anteil der Personen, die bei einem Impfdurchbruch intensivmedizinisch behandelt werden müssen, im Vergleich zu den Menschen mit doppelter Impfung auf etwa ein Zehntel reduzieren – und zwar in allen Altersgruppen. Besonders wichtig sei die Boosterimpfung zwar für die ältere Hälfte der Bevölkerung und Risikopersonen. Um der immer schnelleren Ausbreitung des Virus zu begegnen, sollten aber auch andere Personengruppen die dritte Impfung erhalten, und nicht unbedingt erst ein halbes Jahr nach ihrer Zweitimpfung.
Ob eine generelle Impfpflicht für alle die erwartete Wirkung entfalten würde, halten die Autorinnen und Autoren dagegen nicht für garantiert. Für eine deutliche Wirkung müsste diese flächendeckend durchgesetzt und eine Missachtung mit empfindlichen Strafen geahndet werden müsse. Andernfalls bestehe die Gefahr, dass eine generelle Impfpflicht zögerliche Menschen eher abschrecke, und überzeugte Impfgegner auch nicht erreiche – weil diese dann lieber die Strafe bezahlten, als sich impfen zu lassen. Anders sei ein Impfgebot am Arbeitsplatz vor allem in solchen Berufen zu bewerten, die engen körperlichen Kontakt zu vulnerablen Gruppen mit sich bringen. Ein solches Gebot könne Menschen mit hohem Risiko für den schweren Verlauf eine Covid-19-Erkrankung schützen, brächte aber auch Herausforderungen für den Zusammenhalt am Arbeitsplatz und in der Gesellschaft mit sich.
Die Vorteile von mehr Tests und 2G-Veranstaltungen
Als weitere Mittel gegen die vierte Coronawelle und eine Überlastung des Gesundheitssystems sehen Viola Priesemann und ihre Kolleginnen und Kollegen Tests auf eine Coronainfektion vor – insbesondere bei Verdachtsfällen und vor Treffen mit vulnerablen Personen. Und das nicht nur Ungeimpfte, sondern auch für geimpfte und genesene Menschen mit länger zurückliegender Impfung. Besonders aussagekräftig seien dabei zwar PCR-Tests, doch auch Schnelltests könnten in der derzeitigen Situation sehr hilfreich sein: Würde jede Person etwa einen Schnelltest pro Woche machen, könnte die Pandemie eingedämmt werden, schreibt das Autorenteam. Das zeige auch das Beispiel der Slowakei, wo Massentests Zahl der Infizierten vorrübergehend um 60 Prozent reduziert hätten. Hilfreich könnten auch regelmäßige Tests in Schulen und am Arbeitsplatz sein. Dies seien aber nur Überbrückungsmaßnahmen zur Entlastung des Gesundheitssystems, bis die Impflücke besser geschlossen und das Boostern deutlich vorangeschritten sei.
Die Forschenden weisen zudem auf die epidemiologischen Vorteile der 2G-Regel etwa für die Teilnahme an Veranstaltungen und für Restaurantbesuche hin. Schließlich plädieren sie dafür, frühzeitig Pläne für einen Not-Schutzschalter zu formulieren, egal ob er gebraucht werde oder nicht: Wenn es die Lage in den Krankenhäusern und die damit verknüpften Infektionszahlen erforderten, das Infektionsgeschehen schnell und wirkungsvoll einzudämmen, sollten Maßnahmen zum Infektionsschutz nur gebündelt angewendet werden, denn nur so brächten sie in kürzester Zeit einen deutlichen Effekt. Das würde bedeuten, Home-Office, eine Pflicht zu engmaschigen Tests am Arbeitsplatz, die Reduktion der Gruppengrößen in Kindergärten, Schulen und am Arbeitsplatz, die Schließung beziehungsweise Beschränkung von Geschäften, Restaurants, Dienstleistungen und Veranstaltungen sowie eine deutliche generelle Reduktion von Kontakten am Arbeitsplatz, in der Öffentlichkeit und im privaten Bereich gleichzeitig vorzunehmen, um sie dann nach kürzester Zeit, also nach ein bis zwei Wochen wieder aufheben zu können. Solch ein Not-Schutzschalter könnte die Inzidenz innerhalb von zwei Wochen um 75 Prozent oder sogar deutlich mehr reduzieren und so das Gesundheitssystem entlasten. (mpg)