Versuch über ein ethisches Problem

Die Frage von Schuld und Verantwortung

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Rainer Schepper (2014)
Rainer Schepper (2014)

MÜNSTER. (hpd) Der freie Schriftsteller, Publizist und Rezitator Rainer Schepper schrieb einen theoretischen Aufsatz über die “Frage von Schuld und Verantwortung aus deterministischer Sicht”. Der Humanistische Pressedienst hat sich entschlossen, den Text in voller Länge zu veröffentlichen, auch wenn er länger als gewöhnlich ist.

Vorbemerkung

Oberstes Postulat und unverzichtbares Theorem aller monotheistischen Religionen ist die Willensfreiheit des Menschen, der Indeterminismus. Er gilt als unantastbares Axiom und ist grundgelegt in der dubiosen Paradiesesgeschichte, in der vier handelnde Personen auftreten, nämlich Gott als Schöpfergott, sein Widersacher, der Satan oder Teufel in Gestalt einer redenden Schlange, Adam, als Gottes Ebenbildnis aus Erdmasse erschaffen und Eva, als eine seiner Rippen von ihm genommene und ihm untergeordnete Kreatur. Diese beiden verfügen über einen freien Willen, mit dem sie sich dafür entscheiden, lügenhaften Einflüsterungen der Schlange zu glauben, wonach sie die Strafe auf sich nehmen müssen, aus dem Paradiese für immer vertrieben zu werden. Sie sündigten wider ihren Schöpfer, und diese Sünde übertrug sich laut monotheistischer Lehre auf alle ihre Nachkommen, also auf die gesamte Menschheit, die ihrerseits mit dem freien Willen begabt war, sich für Gutes oder Böses zu entscheiden, also sündig, schuldig zu werden oder sich von Schuld frei zu halten. Schuld und Strafe gehören nach dieser Lehre von Anbeginn der Menschheit her zur menschlichen Existenz.

Abgesehen von dieser ideologisch motivierten These hat aber der Indeterminismus auch eine pragmatische, eine praktische, eine praktikable Seite. Indem man dem Menschen den freien Willen und damit Schuldfähigkeit und Strafwürdigkeit zuerkennt, unterwirft man ihn gleichzeitig Sanktionen, macht ihn beherrschbar und, soweit man ihn nicht beherrschen kann, zumindest diffamabel, nimmt sich das Recht heraus, ihn schuldig zu sprechen, verantwortlich für seine Verfehlungen. So erscheint die Lehre und das Postulat der Willensfreiheit primär weltanschaulich fundiert.

Der Mensch sträubt sich gegen eine Schicksalslehre, weil er sich durch sie entwürdigt wähnt, aber damit unterliegt er der Verwechslung von Tun und Wollen. Das Vermögen der Freiheit des Handelns erzeugt in ihm die Illusion der Willensfreiheit.

Abgesehen von diesem psychologischen Sachverhalt hebt das Axiom des freien Willens den Menschen, auf sich selbst bezogen, über alle anderen Wesen hinaus, setzt sich (und ihn) von ihnen ab, da ihn die freie Entscheidungsfähigkeit, die sich über jede Art Instinkt und Trieb erhebt, zu einer Art Souverän werden lässt, für den er sich denn auch halten darf. Er verfügt über eine sich von allen andern Wesen unterscheidende Selbstbestimmung, mit der ihm eine göttliche oder doch gottähnliche Eigenschaft zuerkannt ist.

Allein der Gedanke, nicht selbstbestimmt zu sein, keinen freien Willen zu haben, sondern determiniert denken und handeln zu müssen, nimmt ihm, wie er meint, seine Menschenwürde, die als Fundament aller freiheitlichen Verfassungen ausdrücklich formuliert und anerkannt ist. Und so wird der Indeterminismus unversehens und unmittelbar zu einem unverzichtbaren, unantastbaren Politikum, wie er denn auch von jeher die Kultur des Abendlandes bestimmt und beherrscht und aus den Köpfen der Menschen kaum noch wegzudenken ist. Das gesamte Gesetzesgefüge – nicht nur – des Abendlandes ist auf dem Indeterminismus aufgebaut, insbesondere aber das Strafrecht, das an dem Verurteilten die Rache der Gesellschaft auslässt, ohne je etwas Besserndes, also Nützliches bewirkt zu haben.

Es erben sich Gesetz und Rechte
Wie eine ew´ge Krankheit fort,
Sie schleppen von Geschlecht sich zu Geschlechte
Und rücken sacht von Ort zu Ort,
Vernunft wird Unsinn, Wohltat Plage:
Weh dir, daß du ein Enkel bist!
Vom Rechte, das mit uns geboren ist,
Von dem ist leider! nie die Frage.
(Goethe, Faust I, Studierzimmer, 1972–1979)

Determinismus als philosophisches Axiom

Das älteste Zeugnis über die Erkenntnis der Determination findet sich in der Antike beim griechischen Philosophen Leukippos von Milet, der etwa 500 vor der Zeitrechnung lebte. Er war der Begründer des atomistischen Systems. Sein Schüler Demokrit, (etwa 460–370 v.d.Z.), leugnet jede Ursache; Ursachen sind für ihn ewig, also ohne Anfang und Ende. Ihm folgten die Stoiker, deren Begründer Zenon aus Kition auf Zypern (336–254 v.d.Z.) war. Sie erkannten, dass der Kosmos von einem unverbrüchlichen Determinismus gekennzeichnet ist, und sie vertraten die Auffassung einer durchgehenden Teleologie, die ihrerseits auf Aristoteles (384–322 v.d.Z.) überging, wenn auch in abgewandeltem und modifiziertem Verständnis. Cicero (106–43 v.d.Z.) vertrat in “De fato” die Überzeugung, dass alles vom Schicksal bestimmt sei und man sich daher um nichts zu sorgen oder zu bemühen brauche. Von ihm ging diese Ansicht auf Vergil (70–19 v.d.Z.) über, der sie in seinem “Hirtengedicht” kosmisch verankert sieht. Auch Seneca (4 v.d.Z.- 65 n.d.Z.) bringt in seiner “Trostschrift an Marcia” seine deterministische Anschauung zum Ausdruck, wenn er das Glück der Völker wie auch das größte und kleinste Geschehen vom Lauf der Gestirne abhängig sieht.

Kirchenvater Aurelius Augustinus (354–430), der als scharfer Denker den Tatbestand des empirisch wahrzunehmenden Determinismus nicht leugnen konnte, ersetzte ihn durch Einführung des Begriffs der göttlichen Prädestination, einer gottgewollten Vorsehung, der der Mensch unabdingbar unterstellt sei. Diese Lehre vertrat Martin Luther (1488–1546) in weit radikalerer Form, indem er mit seiner Prädestinationslehre den freien Willen radikal leugnete. So führt er am Beispiel des Verräters Judas und des verstockten ägyptischen Pharao aus, dass diese unter der unfehlbaren Notwendigkeit eines unausweichlichen, sie zum jeweiligen Zeitpunkt determinierenden inneren Zwanges, einer “necessitas infallibilis ad tempus” handelten. [1]

Eine weitere wichtige Unterscheidung zwischen unfreiem Willen und freiem Handeln traf Thomas Hobbes (1588–1679) mit der zutreffenden Beobachtung: “Es ist sicher, daß ich handeln kann, wie ich will, aber zu sagen, ich kann wollen, wie ich will, ist ein sinnloser Ausdruck”, nämlich ein Denkfehler. Damit entfallen aber auch logisch Lob und Tadel.

Baruch de Spinoza (1632–1677), wegen religiöser Irrlehren mit dem Bannfluch der Gemeinde belegt, erklärte, die Erkenntnis der unabänderlichen Weltordnung sei es, die den Weisen vom Toren unterscheide. Er ging als einziger Philosoph von Rang zum vollkommenen Pantheismus über und behauptete, es gebe keinerlei Zufall oder Willkür, alle Geschehnisse in der Welt seien vollständig determiniert. Spinozas Philosophie übte Einfluss u.a. auf Leibniz (1646–1716), Lessing (1729–1781), Fichte (1762–1814) und Schelling (1775–1854).

David Hume (1711–1776) war es dann, der als Empiriker das Kausalprinzip an Erwartungen aufgehängt sah, es kritisierte und den Kausalbegriff als Irrtum entlarvte. Außer der Willensfreiheit ist die Annahme von Kausalität, das Behaupten von Ursache und Wirkung, als zweiter Denkfehler aufzudecken, was übrigens auch die Quantentheorie von Max Planck (1858–1947) erwiesen hat.

Gegen den christlichen Indeterminismus trat dann Paul Heinrich Dietrich Baron von Holbach (1723–1789) auf, der die Auffassung vertrat, in der Natur gebe es weder Übel noch Schuld noch Unordnung. Alle Religionen waren für ihn Erzeugnisse priesterlichen Eigennutzes, schädlich für das Volksglück. Die Natur sei ohne Zweck, aber alles Geschehen notwendig. Kosmos und Bios unterliegen nach ihm dem Gesetz der Notwendigkeit.

Marquis Pierre Simon Laplace (1749–1827) vertrat eine kosmogonische Hypothese, dem Determinismus verpflichtet. Auch der Philosoph und Ethiker Arthur Schopenhauer (1788–1860), ein weit klarerer und schärferer, kompromissloserer Denker als der Moralist Immanuel Kant (1724–1804), vertrat den Determinismus, wofür zwei Zitate aus “Die Welt als Wille und Vorstellung” hier angeführt seien: “Der Intellekt vermag nicht den Willen selbst zu bestimmen, dieser handelt mit vollkommener Notwendigkeit. Der Mensch kann nicht beschließen, ein solcher oder solcher zu sein, noch auch kann er ein anderer werden.” ( Bd.I, S. 402–403). “Um zuvörderst das Böse zu beseitigen, wurde die Freiheit des Willens erfunden, diese ist jedoch nur eine versteckte Art, etwas aus nichts zu machen.” ( Bd. II, S. 222)

Friedrich Nietzsche (1844–1900) formulierte in “Der Wille zur Macht” in Sentenz 428: “Niemand der alten Philosophen hat den Mut zur Theorie des ‘unfreien Willens’ gehabt (d.h. zu einer die Moral negierenden Theorie)”. Er selbst erkannte klar die Finalität des Indeterminismus, wenn er in Sentenz 290 vorausschickte: “Die Moral-Hypothese zum Zweck der Rechtfertigung Gottes hieß: das Böse muss freiwillig sein (bloß damit an die Freiwilligkeit des Guten geglaubt werden kann) und anderseits in allem Übel und Leiden liegt ein Heilszweck. – Der Begriff ‘Schuld’ als nicht bis auf die letzten Gründe des Daseins zurückreichend, und der Begriff ‘Strafe’ als eine erzieherische Wohltat, folglich als Akt eines guten Gottes”. – Für Nietzsche war die Anerkennung des determinierten Willens geradezu das Kriterium des philosophischen Denkvermögens. Er war überzeugt, dass die Wissenschaft den Menschen sogar zwingen könne, die Willensunfreiheit anzuerkennen. Er predigte sein berühmtes “Amor fati”, die Liebe zum Schicksal.

Als ein gründlicher Denker der Jetztzeit erweist sich Fritjof Capra, 1939 in Wien geboren, der in Berkerley in Kaliforniern lebt und mit seinem beeindruckendem Werk “Wendezeit. Bausteine für ein neues Weltbild” fundamentale Erkenntnisse im Zusammenhang mit unserm Thema referiert. Allerdings verbindet er mit einem strengen Determinismus eine mechanistische Weltanschauung im Sinne der Auffassung von einer kausalen und völlig determinierten kosmischen Maschine, was hier abgelehnt wird, da wir von der Auffassung eines ganzheitlichen lebenden Organismus, einer Einheit von Kosmos und Bios, von ewig aktiver Bewegung als Element jeglichen Lebens ausgehen. Zuzustimmen ist Capra, wenn er feststellt, dass die meisten Akademiker engbegrenzte Anschauungen von der Wirklichkeit haben und daher nicht fähig sind, mit den großen Problemen der Gegenwart fertig zu werden. Sie befassen sich nicht mit der Wahrheit, sondern mit begrenzten und annähernden Beschreibungen der Wirklichkeit. Schon die mechanistische Weltanschauung, wenn man sie denn gelten lassen will, ist eng verbunden mit einem strengen Determinismus, mit der Auffassung einer – hier geleugneten – kausalen und völlig determinierten kosmischen Maschine. Demgegenüber ist das Universum als ein unteilbares dynamisches Ganzes aufzufassen, dessen Teile in Wechselbeziehungen stehen und nur als Strukturen eines Vorganges von kosmischer Dimension verstanden werden können. So muss nach Gregory Bateson (1904–1980) jedes einzelne nicht durch das definiert werden, was es an sich ist, sondern durch seine Zusammenhänge mit anderen Dingen. Jedes Ereignis wird vom gesamten Universum als Gesamtorganismus beeinflusst, womit das Wesentliche der Quantenwirklichkeit angesprochen ist. Die Quantenphysik sieht unmittelbare Beziehungen zum Universum als Ganzem, und so wird es zunehmend schwieriger, irgendeinen Teil des Universums vom Ganzen zu trennen.

Einstein (1879–1953) war der Überzeugung, dass irgendwann in der Zukunft eine deterministische Interpretation von bisher verborgenen lokalen Variablen gefunden werde.

Capra verweist auf die grundlegende Rolle nichtlokaler Zusammenhänge und die in der Atomphysik erkennbare Wahrscheinlichkeit, die eine neue Vorstellung von der Kausalität mit sich bringe, die tiefgreifende Auswirkungen auf alle Wissenschaftszweige haben werde.

Er hält den engen klassischen Begriff von Ursache und Wirkung nicht länger für haltbar, ohne jedoch eine überzeugende Alternativtheorie bieten zu können, und weist darauf hin, dass nach der Quantentheorie alle Materie ständig ruhelos und im Zustand immerwährender Bewegung sei, dass es in der Natur keine statische Struktur gebe, keine lineare Beziehung von Ursache und Wirkung, nichts Kausales im klassischen Sinne, sondern – synchron und analog (d. Verf.) – Entsprechendes nach der Relativitätstheorie.

So sind auch Geist und Materie korrelat, aber nicht kausal verknüpft. Capras von ihm hervorgehobene Vorstellungen und Theorien sind jedoch von der Mehrheit der Physiker immer noch nicht akzeptiert. Hemmschuh jeder fortschrittlich freien Erkenntnis war seit je die Religion, die Freud (1856–1939) mit Recht als eine Zwangsneurose der Menschheit betrachtete. Die Erkenntnis, dass alle Phänomene – physikalische, biologische, psychische, gesellschaftliche und kulturelle – grundsätzlich miteinander verbunden und voneinander abhängig sind, vertrat seit je die von der Religion verfemte und verspottete, darum auch noch heute als Aberglaube diskreditierte Astrologie, die indes in Fernost als Wissenschaft an den Universitäten gelehrt, im Abendland jedoch unterdrückt und so auf das Gebiet der Scharlatanerie abgedrängt wird, wie die albernen Zeitungs- und Zeitschriftenhoroskope ausweisen.

Die Theorie des Indeterminismus, des freien Willens, findet ihre Grenzen und ihre Widerlegung in der Tatsache, dass wir untrennbare Teile des Kosmos und in diesen eingebettet sind, also insofern innerhalb der uns gesetzten Grenzen unfrei, frei jedoch innerhalb der uns kosmisch eingeräumten Möglichkeiten im Sinne von Schicksal. Damit verliert die Frage nach dem freien Willen grundsätzlich ihre Bedeutung. Wenn ich das ganze Universum bin oder in dieses fest integriert, dann kann es keine Einflüsse von außen geben, und alle meine Handlungen sind nur spontan und frei dem mir zugebilligten Willen entsprechend.

Wir sind analog zum Lauf der Planeten ein geschlossener lebender Organismus, wie augenfällig schon der Einfluss des Mondes auf Leben und Geschehen auf der Erde beweist, wobei hier nur auf die Gezeiten, auf den Zyklus der Frau und die Zeit der Schwangerschaft hingewiesen sei. So ist auch die Erde mitsamt allem auf ihr befindlichen Leben erkennbar als ein lebendiges System von unabänderlicher naturgegebener Gesetzmäßigkeit, der auch der Mensch sich nicht zu entziehen vermag.

Hier seien noch einige Seitenverweise erlaubt. Was den vom Christentum postulierten und sich in den meisten Köpfen der Abendländer festgesetzten freien Willen angeht, so ist dieser sehr leicht zu Fall zu bringen. Schon ein zarter Hauch von Parfüm kann Freude oder Kummer in uns hervorrufen, Vergnügen oder seelischen Schmerz, und zwar durch seine Assoziation mit vergangenen Erlebnissen oder Wahrnehmungen. Ein winziges Quentchen von Hormon kann aus einem gesitteten Menschen einen Verbrecher machen, eine Kastration aus einem Gewaltverbrecher und Sexualtäter einen friedlichen harmlosen Menschen, eine depressionsverursachende hormonelle Verfassung in den Suizid treiben. Welchen Stellenwert, welche ernsthafte Bedeutung soll man da noch dem “freien Willen” zugestehen?

Die Quantentheorie von Max Planck (1858–1947) enthält die tiefsten uns heute bekannter physikalischer Naturgesetze, die das Kausalitätsprinzip widerlegen und auch den Indeterminismus nicht zulassen. Albert Einstein (1879–1955) schließt mit seiner Relativitätstheorie an die Quantentheorie Max Plancks an. Er wies u.a. auf die Gleichzeitigkeit räumlich getrennter Ereignisse hin, auf das Gesetz der Analogien und Synchronizitäten.

Der menschliche Organismus ist ein Mikrokosmos des Universums, wodurch der Platz des Individuums in der großen kosmischen Ordnung fest begründet ist.

Erster Denkfehler: Willensfreiheit

Aus der bisher vereinfacht skizzierten geistesgeschichtlichen Entwicklung von Philosophie, Theologie und Physik zur polaren Problematik Determinismus und Indeterminismus wird der erste Denkfehler der meisten dieser Systeme ersichtlich, nämlich die Verwechslung oder doch zumindest Nichtunterscheidung von Wille und Tat, von Wollen und Handeln. Der Mensch kann, sofern ihm nicht äußere Schranken gesetzt sind, jederzeit tun, was er will. Das jedoch lässt noch nicht die Annahme und Behauptung von der Freiheit seines Willens zu. Anlage und Charakter, seine nur ihm allein zukommende unverwechselbare Individualität, verweisen ihn in seine gesetzten Grenzen, die jedenfalls sein Wille nicht zu überschreiten oder zu sprengen vermag.

Auch physische Einflüsse unterschiedlichster Art machen ihn bestimmbar. Dazu gehört auch – wie gesagt – die hormonelle Verfassung, die seinen Willen bestimmt, wofür allein der Sexualtrieb, differenziert etwa nicht nur nach jugendlicher Verfassung oder Herabminderung der Libido in der Altersphase, sondern auch nach seiner Gerichtetheit, den Beweis liefert (u.a. Homosexualität, Heterosexualität, Pädophilie, Neigung zur Sodomie, Sadismus, Masochismus, Exhibitionismus, brutale Mordlust aus Sexualgier). Eine Kastration oder hormonelle Umstellung beeinflusst den Willen fundamental.

Auch Fragen und Probleme etwa des Glaubens sind nicht einem freien, sondern einem etwa an das Denken, an Einsicht, an geistiges Fassungsvermögen gebundenen Willen unterworfen. Niemand vermag seinen Willen zu regieren.

Die grässlichsten Beweise dafür lieferten die wider Willen gegen alle Vernunft unter der Folter abgelegten Geständnisse der Opfer in den Kerkern der Inquisition und in den finsteren Verließen der Hexentürme sowie die durch ständige Gehirnwäsche in den Sowjetgefängnissen unter Stalin bewirkten Selbstbezichtigungen.

Wille und Wollen sind zum Beispiel auch gebunden an Sympathien und Antipathien, ja werden häufig aus dem Unbewussten heraus bestimmt. So etwa wird ein Richter bei der Urteilsfindung, sofern es auf Imponderabilien und widersprüchliche juristische Abwägungen ankommt, die keine gesetzlich vorgegebene eindeutige Entscheidung erfordern, ohne es immer wahrnehmen zu müssen, seinen Willen weithin vom Unbewussten lenken lassen. Das erklärt nicht nur, aber doch zum Teil widersprüchliche Gerichtsurteile in verschiedenen Instanzen in derselben Sache.

Ein köstliches Experiment zum Beweis des Determinismus hat nach eigenem Bericht der philosophisch ausgerichtete Astrologe Erich Carl Kühr (1899–1951) mit einem entschieden den Indeterminismus vertretenden Astrologiegegner angestellt. Kühr wollte diesem Gelegenheit zum Beweis seiner von ihm behaupteten Willensfreiheit geben und lud ihn ein, gemeinsam ad hoc eine lockere Nacht in einem Bordell mit mehreren attraktiven Mädchen zu verbringen. Die Kosten wollte Kühr übernehmen samt einem anschließenden Ruhe- und Erholungstag in seiner Wohnung. Der – wenn auch unglücklich verheiratete – Indeterminist lehnte entschieden ab unter Hinweis auf die Folgen, die bei seiner Ehefrau zu erwarten waren. Zum Beweis seiner angeblichen Willensfreiheit kam es nicht.

Nach Hans Driesch (1867–1941) kann der sogenannte freie Wille niemals frei sein, da er stets und unter allen Umständen das Resultat anderer Kräfte ist; denn man will nie und kann nie wollen, ehe der Prozess des Denkens und Empfindens vorausgegangen ist. Die Art aber, wie gedacht und wie empfunden wird, bedingt die Entscheidung, also den Willen, und so kann jeder Entschluss als nichts anderes aufgefasst werden als eine direkte Folge der im Menschen wirkenden sinnlichen, geistigen und sittlichen Kräfte. Diese innige Verflochtenheit des Wollens mit den übrigen seelischen Funktionen und seine völlige Bedingtheit durch sie schließt die Freiheit des Willens eindeutig aus. Schließlich sei auf die Forschungsergebnisse und einschlägigen Veröffentlichungen des wohl bekanntesten deutschen Neurologen Wolf Singer (geb. 1943) verwiesen, Leiters des Max-Planck-Instituts für Hirnforschung in Frankfurt, Mitglied der päpstlichen Akademie der Wissenschaften, der die Willensfreiheit bestreitet und behauptet, dass das menschliche Bewusstsein vollkommen determiniert sei, der freie Wille somit eine bloße Illusion. Das Fazit seiner Forschungen und Erkenntnisse fasst er beiläufig, doch lapidar in dem Satz zusammen: “Keiner kann anders als er ist.” [2]

Als ich in den Jugendtagen
Noch ohne Grübelei,
Da meint ich mit Behagen,
mein Denken wäre frei.

Seitdem hab ich die Stirne
Oft auf die Hand gestützt
Und fand, daß im Gehirne
Ein harter Knoten sitzt.

Mein Stolz, der wurde kleiner.
Ich merkte mit Verdruß:
Es kann doch unsereiner
Nur denken, wie er muß.
(Wilhelm Busch, Zu guter Letzt 1904)

Wilhelm Busch (1892–1908) begreift hier in die Unfreiheit des Willens auch die des Denkens mit ein. Wolf Singer hat darauf hingewiesen, dass dieses von frühkindlichen Prägungen abhängig bleibt, und schon Franz Buggle (1933–2011) machte auf “die psychologisch übermäßig starke Wirksamkeit (früh)kindlicher Indoktrination” aufmerksam (“Denn sie wissen nicht, was sie glauben”, Hamburg 1992), und zwar unter Bezugnahme auf Schopenhauer: “Es gibt keine Absurdität, die so handgreiflich wäre, daß man sie nicht allen Menschen fest in den Kopf setzen könnte, wenn man nur schon vor ihrem sechsten Jahre anfinge, sie ihnen einzuprägen, indem man unablässig und mit feierlichem Ernst sie ihnen vorsagte.” (Parerga und Paralipomena, II. Kap. 26, § 344).

Abgesehen von diesen gedanklichen und ideologischen Vorprägungen und Festlegungen benötigen wir im praktischen Leben die Illusion des freien Willens, um überhaupt entscheidungs- und handlungsfähig zu sein. Sonst wäre man völlig lahmgelegt oder müsste tatenlos als Fatalist wie ein fernöstlicher Guru meditierend im Lotossitz verharren.

Aber wir sind auch sonst Illusionen unterworfen, wie etwa in der Liebe, die doch eigentlich Selbstliebe, also nur Projektion ist, was sich z.B. deutlich in der Eifersucht erweist.

Die Korrelation von Unfreiheit der Gedanken und des Willens, von Determination und Illusion wird auch aus anderen Beispielen ersichtlich. Schon das Schmecken und der Geschmack von Speisen und Getränken sind von der Illusion einer bei jedem Menschen unterschiedlichen Wahrnehmung abhängig und insofern nicht objektivierbar; sonst würden alle das gleiche bevorzugen oder verabscheuen. Dennoch ist der Geschmack an sich objektiv festgelegt. So etwa genießt der eine den Spargel als Delikatesse, dem andern widersteht er bis zur Übelkeit.

Ähnliches gilt auf dem Gebiet der Ästhetik, der Beurteilung oder des Genusses von Malerei, Skulptur, Musik, Literatur. Immer ist die jeweils determinierte Geschmacksrichtung das Kriterium, das subjektiv nicht zu beeinflussen ist. Der Mensch ist in seiner unverwechselbaren Individualität determiniert, dabei von Illusionen verlockt oder gar gesteuert, jedoch keineswegs souverän, wie er möchte und darum meint.

Ich kann nicht lieben wen ich will, ich kann nicht hassen wen ich will, ich kann nicht hochschätzen wen ich will, ich kann nicht verachten oder gar verabscheuen wen ich will, ich kann nicht vergessen wen ich will.

Alles das ist größtenteils abhängig von frühkindlichen Prägungen und Erlebnissen, aus denen sich niemand befreien kann.

Dieses Spannungsfeld, oft von Widersprüchlichkeiten belastet, bereitet vielen Menschen Unbehagen, das sich aber bald verflüchtigen wird, wenn man sich zur eigenen Individualität bekennt, diese akzeptiert und als persönlichen Freiraum versteht. Ich kann gar nicht anders sein als ich bin und sollte es schon deshalb auch gar nicht wollen. Damit ist man ja nicht grundsätzlich der eigenen, wenn auch eingegrenzten Freiheit beraubt, dem eigenen Wesen und der eigenen Art entsprechend zu leben und sich zu verwirklichen. Meine Freiheit ist nicht die des andern und die des andern nicht die meine, aber damit ist man nicht grundsätzlich unfrei, sondern auf unterschiedliche Weise frei.

Allerdings gilt das auch für gut und böse. Ein grundguter Mensch kann nicht böse sein oder werden, ein böser nicht gut. Wäre es nicht so, kein Mensch wäre mehr berechenbar oder einschätzbar, keiner mehr wertbeständig; seine Individualität wäre aufgehoben.

Zweiter Denkfehler: Kausalität

Wie es Zeit und Raum nicht gibt, die nur in unserer Vorstellung existieren, obwohl wir uns weder deren Anfang und Ende noch deren Unendlichkeit, deren Ewigkeit vorzustellen vermögen, so existiert auch Kausalität lediglich in unserer Vorstellung als eine unendliche Kausalkette, die nicht nur in die Vergangenheit hineingedacht werden kann, sondern auch in die Zukunft. Das sei an einem einfachen Beispiel anschaulich gemacht. Mir gleitet aus Unachtsamkeit ein Glas aus der Hand, fällt zu Boden und zersplittert. Was war die Ursache? Etwa meine Unachtsamkeit oder das zerbrechliche Material des Glases oder die Härte des Bodens, etwa der Fallwinkel des Trinkgefäßes, die Anziehungskraft der Erde? Allein in diesem Fall sind schon zumindest fünf unterschiedliche, voneinander unabhängige Ursachen anzuführen, die allerdings auch kombiniert gedacht werden können. Aber jede von ihnen lässt sich auf eine andere vorausgegangene Ursache zurückführen, die ihrerseits wieder ursächlich bedingt ist und sich in einer weiteren Ursachenkette zurückverfolgen lässt. Nehmen wir die Unachtsamkeit, so hat diese ihren Grund etwa in der Ablenkung meiner Gedanken, die vielleicht auf ein unglückliches Erlebnis zurückzuführen ist, aber dieses Erlebnis, etwa eine Todesnachricht, hat wiederum ihre Ursache, die auf eine ganze Ursachenkette zurückgeht, die sich z.B. bis zur Geburt, Zeugung und dem Vorleben der Eltern des Verstorbenen zurückverfolgen lässt. Es würde ins Unendliche gehen, wollte man diese Kausalitätskette auch bei den übrigen vier Ursachen nachvollziehen wollen, sie würde zu keinem Ende kommen.

Während die herkömmliche Philosophie, u.a. gestützt auf Aristoteles und Kant (1724–1804), am Kausalismus festgehalten hat, wendet sich Nietzsche in “Der Wille zur Macht” mit guten Gründen dagegen. Indem er Raum und Zeit leugnet, fasst er alles Geschehen nur als Erscheinungen, als Sinnes-Vorgänge, auf und gesteht, dass das Gefühl des Menschen, das post hoc zugleich ein propter hoc sei, zwar begreiflich, aber doch ein Missverständnis, da Erscheinungen nicht Ursachen sein können. (Sentenz 545). Zugespitzt fragt er: “ist die Absicht Ursache eines Geschehens? Oder ist auch das Illusion? Ist sie nicht das Geschehen selbst?” ( Sentenz 550). Er fährt fort: “Wir haben absolut keine Erfahrung über eine Ursache…” (Sentenz 551) und “Ursache kommt gar nicht vor” und wo sie uns gegeben schien und wir sie zum Verständnis des Geschehens projiziert haben, “ist Selbsttäuschung nachgewiesen.” (551) Und weiter: “Es gibt weder Ursachen noch Wirkungen … Die Kausalitäts- Interpretation eine Täuschung!” Und gegen Kant gewendet fährt er fort: “Es gibt nicht, wie Kant meint, einen Kausalitätssinn.” Die ausführliche Begründung lese man nach im folgenden Text, so in Sentenz 552.

Nun mag die logische Konsequenz naheliegen, bei Leugnung jeglicher Kausalität auch den Determinismus leugnen zu müssen in der Scheinfolgerung, wenn es keinen Zusammenhang von Ursache und Wirkung gibt, wie soll dann etwas determiniert, d.h. begrenzt und unausweichlich vorherbestimmt sein können? Dann ist also auch der Wille frei und alles Geschehen dem Zufall unterworfen. Auf die Unrichtigkeit dieser Schein-Logik hat u.a. C.G. Jung (1875–1961) hingewiesen, indem er berichtet: “Meine Beschäftigung mit der Psychologie unbewußter Vorgänge hat mich schon vor vielen Jahren genötigt, mich nach einem anderen Erklärungsprinzip umzusehen, weil das Kausalprinzip mir ungenügend erschien, gewisse merkwürdige Erscheinungen der unbewußten Psychologie zu erklären. Ich fand nämlich zuerst, daß es psychische Parallelerscheinungen gibt, die sich kausal schlechterdings nicht aufeinander beziehen lassen, sondern in einem anderen Geschehenszusammenhang stehen müssen.” (zitiert nach E.C. Kühr).

In seiner geistvollen, dialogisch und dialektisch angelegten Schrift “Astrologie am Scheidewege. Was steht in den Sternen?” weist Kühr darauf hin, dass jede Ursache auch eine Wirkung und jede Wirkung auch eine Ursache ist, dass noch kein Mensch tatsächlich eine Ursache gesehen oder einwandfrei festgestellt habe. Selbst nach Kant handelt es sich beim Kausalitätsprinzip nur um eine Betrachtungsweise, also um eine reine Verstandeskategorie, um eine in die Welt der Erscheinungen zur Erklärung der sich darin abspielenden Prozesse hineingetragene Ordnung, ohne Rücksicht darauf, ob diese Ordnung auch tatsächlich existiert. Das Kausalitätsgesetz ist demnach von unserem Verstand gesetzt worden. Es handelt sich hier aber keineswegs um die einzig mögliche Betrachtungsweise. Ich folge hier weiter den Darlegungen von Kühr. Schon die moderne Physik hat den Begriff der Ursache durch den der “Funktion” ersetzt, der nur noch besagt, dass zwei physikalische Vorgänge sich so verhalten, dass der Veränderung des einen die Veränderung des anderen in einem bestimmten zahlenmäßig angebbaren Verhältnis entspricht. Werner Heisenberg (1901–1976), Begründer der Quantenmechanik, schreibt: “Weil alle Experimente den Gesetzen der Quantenmechanik unterworfen sind, so wird durch die Quantenmechanik die Ungültigkeit des Kausalgesetzes definitiv festgestellt”. Und Max Born ( 1882–1970) fügte hinzu: “Wenn es prinzipiell unmöglich ist, alle Bedingungen (Ursachen) eines Vorgangs zu kennen, so ist es leeres Gerede zu sagen, jedes Ereignis habe eine Ursache.”

An die Stelle des vermeintlich logisch zwingenden Kausalgesetzes, das nur in falschen Vorstellungen existiert, hätte also, den Determinismus vorausgesetzt, ein anderes zu treten, das kritischer Prüfung standhält, indem es sich empirisch nachweisen lässt. Dieses Gesetz, schon seit dem Altertum, besonders auch seit den Anfängen der Astronomie (und auch Astrologie) auf Grund kosmischer Beobachtungen ableitbar, das also schon der vorlogischen Epoche menschlichen Denkens entstammt, ist das der Analogie, der Synchronizität, der Entsprechungen. Dieses Gesetz fällt etwa unmittelbar ins Auge beim Vergleich des Makrokosmos mit dem Mikrokosmos, also bei der Gesetzesparallelität von Planetensystem und Atom. Es wird auch deutlich bei der Beobachtung gesetzmäßiger kosmischer Vorgänge, wie etwa des gravitationsbedingten Rhythmus der Gezeiten, Ebbe und Flut, des Einflusses des Mondes auf den gesamten Flüssigkeitshaushalt der Erde (Kapillarverhältnisse bei Vollmond und Neumond in den Pflanzen, Monatszyklus der Frau, Zeit der Schwangerschaft). Das alles unterliegt nicht einem Kausalitätsgesetz, es entspricht der Gesetzmäßigkeit der Synchronizität und erweist Kosmos und Bios als gleichsam organischen Zusammenhang, als einen einzigen zusammenhängenden, in seiner Funktion unbeeinflussbaren Organismus, wofür als Beweis zum Beispiel auch der rhythmische Wechsel der Jahreszeiten anzuführen ist oder – das Erdzeitalter betreffend – die klimatischen Veränderungen, die über Jahrtausende hin mit der Präzession der Erdachse gegeben sind (u.a. Eiszeiten, tropische Zeiten). Dem unterliegen auch wohl die von Darwin (1809–1882) entdeckten Evolutionsgesetze, die den religionsideologischen Kreationismus außer Kraft setzten. Die Evolution verlief analog den sie ermöglichenden erdgeschichtlichen Vorgängen, die wiederum kosmisch bedingt waren.

Dritter Denkfehler: Schuld

Nach dem bisher Gesagten darf als wohlbegründete, kaum mehr zu bezweifelnde, der Wirklichkeit entsprechende Prämisse konstatiert werden, dass der Indeterminismus unhaltbar ist, es also keinen freien Willen gibt, ebenso wenig wie eine Kausalität oder gar ein Kausalitätsgesetz. Daraus aber folgt, dass es auch keine Schuld, somit keine Schuldfähigkeit des Menschen geben kann. Ihre Annahme aber dient seit eh und je zur Begründung für Strafe und Strafgesetze. Der Verbrecher wird jedoch als solcher geboren, darum kann er nicht schuldig werden, er ist es von Natur aus von vornherein. Darin unterscheidet er sich graduell, nicht aber grundsätzlich vom Geisteskranken oder Schwachsinnigen, der ebenfalls durch Strafe weder gebessert noch überhaupt zur Rechenschaft gezogen werden kann. Der durch seine übermächtige hormonelle Triebhaftigkeit gegen jede Vernunft sich immer wieder zu Sexualmord, zu Vergewaltigungen, zu Sadismen aller Art hinreißen lassende Triebtäter ist weder durch Willensanstrengung, eigene bessere Einsicht noch die ehrlichsten besten Vorsätze von seiner Tat abzuhalten, am wenigsten durch Strafmaßnahmen, die im Gegenteil durch Zeiten langer Entbehrung in der Haft seine Triebhaftigkeit aufstauen und bis zur Explosion steigern lassen können. Aus deterministischer Sicht und sogar auch nach dem einmal hypothetisch angenommenen Kausalitätsgesetz sind sie alle von jeglicher Schuld freizusprechen.

Diese Folgerung ist nicht nur aus der begründeten Leugnung von Willensfreiheit und Kausalität zu ziehen, sie ist auch unabhängig davon behauptet worden, etwa wenn Wilhelm Raabe im “Schüdderump” sagt: “Das ist das Erfreuliche am Leben, daß der Mensch für seine Natur kaum verantwortlich zu machen ist.”

Ohne die Voraussetzung von Willensfreiheit lässt sich Schuld oder Schuldfähigkeit nicht begründen, sie tritt somit ein als ein unabwendbares Schicksal ohne eigenes verantwortliches Zutun. So kann der Mensch gar nicht sagen: “ich will”, er muss zutreffend sagen: “es will” (in mir) so wie man sagen muss “es regnet”. Für ein solches Wollen ist niemand schuldig zu sprechen, wie auch Theodor Lipps (1851- 1914) festgestellt hat. So jedenfalls ist aus deterministischer und fatalistischer Sicht zu folgern.

Es wirkt fast erheiternd, an Hand des philosophiehistorischen Überblicks “Willensfreiheit oder Schicksal?” bei Helmut Groos zu lesen, wie selbst die scharfsinnigsten, den Determinismus unbedingt vertretenden philosophischen Denker, um Schuld und Verantwortung nebst der von ihnen behaupteten Kausalität zu retten, durch Hintertürchen indeterministische Begründungselemente in geradezu akrobatischen Gedankenwindungen bemühen, ohne doch je das Problem gelöst zu haben: Wie ziehe ich den Täter zur Rechenschaft, wenn es keine Schuld gibt? Soviel ich sehe, fand die Philosophie bisher keine Lösung. Goethe indes deutet sie an in dem Lied des Harfenspielers in Wilhelm Meisters Lehrjahren:

Ihr führt ins Leben uns hinein,
Ihr laßt den Armen schuldig werden,
Dann überlaßt ihr ihn der Pein;
Denn alle Schuld rächt sich auf Erden.

Ehe im letzten Absatz dieser Arbeit eine Lösung versucht werden soll, sei zunächst noch auf Zeugnisse des Determinismus in der Dichtung und den Determinismus als kosmisches Gesetz eingegangen.

Determinismus in der Dichtung

Selbstverständlich können im Rahmen dieser räumlich begrenzten Abhandlung nur wenige paradigmatische Beispiele von Zeugnissen des Determinismus in der Dichtung angeführt werden; das Thema bedürfte sonst einer mehrbändigen Ausarbeitung und vorausgehender literaturhistorischer Forschung.

Von Cicero (106–43 v.d.Z.), für den “am Himmel nichts Zufall” war, geht der Schicksalsgedanke weiter an Vergil (70–19 v.d.Z.). In diesen römischen Kulturkreis gehörte auch Seneca (4 v.d.Z. - 65 n.d.Z.), der in seiner “Trostschrift an Marcia” seine deterministische Anschauung zum Ausdruck bringt, wenn er sagt: “Von den leisesten Bewegungen der Gestirne hängt der Völker Geschick ab und gestaltet sich das Größte und das Kleinste, je nachdem des Gestirnes Lauf und Stand günstig oder ungünstig war.”

Wolfram von Eschenbach (1170–1220) formulierte:
Der Kreislauf der Gestirne zeigt
Wohin der Lauf der Menschen neigt.

Aus Dante Alighieris (1265–1321) Werk lässt sich unschwer sein Glaube an den Kosmos als geordnetes Weltall ableiten, insbesondere im 10. Gesang des “Paradiso”. – William Shakespeare (1564–1616) ist dann der erste bedeutende Dichter, der ein kosmologisches Vermächtnis hinterließ. Sein “Sturm”, der ohne kosmische Kenntnisse kaum verständlich wird, beweist es:

Nun da der Abend unser Aug´ umflort,
Betracht´ ich zukunftssüchtig die Gestirne,
Durch die uns Gott in Lettern wohl zu deuten
Der Kreaturen Los und Schicksal kündet.
Denn der aus Himmelshöhn den Menschen schaut,
Weist ihm aus Mitleid oft den rechten Pfad
In seiner Sterne Schrift am Firmament
Und sagt das Glück und Unglück ihm voraus.
Doch wir, am Staube haftend, sündenschwer
Verachten solche Schrift und sehn sie nicht.

Im König Lear (IV, 3) heißt es: “Die Sterne, die Sterne eben lenken unsern Sinn.” Goethe (1749–1832), dessen Urworte Dämon diesem Aufsatz als Motto voranstehen, bezeichnet Macht und Einfluss der Gestirne, die ihn mit Minna Herzlieb verbinden:

Da ist´s denn wieder, wie die Sterne wollten:
Bedingung und Gesetz und aller Wille
Ist nur ein Wollen, weil wir eben sollten
Und vor dem Willen schweigt die Willkür stille.
Das Liebste wird dem Herzen weggescholten.
Dem harten Muß bequemt sich Will und Grille.
So sind wir scheinfrei denn, nach manchen Jahren
Und enger dran, als wir am Anfang waren.

In Schillers (1759–1805) Gedichten und Trauerspielen spielt der Planeteneinfluss auf den Menschen eine bedeutsame Rolle. In der “Braut von Messina” ereignet sich im Grunde nichts anderes als die Erfüllung einer astrologischen Prognose. Zusammenfassend heißt es dort:

Noch niemand entfloh dem verhängten Geschick,
Und wer sich vermißt, es klüglich zu wenden,
Der muß es selber erbauend vollenden.

In Schillers “Wallenstein”- Trilogie, in der Seni die Gestalt Johannes Keplers vertritt, der Wallensteins Geburtsbild in Charakteristik und Schicksalsablauf präzise gedeutet hat, finden sich zahlreiche astrologische Darlegungen.

Dafür ein Beispiel:

Die himmlischen Gestirne machen nicht
Bloß Tag und Nacht, Frühling und Sommer – nicht
Dem Sämann nur bezeichnen sie die Zeiten
Der Aussaat und der Ernte. Auch des Menschen Tun
Ist eine Aussaat von Verhängnissen,
Gesteuert in der Zukunft dunkles Land,
Den Schicksalsmächten hoffend übergeben.
Da tut es not, die Saatzeit zu erkunden,
Die rechte Sternenstunde auszulesen,
Des Himmels Häuser forschend zu durchspüren,
Ob nicht der Feind des Wachsens und Gedeihens
In seinen Ecken schadend sich verberge.

Bekannter sind die Worte, die Schiller die Gräfin Terzy sagen lässt:

Nicht Rosen bloß,
Auch Dornen hat der Himmel,
Wohl dir, wenn sie den Kranz dir nicht verletzen!
Was Venus band, die Bringerin des Glücks,
Kann Mars, der Stern des Unglücks, schnell zerreißen!

Wallenstein selbst erklärt: “Der Tag bricht an, und Mars regiert die Stunde.”

Hölderlin sagt in seinem “Schicksalslied”:

Wie du auch anfängst, wirst du bleiben.
Sie viel auch wirket die Not und die Zucht:
Das meiste nämlich vermag die Geburt
Und der Lichtstrahl, der dem Neugeborenen begegnet.

Conrad Ferdinand Meyer (1825–1898) fasst die Geschichte Ulrich von Huttens in dem Gedicht zusammen:

Ihr lieben Sterne, tröstlich alle Zeit,
Wer dächte, daß ihr arge Zwingherrn seid –
Ihr seid´s ! Als sich die Erde mir erhellt,
Ward mir ein widrig Horoskop gestellt.
Weil, als ich kam, der Widder just geblüht,
Bin ich von unverträglichem Gemüt.
Ein flackernd Himmelsirrlicht trägt die Schuld
An meiner Wanderlust und Ungeduld.

Honoré de Balzac (1799–1850), der die klassische Epoche des französischen Romans eröffnete, war ausgesprochen astrologiegläubig, und der Mitbegründer des französischen Symbolismus Paul Verlaine (1844–1896) sagt in seinen “Poems Saturiens”: “Wer nun im Zeichen des Saturn hier ward geboren, der hat ein gut Teil von Leid, ein gut Teil von Galle…”

Selbst der kritische, kirchentreue Josef Görres ( 1776–1848) erkannte den Sternglauben als Urreligion und erklärte in seinem “Rheinischen Merkur”: “Steht nicht die Erde und alles, was schwer ist auf ihr, mit fernen Welten im Verkehr, und ist unser Körper nicht mit den entlegensten Gestirnen in Wechselwirkung, und haben nicht die Konstellationen Einfluß auf das Leben, das unten in der Tiefe glimmt?” Neujahr 1816 stellte er in der letzten Ausgabe des dann von der Regierung verbotenen “Rheinischen Merkur” ein Horoskop für das neue Jahr, worin er das Schicksal des Volkes deutet und spricht von einem großen Sternenjahr. In die Reihe dieser Autoren gehören u.a. auch Gustav Meyrink (1868–1932) und Christian Morgenstern (1871–1914).

Determinismus als kosmisches Gesetz

Unseres Wissens gibt es kein stringenteres, unabdingbar unausweichlicheres Gesetz als das durch die Wissenschaft der Astronomie bestätigte. Dass diesem Gesetz nicht auch alles Leben und Geschehen auf der Erde eingeordnet ist, kann nur der hybride Indeterminismus bestreiten, der ideologisch an der Willensfreiheit des Menschen wider alle Erfahrung festhält. Damit liegt zumindest der Gedanke nahe, dass die astronomische Gesetzmäßigkeit auch als Entsprechung die astrologische, d.h. eigentlich kosmologische, etwa im Sinne Giordano Brunos (1548 – 1600), bedingt, was allerdings von den monotheistischen Religionen und ihren Zwangssystemen in der Regel bestritten wird. Wo diese sich als Herrschaftssysteme durchsetzen konnten, musste ein solcher Zusammenhang allerdings im Interesse von deren Aufrechterhaltung bestritten, ja bekämpft und als purer Aberglaube abqualifiziert werden. Der Aberglaube an einen die Welt regierenden, alles bewirkt habenden und weiterhin bewirkenden Schöpfergott, dessen Existenz niemand beweisen kann, verdrängte ein uraltes Wissen, wie überhaupt jede Religion alles Wissen zu unterdrücken suchte und sucht, das ihren durch nichts begründeten und durch nichts nachzuweisenden Glaubenssätzen widerspricht. Und so wurde Giordano Bruno am 17. Februar 1600 auf dem Campo di fiori öffentlich lebendig verbrannt.

Glaube freilich heißt, wie schon Paulus zugeben musste, Nichtwissen. “Credo quia absurdum est” (Ich glaube, weil es widersinnig ist). Dieser Ausspruch, der irrtümlich Augustinus zugeschrieben wird und damit zum Postulat des Christentums erhoben wurde, beruht auf dem Missverständnis einer Textstelle aus seinen Confessiones VI, 5, die sich gegen die Manichäer richtete, die erst durch dreisten wissenschaftlichen Anspruch die Leichtgläubigkeit zum besten haben und später dann befehlen, vieles ganz Fabelhafte und Absurde zu glauben, weil sie es nicht beweisen konnten, während die Kirche, den Offenbarungsglauben verkündend, von vornherein vorschrieb, zu glauben, was nicht bewiesen werden konnte.

Immerhin behauptete Augustinus mit seiner Sentenz „Credimus ut cognoscamus, non cognoscimus ut credamus“, Grundlage und Voraussetzung des Erkennens sei der Glaube, was Anselmus von Canterbury (1033–1109) zu der gedanklichen Akrobatik bewog: “Neque enim quaero intellegere, ut credam, sed credo, ut intellegam. Nam et hoc credo, quia nisi credidero, non intellegam.” Aber auch das ist nichts weniger als absurd.

Keineswegs hat das Christentum eine Deutung der kosmischen Konstellationen mit ihrem Einfluss auf das Schicksal der Menschen und alles Geschehen auf der Erde durchgängig abgelehnt. So etwa war Alfons X. (der Weise) von Kastilien (1221–1284) nicht nur ein damals bedeutender Astronom, sondern betätigte sich auch als Astrologe.

Papst Julius II. (1443–1513), erfolgreicher Kriegsherr und Politiker, Förderer der Künste und Wissenschaften, größter Bauherr Roms, Begründer des Kirchenstaates, der Bramante (1444- 1514), Michelangelo (1475–1564) und Raffael (1483–1520) förderte, das 5. Laterankonzil einberief, übrigens aus kleinen Verhältnissen stammte, folgte ausschließlich astrologischen Erkenntnissen. Die von ihm errichteten Bauwerke haben bis heute Bestand.

Papst Paul III. (1468–1549), der Bestätiger des Jesuitenordens, bewährt als kluger Diplomat, der Michelangelo zur Vollendung der Peterskirche beauftragte, der Gelehrte und Künstler beschützte und mit dem Konzil von Trient eine entscheidende, bis heute gültig gebliebene Weichenstellung bewirkte, war ein überzeugter Anhänger der Astrologie.

Aus der Geschichte der Astronomie sind die im Folgenden aufgeführten Gelehrten, die gleichzeitig auch als Astrologen arbeiteten, nicht wegzudenken: Paracelsus (1494–1541), der als erster den Zusammenhang von Kosmologie und Medizin erkannte und somit die Analogie von Makrokosmos und Mikrokosmos. – Tycho Brahe (1546–1601), der als Astronom zugleich Astrologe Friedrichs V. von der Pfalz (1596–1632) und Kaiser Rudolfs II. (1576–1612) war.

Johannes Kepler (1571–1630), der Wallenstein beriet und in Schillers Trilogie als Astrologe Seni erscheint, stellte fest “Die Wirkung der Gestirnaspekte ist so klar, daß nur der sie leugnen kann, der sie nicht selber geprüft hat.”

Isaak Newton (1643–1727) konterte während einer Diskussion über Astrologie gegen den geringschätzigen Einwurf eines Astronomen: “Der Unterschied zwischen Ihnen, Mr. Halley (1656–1742) und mir ist, daß ich mich damit beschäftigt habe und Sie nicht.”

Schließlich sei noch Ernst Jünger (1895–1998) zitiert, der die zutreffende Feststellung traf: “Unsere Wissenschaft läßt sich ohne weiteres und ohne Rangminderung im astrologischen System unterbringen, nicht aber umgekehrt.”

Dieser Abschnitt sei mit zwei Fragen an den Leser abgeschlossen:

Welche Wissenschaft außer der Astronomie und der Kosmologie hat nicht ihr Wissen von gestern heute über Bord werfen oder zumindest korrigieren müssen und denkt sich nicht morgen selbst zu überflügeln? Ist Realität nur dann Realität, wenn sie wissenschaftlich nachgewiesen und erklärt worden ist?

Verantwortung als ethisches Postulat

Welches Fazit ist folgerichtig und konsequent aus dem bisher Erkannten und Gesagten zu ziehen? Wir müssen den freien Willen bestreiten, die Willensfreiheit des Menschen, den Indeterminismus und haben den Determinismus, ja Fatalismus als Weltgesetz erkannt. Wir sind aus den gewonnenen Einsichten ebenfalls genötigt, das Kausalitätsgesetz zu bestreiten und leugnen somit jegliche Kausalität, also das Gesetz von Ursache und Wirkung, weil jede Kausalkette ins Unendliche, Grenzenlose führt wie die Abfolge von Zeit und die Ausdehnung des Raumes. Wenn aber Willensfreiheit und Kausalität entfallen, so entfällt folglich auch jede Schuld, ist die Schuldfähigkeit des Menschen zu bestreiten. So stünde der konsequent denkende Determinist vor theoretisch und praktisch unlösbaren Problemen; denn welche Begründung sollte es nun noch für das Postulat der Verantwortung und Verantwortlichkeit geben, wenn es nicht ein anderes, meist übersehenes und somit im Denken vernachlässigtes Gesetz gäbe, nämlich das der Synchronizität, der Analogie, der Entsprechungen, das den gesamten Kosmos und das in ihm existierende Leben und Geschehen im Sinne eines einzigen zusammenhängenden, in sich in allen Einzelheiten miteinander verbundenen und gleichsinnig funktionierenden Organismus. In dieser Sicht sind zum Beispiel Tat und Strafe eins, die Tat enthält schon in sich die Strafe, und zwar nicht im Sinne einer übergeordneten oder gesetzmäßigen Gerechtigkeit, sondern als kosmisch bedingter Mechanismus, besser gesagt: Funktionalismus.

Und wenn die Tat unentdeckt und somit eine Bestrafung ausbleibt, leidet der Täter unter ihr umso mehr. Nicht selten hat diese innere Belastung schon manchen Täter zum freiwilligen Geständnis gedrängt, weil er sich durch äußere Bestrafung von der inneren Last befreien wollte.

Thomas Mann (1875–1955) greift diesen Gedanken auf in seinem “Zauberberg”, wo es heißt, “daß der Begriff der Schuld durch den Determinismus nicht nur nicht abgeschafft werde, sondern sogar durch ihn noch an Schwere und Schaudern gewönne.” Und weiter: “Der Verbrecher sei von seiner Schuld durchdrungen wie von sich selbst. Denn er sei, wie er sei, und könne und wolle nicht anders sein, und das eben sei die Schuld. … Der Mensch sei, wie er habe sein wollen und bis zu seiner Vertilgung sein zu wollen nicht aufhören werde; er habe eben ‘für sein Leben’ gern getötet und bezahle folglich mit seinem Leben nicht zu hoch. Er möge sterben, da er die tiefste Lust gebüßt habe.” [3]

Auch Bosheit zum Beispiel ist schon an sich Bestrafung für den Boshaften oder Bösartigen; denn sie zieht für ihn notwendig Böses nach sich, das im Keim bereits enthalten, also latent vorhanden war. Sie ist ein schicksalshaft gegebenes Defizit und enthält linear im Sinne einer organischen Funktion die Folgen, die in ihr bereits vorhanden sind wie die Pflanze im Samenkorn, wie die Henne im Ei. Schon im Säugling liegt der Keim des fertigen Menschen in seinem Entwicklungsgang. Die Volksweisheit: Es wurde ihm bereits in die Wiege gelegt, enthält diese Erkenntnis, und diese gilt für den Verbrecher ebenso wie für den Philologen, den Ethiker wie den Moralisten.

Jeder Ablauf ist unausweichlichen Gesetzen in Synchronizität unterworfen wie etwa der Ablauf der Jahreszeiten in Entsprechung zum Sonnenstand zur Erde oder eigentlich des Erdumlaufs um die Sonne. Vergleichbare Entsprechungen erkannte Ernst Kretschmer (1881–1964), wenn er aus dem Körperbau Charaktereigenschaften abzuleiten vermochte oder Ludwig Klages (1872–1956), der feststellte: “Der Leib ist die Erscheinung der Seele, und die Seele ist der Sinn des lebendigen Leibes”. Zur Verdeutlichung möchte ich hier modifizieren: Die Seele erfüllt den Sinn des lebendigen Leibes.

Notabene: auch der “Zufall” im landläufig gebräuchlichen Sinne ist nach dem Erkannten folgerichtig zu bestreiten. Zufall ist – wörtlich zu nehmen - das, was mir zufällt, was mir vom Schicksal bestimmt ist. Im Lichte des das Synchronizitätsgesetz einbegreifenden Determinismus ergibt sich aber ein weiteres Problem, nämlich das der Gerechtigkeit, die von den meisten ethisch wie moralisch denkenden, besonders aber von religionsgebundenen, einen Gott voraussetzenden Menschen für unverzichtbar und damit unabdingbar gehalten wird. Wir haben jedoch bei unvoreingenommener Beobachtung alles zurückliegenden Geschehens – und so auch im Hinblick auf das künftige – zu konstatieren, dass es keine Gerechtigkeit gibt, dass es sich bei dieser zwar um ein ehrenwertes Postulat, in Wirklichkeit aber um eine bloße Fiktion, um ein Phantom handelt. Wo sie aber gleichwohl angestrebt wird, ist sie in der Regel gleich wieder zum Scheitern verurteilt.

Dafür seien nur wenige Beispiele angeführt. So schließt die von Politikern und anderen Phantasten angestrebte Gleichberechtigung von Mann und Frau jede Gerechtigkeit aus, weil damit beide Geschlechter, vor allem aber die Frauen, benachteiligt werden. Nur eine Andersberechtigung, von der nie die Rede ist, könnte den Betroffenen in etwa gerecht werden. Oder wenn ein Lehrer alle Kinder seiner Schulklasse gleich behandeln würde, eben um allen gleicherweise gerecht zu werden, so würde er gegen alle, ihre jeweilige Individualität vernachlässigend, ungerecht sein. (Auch ich bin hier schon allen Lehrerinnen der Welt nicht gerecht geworden, weil ich die Lehrerinnen sogar an erster Stelle hätte nennen müssen!)

Kein Entscheidungsträger, ob Eltern, Erzieher, Vorgesetzte, Richter, vermag ständig gerecht zu sein, so sehr er sich auch darum ehrlich bemühen mag.

Hier ist ins Auge zu fassen, dass die Natur selber keine Gerechtigkeit kennt; im Gegenteil verfährt sie gegen Schwächeres und Schwächere in aller Regel rücksichtslos und grausam. Wenn etwa ein kleines ahnungsloses Kind sich aus natürlicher Neugier die Hand an der Flamme einer Kerze verbrennt, nach der es in verständlicher Wissbegier greift, um sie zu begreifen, so wird es ohne jede Schuld mit Verbrennung bestraft.

Auf anderer Ebene, und freilich unter ethischen Gesichtspunkten, sind aber auch Täter und Tat eins, sind identisch wie der Mensch und sein Schicksal. Der Täter begeht die Tat zwanghaft aus unwiderstehlichem inneren Antrieb, er ist zu ihr determiniert. Das wird insbesondere deutlich an der Regelmäßigkeit der Straftaten rückfälliger Täter. Welcher Verbrecher zum Beispiel entschließt sich denn wirklich zur Tat, insbesondere wenn er die lange qualvolle Zeit der Inhaftierung kaum hinter sich gebracht hat und sich wieder frei fühlen darf.

Gerade in Fällen schwerer Verbrechen, in denen der Täter die ihn niederdrückenden Folgen aus Erfahrung kennt, ist er offensichtlich gegenüber der neuen Untat machtlos, merkwürdig dumpf und triebhaft, dabei in der Regel auch blind und völlig unempfindlich für Gefühle und Rücksichten, aber meist absolut klar bei der Planung und Durchführung. Er wird offenbar unwiderstehlich, wie magnetisch angezogen, die Tat allen Überlegungen und guten Vorsätzen zum Trotz zu begehen.

Er ist insofern unschuldig, ihn trifft wegen übermächtiger Zwänge, denen er nicht widerstehen kann, keine Schuld. Wie aber kann man ihn dennoch verantwortlich machen und bestrafen? Freilich wäre hier zunächst weiterhin statt des veralteten inhumanen Strafrechts ein Maßnahmenrecht zu fordern, das die Gesellschaft vor ihm zu schützen geeignet wäre, indem man ihn selbst vor weiteren “Straftaten” sicherte, so wie es Fritz Bauer (1903–1968), Helga Einsele (1910–2005), Heinrich Hannover (geb. 1926), Birgitta Wolf (1913–2009) u.a. schon vor vielen Jahren vergeblich gefordert haben. Eins jedoch ist und bleibt unverzichtbar, nämlich die Forderung nach Verantwortung für jede Handlung, erst recht für eine solche, die andere Menschen schädigt. Das erfordert unabdingbar der Rechtsgüterschutz, der auch ohne Vergeltung, ohne Rache, ohne Strafbedürfnis gewahrt sein kann und gewährt sein muss.

Täter und Tat sind nicht zu trennen, die Tat ist im Täter angelegt, und so wird der Täter nach dem Gesetz der Analogie nicht bestraft, weil er Böses tat, sondern weil er böse ist. Wir müssen die Folgen unseres Handelns auf uns nehmen, müssen dafür einstehen, was wir taten, wir müssen schicksalshaft dulden, was uns das Schicksal bestimmte und auferlegte.

Im Übrigen gibt es im alltäglichen Leben eine Unzahl von Beispielen, wo ohne Schuld verantwortet werden muss. Unter dem Gesichtspunkt der Regresspflicht können wir alle auch ohne Schuld zu Schuldnern und damit verantwortlich gemacht werden. So haften Eltern für ihre unmündigen Kinder, wir haften für unabsichtliche, versehentlich verursachte Schäden, worüber jede Versicherung in ihren Policen zahlreiche Fälle vorsieht; wir haften auch für unsere wohlgemeinten Irrtümer, für die Beschädigung entliehener Sachen durch Dritte.

So bedarf es nicht einmal einer Schuld, um zur Verantwortung gezogen werden zu können. Verantwortung aber ist unverzichtbar, jedoch sie ergibt sich nicht aus einer (grundsätzlich zu leugnenden) Schuld, sie ergibt sich aus dem uns zugeteilten Schicksal.

Die Talente sind ungleichmäßig verteilt, insofern ist uns Ungerechtigkeit schon in die Wiege gelegt worden. Es gehört zu unseren alltäglichen Beobachtungen, dass gute integre, charakterlich einwandfreie und auch hilfreiche Menschen mit fast unerträglichen Leiden “bestraft” werden, manche Schurken, Betrüger, rücksichtslose Egoisten, Machtmenschen, Tyrannen und Quäler ihrer Mitmenschen dagegen in einem scheinbar genussvollen Dasein schwelgen.

Ein uraltes Beispiel bietet die Geschichte des unschuldig leidenden Hiob aus der hebräischen Bibel, der dort von Gott auf Grund einer Wette mit Satan gequält und enteignet wird und dazu Vorwürfe und Verdächtigungen seiner Freunde über sich ergehen lassen muss. Der Ausgang dieser von vornherein absurden Geschichte, dass er nämlich gesund und durch Reichtümer entschädigt wird, erweist sich nur als eine fromme und zugleich verlogene Scheinlösung.

Es ist müßig, sich über solche und andere scheinbaren Ungerechtigkeiten zu empören oder gar unter ihnen mitfühlend zu leiden. Schon das subjektiv entlastende naheliegende Wunschdenken, dass diese Unmenschen dann doch wenigstens unter sich selbst, unter ihrer eigenen charakterlichen Missgestalt leiden möchten, enthält den heimlichen Gedanken der Rache, der wiederum nach Gerechtigkeit verlangen möchte.

Von allen diesen Emotionen bleibt der Kosmos samt seinen ehernen Gesetzen unberührt. Des denkenden Menschen aber ist würdig, Tatbestände zu erkennen und anzuerkennen, ebenso gesetzmäßige Zusammenhänge ohne Illusionen und Fiktionen, die auf fehlgedeuteten Beobachtungen beruhen, frei von Selbstbetrug klar zu durchschauen sowie die ihm gesetzten Grenzen zu akzeptieren oder, um es mit Goethe (Maximen und Reflexionen, Erkenntnis und Wissenschaft) gültig zu formulieren: “Das schönste Glück des denkenden Menschen ist, das Erforschliche erforscht zu haben und das Unerforschliche ruhig zu verehren.”

 


Literatur:
Capra, Fritjof: Wendezeit. Bausteine für ein neues Weltbild, München 1988
Goethe, Johann Wolfgang: Werke. Hamburger Ausgabe in 14 Bänden. Band I Hamburg 1964, Band VII Hamburg 1965
Groos, Helmut: Willensfreiheit oder Schicksal? München 1939
Kühr, Carl Erich: Was steht in den Sternen? Astrologie am Scheideweg. Wien, Freilassing o.J. (1949)
Lehmen, Alfons S.J.: Lehrbuch der Philosophie auf der aristotelisch-scholastischen Grundlage zum Gebrauch an höheren Lehranstalten und zum Selbstunterricht. Zweiter Band, erster Teil: Kosmologie, hrsg. von Peter Beck S.J., Freiburg im Breisgau 1920
Nietzsche, Friedrich: Der Wille zur Macht. Versuch einer Umwertung aller Werte. Stuttgart 1952
Schepper, Rainer: Gott beim Wort genommen. Das Alte Testament auf dem ethischen Prüfstand. Mit einem Vorwort von Prof. Dr. Horst Herrmann. Argenbühl-Christazhofen 1993
Schepper, Rainer: Warum die Justiz nicht resozialisieren kann. Ein Beitrag zur Frage der Strafvollzugsreform. In: Vorgänge 3–9, München 1971
Schepper, Rainer: Zum Postulat ethischer Befreiung aus den Fesseln der Moral. Begriffsbegrenzung – Individuelle und politische Konsequenzen. In: Carola Baumann / Nina Ulrich (Hrsg.): Streiter im weltanschaulichen Minenfeld. Zwischen Atheismus und Theismus Glaube und Vernunft Säkularem Humanismus und Theonomer Moral Kirche und Staat, Festschrift für Prof. Dr. Hubertus Mynarek, Essen 2009
Schopenhauer, Arthur: Die Welt als Wille und Vorstellung. Textkritisch bearbeitet und hrsg. von Wolfgang Freiherr von Löhneysen. Frankfurt am Main 1996

 


  1. D. Martin Luthers Werke. Kritische Gesamtausgabe, Abteilung 1, Schriften, Weimar 1883 ff, XVIII 720 f., zitiert nach: Hubertus Mynarek: Luther ohne Mythos. Das Böse im Reformator, Freiburg 2012, S. 92  ↩

  2. Wolf Singer (Frankfurt Main): Selbsterfahrung und neurobiologische Fremdbeschreibung. Zwei konfliktträchtige Erkenntnisquellen. Ein epistemisches Caveat. In: Hilarion G. Petzold / Johanna Sieper (Hgg.): Der Wille, die Neurobiologie und die Psychotherapie. Band I. Zwischen Freiheit und Determination. Bielefeld und Locarno 2008, S. 225  ↩

  3. Thomas Mann, Gesammelte Werke, Zweiter Band. Der Zauberberg, Berlin 1955, S. 651–652.  ↩