Nach "Germanwings"-Tragödie steigt das Interesse am Thema "Depression"

"Die Verunsicherung bei Angehörigen ist groß"

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Depression

KOBLENZ. (hpd) Nach immer neuen Details zum Gesundheitszustand des Co-Piloten, der für die Tragödie des "Germanwings"-Absturzes verantwortlich sein soll, steigt die Unsicherheit in der Bevölkerung darüber, welche Auswirkungen psychische Erkrankungen auf das Verhalten von Betroffenen haben können.

Besonders unter Angehörigen sei eine wachsende Sorge zu spüren, berichtet der Selbsthilfegruppenleiter für Depressionen, psychosomatische Störungen, Zwänge und Phobien im Landkreis Konstanz, Dennis Riehle. Seit dem Unglück sei die Zahl der Hilfegesuche an die Gruppe sprunghaft angestiegen: "Üblicherweise verzeichnen wir ein bis drei Kontakte pro Tag. Im Moment sind es doppelt, manchmal sogar dreifach so viele. Und ein überwiegender Teil davon kommt aus dem Bereich der Angehörigen. Sie erkundigen sich vornehmlich danach, wie seelische Erkrankungen durch nahestehende Personen zu erkennen sind und ob es Anzeichen für suizidale Absichten eines Betroffenen gibt", erläutert Riehle. Zwar seien die meisten Anfragen nicht panisch, aber es werde doch eine ganz erhebliche Furcht zum Ausdruck gebracht. Zudem habe es nicht wenige Mails und Anrufe von Erkrankten selbst gegeben, die aufgrund der derzeitigen Atmosphäre im Land Diskriminierung befürchten oder bereits erlebt haben.

"Uns ist es ein wesentliches Anliegen, zu verdeutlichen, dass eine Form des ‚erweiterten Selbstmordes‘, wie sie über den französischen Alpen eingetreten sein dürfte, eine absolute Seltenheit ist und dass als Ursache von einer komplexen Erkrankung des Co-Piloten ausgegangen werden muss. Das hat nichts mit dem zu tun, was viele Angehörige uns als Krankheitsbild ihrer Liebsten beschreiben – wenngleich wir den Leidensdruck der Erkrankten keineswegs herunterspielen dürfen. Depressionen können tödlich sein! Und gerade die Ausgrenzung von Betroffenen ist nicht selten ein wesentlicher Grund dafür, dass es so weit kommt. Eine rechtzeitige und umfassende Behandlung ist vonnöten, besonders auch dann, wenn es sich um schwere Episoden oder gar manische Depressionen, also Bipolarität, handelt. Was in den Betroffenen in jenen Augenblicken vorgeht, in denen sie die Ausschläge ihrer Symptome erleben, kann ein Außenstehender kaum nachvollziehen. Deshalb bleibt auch das Handeln des Co-Piloten für die meisten Menschen unbegreiflich. Als selbst Betroffener vermag ich annähernd zu verstehen, welche Gedanken in seinem Kopf waren – doch sie sind für Außenstehende kaum erkennbar".

Dennoch ist Riehle überzeugt, dass auch Angehörige zumindest Veränderungen der Persönlichkeit ihrer Nächsten beobachten können, die im Zweifel aufmerksam machen sollten: "Sozialer Rückzug, Phasen der Gleichgültigkeit, für die Person ungewöhnliche Stimmungen oder eine andauernde Lethargie sind die gängigen Auffälligkeiten, die zu nennen sind. Zudem sollten Familie oder Freunde bei Personen hellhörig werden, die eine häufig wechselnde und stark ausgeprägte Emotionalität aufweisen. Sind zudem in der Vergangenheit Ereignisse in der Biografie zu erkennen, die eine psychische Instabilität vermuten lassen, bedarf es behutsamer Wachsamkeit. Das gilt gerade dann, wenn im Dialog deutlich wird, dass der Lebenssinn wegzubrechen droht oder zu intensiv auf ein einziges Ziel fokussiert wird. Auch beim Zusammenkommen physischer und psychischer Erkrankungen braucht es häufig Unterstützung. Dabei sollte es aber keinesfalls darum gehen, dass Angehörige etwaige Betroffene mit vermuteten Diagnosen konfrontieren oder verurteilen. Viel eher braucht es dann die vehemente Bekundung aus dem Umfeld, den Erkrankten keinesfalls allein zu lassen, ihm vorsichtig die vielseitigen Hilfsangebote aufzuzeigen und ihn weiterhin als gleichwertigen und festen Bestandteil der Familie zu sehen".

Im Übrigen wendet sich der Selbsthilfegruppenleiter gegen jeglichen Aktionismus: "Eine Beschneidung der Schweigepflicht für Ärzte, die Patienten in verantwortungsvollen Berufen behandeln, halte ich für unzulässig. Schon heute sind die Mediziner dazu verpflichtet, bei konkreter Selbst- und Fremdgefährdung Meldung zu erstatten. Dabei sollte es bleiben. Diskutieren kann man über regelmäßigere psychologische Gespräche, die weitaus sinnvoller sein dürften als standardisierte Testungen und Erhebungen. Ein Screening des Blutes auf Psychopharmaka und andere Medikamente ist ein tiefer Eingriff in die Persönlichkeitsrechte. Er würde nur dazu führen, dass Erkrankte auf die Einnahme notwendiger Präparate verzichten und eine Verschlimmerung ihrer psychischen Situation riskieren. Zudem sind unmittelbare Zusammenhänge zwischen einer Medikation und einer Erkrankung, die die Leistungsfähigkeit beeinträchtigt, nicht ohne Weiteres zu schlussfolgern. Generell müssen wir uns darüber unterhalten, wie wir gemeinschaftlich mit seelischen Störungen umgehen und wie wir Betroffene ermutigen können, ohne Scham und Angst zu ihren Problemen zu stehen. Denn kann es wirklich sein, dass wir sie im Falle dessen, dass sie mutig und aufrichtig zu ihrer Einschränkung stehen, pauschal ihrer Perspektiven und Lebensträume berauben und ihnen keinen alternativen Platz in der Mitte unserer Gesellschaft anbieten?", fragt Riehle abschließend.

Und er ergänzt: "Als Selbsthilfe kommt uns eine besondere Verantwortung zu, denn als niederschwelliges Angebot verbinden wir Betroffene und die oftmals von ihnen gemiedene Öffentlichkeit hautnah. Uns obliegt damit das Repräsentieren eines authentischen und selbstbewussten, aber eben auch allseits kritischen Bildes, das Orientierung gibt und Vorurteile nimmt.

 


Webseite der Selbsthilfegruppe