Gesellschafts-Kolumne

Die Pariser Métro

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Métro
Métro

PARIS. (hpd) Die Pariser Métro ist ein eigener Mikrokosmos mit vielen Facetten. Sie ist ein Ort der Einkehr, ebenso wie der Konfrontation. In einer Kolumne beschreibt Carsten Pilger ihren ambivalenten Charakter sowie die Menschen, die sich täglich in und mit ihr bewegen.  

Die Pariser Métro ist Schinderei. Die Pariser Métro ist eng, anstrengend, stickig. Die Pariser Métro ist Krieg.

Die erste Schlacht wird am Bahnsteig ausgetragen. Es ist 9 Uhr morgens. Die Pariser sind auf dem Weg zur Arbeit, deutsche und spanische Schulklassen auf dem Weg ins Museum. Unter nicht ganz strenger Beobachtung ihrer Lehrer. Im Anzug, das Hemd meist lässig offen und mit gepflegt und gepflegtem Drei-Tage-Bart, gibt sich der Büromensch bewusst stoisch, rührt sich aber erst im letzten Moment, um den neu einsteigenden Mitfahrern Platz zu machen. Reisende mit dicken Koffern versuchen erst, ihre dunklen Ungetümer gefüllt mit frisch gebügelten Hemden, Hosen und Unterwäsche in einer unscheinbaren Ecke des Waggons unterzubringen. Manche wissen aber schon, wie naiv diese Idee ist. Eine vornehme Dame lässt keinen Zweifel daran aufkommen, dass dieses Mittel der Fortbewegung nicht ihrer Selbstwahrnehmung entspricht. Mit einem unversöhnlichen Gesichtsausdruck erhebt sie sich vom Klappsitz, um den freien Raum etwas zu vergrößern. Nun kann der spanische Lehrer seine Schützlinge in die freien Ecken pressen. Abfahrt.

Die Pariser Métro ist Ort der Einkehr. Die Pariser Métro ist leise.

Viele Pendler richten den Blick nach unten. In ihrer Hand befindet sich oft ein dicker Schmöker aus einem der vielen Pariser Bücherläden. Molière, Camus, Houellebecq, Vian, Galvada, vielleicht aber auch nur das Lehrbuch für den nächsten Konkurs. Im Gegensatz zum Smartphone oder Kindle wirkt das Bücherlesen in der Métro immer noch verwegen, intellektuell, rebellisch. Auf den Inhalt kommt es nicht an, sondern auf die gedruckten Seiten. So sehr, dass sogar der Instagram-Account “Mecs Métro Paris” daraus wurde, der dem amerikanischen Vorbild nach die gutaussehenden, lesenden Bahnfahrer wie Abziehbildchen sammelt. Inzwischen auch ohne Buch in den Händen.

Das Aussehen spielt auch für die Frauen eine Rolle, die jeden Morgen eine Leistung vollbringen, die höchste Konzentration und eine ruhige Hand erfordert. In den wenigen Minuten der Fahrt von A nach B nutzen sie die Gelegenheit in der Métro, sich zu schminken. Ein Kraftakt, denn in der Menschenmasse ist Raum knapp und die Fahrt schüttelt eben diese Masse auch gerne durch. Die Pariserinnen haben ihr morgentliches Ritual perfektioniert. Es ist nicht, um einigen Instagram-Fotografen im Waggon zu gefallen. Es ist die Kriegsbemalung für die kommenden Auseinandersetzungen im Büro.

Die Pariser Métro ist Ort der Konfrontation. Die Pariser Métro ist laut.

Die Métro wird zur Kulisse für den Kampf um Geld, Sicherheit und eben auch die nächste Mahlzeit. Ein junger Mann mit Wollmütze, dicker Jacke und Jogginghose stellt sich in die Mitte des Waggons. Er stellt sich vor: Sein Name ist Anthony, er möchte uns nicht auf dem Weg zur Arbeit stören, uns aber aufmerksam machen. Auf das Leben auf der Straße. Auf den Hunger. Auf die Suche nach Halt. Darauf, wie es ist, jeden Tag überleben zu müssen. Anthony ist einer von vielen. Er ist nicht allein in seiner Verzweiflung, aber leider eben alleine auf sich gestellt. Seine Stimme zittert, er hat seine Rede schon tausende Male aufgesagt. Es nutzt sich ab. Die meisten Mitreisenden überhören Anthonys Worte, einige kramen nach Münzen. Im nächsten Waggon geht es für ihn von vorne los.

Auch andere bleiben in der Métro. Der Musiker steigt ein. Vor seiner ausgetragenen Wildlederjacke trägt er ein monströses Akkordeon, dem er nicht gewachsen scheint. Eine mobile Soundanlage, die nicht nur wie der Klotz am Bein wirkt, sondern es auch ist, wird schnell in die Métro gehievt. Sie soll das Klangbild erweitern. Dabei verdeutlicht sie nur, wie wenig der Musiker sich selbst zutraut. Der Versuch, “Happy” von Pharrell Williams neu zu interpretieren, ist zum Scheitern verurteilt. Zum Glück muss ich an der nächsten Haltestelle raus. Die Pariser Métro ist anstrengend, bunt, ernüchternd. Jeden Tag auf’s Neue.