Lese-Tipps von Thomas Hocke

Ich wollte Einhörner

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(hpd) Thomas Hocke, der ehemalige Redakteur des ZDF für Literatur und Bildende Kunst, Begründer etlicher Literaturformate in ZDF, 3sat und arte sowie Mitbegründer des Rheingau-Literatur-Festivals stellt im hpd Bücher vor, die nicht unbedingt Bestseller sind; es aber noch werden könnten.

Das ist eins der faszinierendsten Bücher, die ich in den letzten Jahren gelesen habe.

Zunächst fällt die virtuose Sprache auf - sicherlich auch noch perfektionistisch ergänzt durch die fabelhafte Übersetzung aus dem amerikanischen Englisch von Vanadis Buhr. Da beherrscht eine Autorin die Modulation, die die Sprache zulässt.

Es ist auf der einen Seite so geistreich und humorvoll geschrieben - trotz der manchmal ausweglosen Lage der Autorin, die hier ihre Biografie mit allen negativen wie positiven Seiten geschrieben hat. Auf der anderen Seite gewährt sie einen Einblick in Geschichte, wie man sie selten zu lesen bekommt. Sie ist Musikerin, Sängerin, singende Vegetarierin - wie sie sich bezeichnet - die den Durchbruch nicht geschafft hat.

Cover

Der geschickt inszenierte Umschlag verweist auf die Promotion einer Musikerin, die verzweifelt eine Kopie ihrer Musik an Veranstalter erstellen will. Sie versucht sich in Auftritten, die jenseits des finanziellen Überlebens stehen. Sie schafft einfach nicht, von ihrer Musik zu leben. Auch das wird nicht anklagend vorgetragen, eben nüchtern und mit so vielen Facetten, dass man staunend ob der beschriebenen Geschichte fasziniert in einen Sog gezogen wird, der nicht mehr abbricht. Es ist nichts hinzugedacht, nichts schwindlerisch erklärt, es ist einfach wahnsinnig toll beschrieben.

Die Sprache, mit der Alina Simone hantiert, ist atemberaubend. Es geht um ihre eigene Geschichte: sie ist in Charkow, Ukraine, geboren, die Eltern zogen mit ihr, als sie ein Jahr alt war, nach Amerika. Ihr Vater hatte, weil er die Zusammenarbeit mit dem KGB ablehnte, viele Entbehrungen auf sich nehmen müssen, um zu überleben.

Der Vater, Wissenschaftler, war Realist. Unrealistische Spinnereien waren ihm zuwider - und doch: so ein Funken Irrationalität steckte auch in ihm, wie Alina Simone bei ihm entdeckte: da ging es um Religion im weiteren Sinne, um Jenseitiges. Und auch sie selbst hat ein paar Züge in sich, die sie als irrational bezeichnet, sie aber rational wiedergibt. Das alles ist spielerisch von der Autorin aufgefangen und wiedergegeben. Jedes kleine Detail erweist sich als wichtig, es fügt sich zusammen zu einem Menschenbild, das man so beschrieben, selten gelesen hat, vor allem nicht in Biografien, in denen ein jeder nur das Beste für sich reklamiert.

Alina Simone scheut sich nicht, ihre Niederlagen zu beschreiben und Ungereimtheiten auf den Grund zu gehen. Man kann das fast eine Sucht nennen, wie sie versucht, Unklarheiten aufzudecken, Unwissen zu beseitigen, sie ist so wissensdurstig - und dem Leser wird klar, dass das nicht aufgesetzt ist. Sie will, so der Tenor ihrer Biografie, das Loch Charkow, das Land ihrer Eltern, begreifen, auch wenn sie erst ein Jahr alt war, als die Familie übersiedelte.

Sie will Sibirien verstehen, reist des Öfteren dorthin, bis sie erkennt, dass sie diese Erfahrung nicht braucht. Sie will über eine sektiererische christliche Gemeinschaft etwas erfahren, die pazifistischen Duchoborzen, erfährt, dass auch Tolstoi diese unterstützt hat - man kann da alles verblüfft im Internet auch nachlesen.

Da erweist sich die Geschichte der Autorin als nachschlagbar - und es ist verblüffend nachzulesen, wie sie nicht mit ihrer Biografie ihr eigenes Leben beschönigt.

Es ist ein wunderbares Buch, jeder Satz sitzt, das letzte in der Geschichte des Graf Verlags, der immer wieder Verblüffendes publiziert hat. Da konnte man auch ungesehen Bücher kaufen. Die Verlegerin, Tanja Graf, wird nun das Team um Winfried Stephan und Philipp Keel beim Diogenes Verlag in Zürich verstärken. Vielleicht finden wir dort auch wieder so gute Bücher wie zu Daniel Keels Zeiten, die man einfach kaufte, weil sie von diesem Verlag kamen.


Ich wollte Einhörner, Alina Simone, Graf Verlag (Ullstein), 2015, 320 Seiten, ISBN–13 9783862200436, 18,00 Euro