Ein mutiger US-Journalist gegen rechte Lügen und linke Arroganz

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Während des Sturms auf das Kapitol in Washington, D.C. am 6. Januar 2021. Anhänger von Präsident Trump drangen angestachelt von der Lüge des Wahlbetrugs in das Parlamentsgebäude ein.
Während des Sturms auf das Kapitol in Washington, D.C. am 6. Januar 2021

Die große allgemeine Verunsicherung: Ob Donald Trump, Bolsonaro, Erdoğan, Orban oder Putin & Co. – die Feinde der Demokratie in aller Welt nutzen die Macht der Social Media, um mit frechen Lügen und Verschwörungs-Geschwurbel Menschen zu beeinflussen und zu lenken. Und ungewollt erleichtern ihnen überzogene Rassismus-Vorwürfe, Gender- und Identitäts-Theorien von links dabei das Geschäft. Der US-Journalist Jonathan Rauch sorgt mit einem wichtigen Buch für Durchblick und Klarheit.

"Die Verteidigung der Wahrheit" – fürwahr ein anspruchsvoller Titel! Im amerikanischen Original: "The Constitution of Knowledge: The Defense of Truth". Darunter hat der US-amerikanische Politologe, Journalist und Autor Jonathan Rauch sein neuestes Buch veröffentlicht.

Gleich zu Beginn problematisiert er die erkenntnistheoretische Fragestellung: Wahrheit – was ist das? Woher wissen wir, dass wahr ist, was wir wissen? Wie gewiss können wir unserer Wahrheiten sein? Auf rund 400 Seiten müht sich Rauch zu belegen, wie wichtig uns die Antworten auf diese Grundfragen sein sollten, wenn wir wollen, dass unsere demokratischen Gemeinwesen auch in Zukunft funktionieren.

Noch unter dem Eindruck des "Trumpismus", als ein Präsident wie niemals zuvor in der Geschichte versucht, von reaktionärer Propaganda begleitet und per Internet mit falschen Wahrheiten unterstützt, die über 200 Jahre alte amerikanische Demokratie zu unterminieren und zu stürzen, ergreift Rauch resolut das Wort gegen "Fake News, Trolle, Verschwörungstheorie und Cancel Culture" (so der deutsche Untertitel). Für eine "realitätsbasierte Gemeinschaft", die lebt von der "Idee der Rechenschaftspflicht gegenüber der Wahrheit" und letztlich gehalten wird von einer "Verfassung der Erkenntnis", wie der Autor es nennt.

"Was ist Erkenntnis? Und was Irrtum?"

Seinen Exkurs beginnt Rauch mit einem Rückgriff auf die Fragestellung, die schon vor 2.400 Jahren die griechische Philosophie im Werk Platons beschäftigte: "Was ist Erkenntnis? Und was Irrtum? Wie kommt es zum Irrtum? Wie ist er überhaupt möglich?" Fragen, denen sich Rauch nach dem College-Studium auch als junger Journalist ausgesetzt sieht, nämlich "herauszufinden, was wahr ist, und Geschichten zu erzählen, die aufklären und Orientierung geben sollten." Dabei kommt er zu dem Schluss: "Guter Journalismus fängt mit der Neugier an, mit dem Staunen – ebenso wie die Philosophie und auch die Wissenschaften. Darauf folgen die Hypothese, die These, die anscheinend plausible Begründung und dann die Bemühungen darum, diese Begründung an der Welt zu überprüfen und zwar dadurch, dass man noch mehr Fragen stellt." Ein Anspruch, wie er durchaus in einem Leitfaden für einen seriösen Journalismus formuliert sein könnte.

Rauchs Aufruf richtet sich indes nicht nur gegen die falschen Wahrheiten und den Aufruhr von "rechts". Denn neben den rechten Brandstiftern wie Trump und Bannon lassen sich immer wieder auch gemäßigte Konservative von den moralisierenden und rechthaberischen Vorhaltungen aus der "linken" Gegenkultur provozieren. Mit Beispielen vor allem aus dem universitären Bereich zeigt Rauch, wie die als "Cancel Culture" bekannt gewordene Strömung von links ("Die Despotie der Wenigen") versucht, gegnerische Meinungen zu denunzieren und deren Vertreter mundtot zu machen. Rauch kann auf Fälle verweisen, in denen nach moralisierenden Denunziationen seitens studentischer Vertreter auch gemäßigte und liberale Lehrende ihre Stellung verloren.

Entschieden bekennt sich der Politologe dagegen zu den Grundlagen und Werten eines liberalen Staatswesens, wie sie die Denker der europäischen Aufklärung und die Väter der amerikanischen Verfassung im 18. Jahrhundert vorgedacht und eingefordert haben; aus Rauchs Sicht vor allem James Madison: "Wie Montesquieu sah Madison, dass die Tyrannei dadurch verhindert werden konnte, dass mehrere Machtzentren miteinander konkurrierten. Aber wie sein Fast-Zeitgenosse Adam Smith erkannte er auch, dass der Wettbewerb ein Motor ist, der die anarchische Energie der Vielfalt in eine koordinierte Bewegung der Kooperation umwandeln könnte – und die entscheidende Zutat dafür, so sah Madison, war der Kompromiss". In den Basics der demokratischen Verfassung findet Rauch "jene Werte, Regeln und Institutionen" verankert, "die den gesellschaftlichen Wettbewerb in friedliche und produktive Bahnen" zwingen.

Buchcover

Hierin wiederum erkennt Rauch Prinzipien, wie sie sowohl für den "realitätsbasierten" Erkenntnisprozess generell als auch für eine "liberale Wissenschaft" ("Kein letztes Wort, keine personengebundene Autorität"), sogar für den "Mainstream-Journalismus, Aspekte der Rechtslehre und der Geheimdienstarbeit" zu gelten hätten, kurz, für "all jene Gebiete, auf denen Forscher sich des unpersönlichen kritischen Ideenaustauschs bedienen, um der Wahrheit auf die Spur zu kommen, und sich dabei gegenseitig für ihre jeweils an den Tag gelegte Sorgfalt zur Rechenschaft zu ziehen". Das nennt Rauch die "Verfassung der Erkenntnis" und erklärt es als "das epistemische Betriebssystem des Liberalismus – das heißt unsere gesellschaftlichen Regeln für die Verwandlung von Dissens in Erkenntnis".

Stark und hochaktuell wird Jonathan Rauch, wo er sich in seinem Buch mit den Stärken und Schwächen der "Sozialen Medien" auseinandersetzt. Im Kapitel "Desinformationswirtschaft" resümiert er kritisch: "Am Ende ist Fehlinformation zu einem Geschäftsmodell geworden". Als besonders haarsträubend zitiert er eine Behauptung aus dem amerikanischen Wahlkampf, die Präsidentschaftskandidatin Hillary Clinton habe von einer Pizzeria aus einen Pädophilenring betrieben. Rauchs bitterer Kommentar: "Informationen wollen vielleicht frei sein, aber Erkenntnis will teuer sein – sehr teuer. Ein einziges investigatives Rechercheprojekt oder eine einzige akademische Studie erfordert die Arbeit mehrerer Vollzeitfachleute und ein Budget in Höhe von mehreren Zehntausend Dollar, oft sogar noch viel, viel mehr. Einfach etwas zu erfinden hingegen ist billig."

Doch Jonathan Rauch kommt es nicht in den Sinn, die modernen Medien und Plattformen generell zu verteufeln. Kritisch stellt er die eigene Schelte in Frage: "Doch ist die derzeitige Struktur der digitalen Medien die einzig denkbare? Nicht unbedingt." Minutiös und offensichtlich bestens informiert zeichnet der Journalist die spannende Entwicklung des Projekts Wikipedia seit dem Jahr 2000 historisch nach. "Sie ist die einzige gemeinnützige Website in den Top Ten und eine von nur wenigen in den Top 100" zitiert er einen Kollegen. "Sie kleistert sich nicht mit Werbung zu, spioniert einen nicht aus und bietet keinen Nährboden für die Trollerei von Neonazis." Und geht es nach Rauch, so ist Wikipedia nicht nur ein einsames Erfolgsmodell innerhalb der Sozialen Medien. An Beispielen aus der jüngsten Vergangenheit zeigt der Chronist auf, dass Wikipedia durchaus dabei ist, Nachahmer zu finden. Jedoch, so schränkt er ein, "die digitale Welt muss größtenteils gar nicht wahrheitssuchend sein, sondern nur wahrheitsfreundlich. … Wir sind nicht darauf angewiesen, dass Social-Media-Unternehmen die Grenzen der Erkenntnis erweitern; wir verlangen von ihnen nur einen prinzipiellen Hang zur Wahrheit statt zu ihrem Gegenteil."

Die Anforderungen eines "Web 3.0"

Und dann wagt Rauch einen Ausblick in die nähere Zukunft der digitalen Medien und skizziert hochspannend die Anforderungen für einen Übergang zum "Web 3.0", in "eine Ära, in der die Plattformen, oder zumindest die bedeutenden unter ihnen, allmählich institutionelle Züge annehmen." Was Rauch damit meint, erläutert er mit den Worten: "Sie arbeiten intensiv daran, Normen und Anreize zu entwickeln, um sich selbst und ihre Nutzer zu einem prosozialen, wahrheitsfreundlichen Verhalten anzuspornen." Darunter versteht Rauch unter anderem die Einführung von Gremien, deren Job es ist, die behaupteten Fakten jeweils vor dem Publizieren gegenchecken zu lassen. Noch wichtiger: Die Faktenprüfer-Organisationen sollen sich weltweit vernetzen, um so schneller und wirkungsvoller in der Lage zu sein, neue Behauptungen eindeutig zu identifizieren und zu evaluieren.

Das letzte Kapitel in Rauchs hochinformiertem und couragiertem Aufruf zur "Verteidigung der Wahrheit" appelliert unmittelbar an die Einsicht des Lesers und soll aufrütteln: "Werdet wieder laut – auf zur Gegenwehr!" Mit dem "wieder" rekurriert der engagierte Journalist noch einmal auf die Gründerzeit der amerikanischen Verfassung, die ja immerhin auch die Grundlagen legte für die Forderungen der Französischen Revolution, mit ihren Auswirkungen bis hinein in unser demokratisches Grundgesetz von 1949.

Und wieder bringt Rauch die von ihm geforderte "Verfassung der Erkenntnis" ins Spiel: "Auch sie verlangt sowohl Hingabe als auch Vernunft. Die Mitglieder der realitätsbasierten Gemeinschaft müssen leidenschaftlich nach der Wahrheit streben und sich gleichzeitig ganz nüchtern ihrer Flüchtigkeit bewusst sein. Sie müssen kühn nach Erkenntnis streben und zugleich akzeptieren, dass sie die meiste Zeit nur auf Irrtümer stoßen werden".

Rauchs scharfsinnige Analyse bezieht sich auf die gegenwärtigen Zerwürfnisse in der amerikanischen Gesellschaft. Die grundlegenden Erkenntnisse aus seiner Kritik an den modernen Glaubenskriegen lassen sich wohl auch auf die Gegebenheiten in unserem Land übertragen. Sie eröffnen realistische Lösungsmöglichkeiten und begründen Hoffnung. Rauchs Buch sollte deshalb auch bei uns viele Leser finden.

Jonathan Rauch, "Die Verteidigung der Wahrheit – Fake News, Trolle, Verschwörungstheorien und Cancel Culture", Stuttgart 2022, S. Hirzel Verlag, 416 Seiten, 28 Euro, ISBN: 978-3-7776-3230-8

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