"Die Toten kommen" vor dem Bundestag

Ein wunderschöner Akt des zivilen Ungehorsams

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BERLIN. (hpd) Das Zentrum für politische Schönheit (ZPS) rief am gestrigen Sonntag dazu auf, zu einer Kunstaktion "weder Särge noch Holzkreuze mitzubringen, nicht kreativ zu sein und sich nicht selbst zu organisieren." Denn die Berliner Polizei hatte das alles ebenso verboten wie das "Mitführen eines Baggers im Demonstrationszug".

Die Abschlusskundgebung und die Kunstaktion, bei der symbolisch Gräber für die an den Außengrenzen der EU Ertrunkenen gegraben werden sollten, durfte nicht - wie geplant - vor dem Bundeskanzleramt stattfinden. Es hat in Deutschland ja schon eine gewissen Tradition, dass selbst bei Revolutionen "das Betreten des Rasens verboten" bleibt. Allerdings konnten die aufgestellten Bauzäune und anfänglich rund 200 Polizisten nicht verhindern, dass die Wiese vor dem Reichtagsgebäude sich in ein Gräberfeld verwandelte.

Am späten Abend wurde via Twitter dieses Foto verbreitet:

#dietotenkommen

Zuvor war es zu Rangeleien zwischen den friedlichen Demonstranten und der überfordert wirkenden Polizei gekommen. Nach Angaben des Tagesspiegel wurden rund 50 Demonstranten vorläufig festgenommen. Aktuelle Angaben sprechen davon, dass rund 150 Ermittlungsverfahren eingeleitet werden sollen.

Besonders empörend empfanden viele Teilnehmer und Berichterstatter, dass die Polizei gezielt auch Journalisten angegriffen haben soll. Es kursieren Fotos im Netz, die einen Journalisten mit zerrissenem Hemd und Blutergüssen zeigen.

Dabei zeigen Fotos des Demonstrationszuges und der Kundgebung, dass die rund 5.000 Teilnehmer friedlich waren. Das berichten übereinstimmend auch Medien, die Vertreter vor Ort hatten: "Die Stimmung ist fast ausgelassen" heißt es im Tagesspiegel, bei der Zeit klingt es fast nach einem fröhlichen Familienfest: "Am Rande springt ein kleines Kind auf einem der umgeworfenen Zäune herum, und als eine Polizistin den Vater bittet, das Kind möge doch damit aufhören, guckt es sie nur an und sagt: 'Ey, ich mag keine Cops!' Alles wie immer also."

Allerdings - so eine Augenzeugin zum hpd - gab es für den Demonstrationszug kaum eine andere Möglichkeit, als die Zäune niederzureißen und die Wiese vor dem Reichstag zu "fluten". Als die Spitze des Zuges bereits die Wiese erreicht hatte, war das Ende der Demonstration noch nicht einmal losgegangen. "Am Sonntagmittag um 14 Uhr dann also Treffpunkt Unter den Linden. Ein paar Tausend Menschen, die Polizei wird später von 5.000 sprechen. Aus der Entfernung schallt Beethovens Ode an die Freude über die Straße bis zu den Demonstranten. Die Europahymne, das passt. Sie ziehen dann langsam den kurzen Weg zum Kanzleramt, und so richtig kann sich die Menge nicht entscheiden, ob sie nun traurig oder wütend auftreten will."

Im Freitag heißt es: "Fakt ist, dass das ZPS mit ihrer Aktion eine künstlerische Intervention begonnen hat, die zwangsläufig in politischen Protest münden musste – allein schon, weil die Bürgerinnen und Bürger, die an ihr teilnehmen, sich nicht als Künstler, sondern als politische Bürger verstehen, die nicht bereit sind, die tödlichen Flüchtlingspolitik der Bundesregierung und der EU unwidersprochen mitzutragen."

Dieser Protest, der sich in der letzten Zeit angestaut hat, brach sich mit dem Fallen des Zaunes einen Weg. Zum Unverständnis nicht nur von Hannah Beitzer, die in der Süddeutschen darüber spricht, dass das ZPS doch bitte leiser protestieren solle. Man hat den Eindruck, dass Frau Beitzer für die spricht, die nicht gern an ihr Wegschauen erinnert werden wollen. "Warum überhaupt musste das ZPS sich so selbstgewiss als Tabubrecher und Deutschlandaufwecker inszenieren? Die Künstler hätten sich einfach auf ihre in der Tat sehr schöne Grundidee konzentrieren können: Menschen, die an den Grenzen Europas gestorben sind, im Herzen des Kontinents zu beerdigen." Das aber dann bitte still und leise und vor allem: nicht den Rasen betreten!

So widerspricht Georg Diez bei Spiegel-Online zu Recht: "Es ist natürlich ein performativer Widerspruch, wenn man jemandem vorwirft, dass er zu sehr nach der Aufmerksamkeit giert", wenn man selbst eines der Medien ist, die diese Aufmerksamkeit mitgeneriert.

"Eine junge Frau, die ihren Namen nicht nennen will, hofft, dass die Idee auf andere Städte überschwappen wird", heißt es im bereits erwähnten Artikel des Tagesspiegel. Sie könnte Recht behalten, denn vor dem österreichischen Parlament entstanden gestern Nachmittag ebenfalls zwei Gräber:

#dietotenkommen

Am Ende steht die am häufigsten gestellte und zugleich überflüssigste Frage zu solch einer Aktion: “Darf man das?” Die Antwort darauf stammt vom Erfinder des Zentrums für Politische Schönheit, Philipp Ruch, der vom Neuen Deutschland zitiert wird: “Wenn Humanismus als Kunst deklariert werden muss, dann sind wir als Gesellschaft am Ende.”