Schweiz

Grundlegende Forderungen der Wiedergutmachungsinitiative anerkannt

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Betroffene auf dem Bundesplatz
Betroffene auf dem Bundesplatz

BERLIN. (hpd/press) Der schweizerische Bundesrat hat am 24. Juni die Vernehmlassung zum Bundesgesetz über die Aufarbeitung der fürsorgerischen Zwangsmassnahmen und Fremdplatzierungen vor 1981 eröffnet. Dabei anerkennt der Bundesrat, dass den Opfern schweres Unrecht zugefügt worden ist.

Er will darum unter anderem einen Fonds im Umfang von 300 Millionen Franken einrichten. Dieser Solidaritätsfonds nimmt eine zentrale Forderung der Wiedergutmachungsinitiative auf. Die Vernehmlassung und die parlamentarischen Beratungen müssen diese anvisierte Lösung nun bestätigen und zeigen, dass der Wille zu einer umfassenden Aufarbeitung tatsächlich gegeben ist. Bis die definitive Fassung des Gegenvorschlags vorliegt, bleibt die Wiedergutmachungsinitiative massgebend.

Der Bundesrat hält Wort und macht vorwärts mit dem Bundesgesetz über die Aufarbeitung der fürsorgerischen Zwangsmassnahmen und Fremdplatzierungen vor 1981. Als Gegenvorschlag zur Wiedergutmachungsinitiative, die einen Fonds von 500 Millionen Franken vorsieht, will der Bundesrat einen Solidaritätsfonds im Umfang von 300 Millionen Franken einrichten – er geht von geringeren Opferzahlen als die Initianten aus. In der Berechnung des Bundesrates würde jedes Opfer einen Betrag in der Grössenordnung zwischen 20.000 und 25.000 Franken als Anerkennung für das erlittene Unrecht erhalten. Im Vergleich zu Leistungen in anderen Ländern, die ihre eigenen Missbrauchsfälle aufarbeiten, ist dieser Betrag für die Opfer in der Schweiz durchschnittlich und keinesfalls zu hoch angelegt.

Der Solidaritätsfonds soll primär durch den Bund finanziert werden. Andere Zuwendungen sind möglich, jedoch freiwillig. Dadurch, dass in erster Linie der Bund die Finanzierung tragen würde, könnte es – wenn die parlamentarische Beratung der Vorlage rasch erfolgt – bereits 2017 zu ersten Auszahlungen kommen. "Dieses Vorgehen beschleunigt den Prozess und garantiert, dass noch möglichst viele Opfer eine umfassende Wiedergutmachung erleben würden", so Guido Fluri, Begründer der Wiedergutmachungsinitiative. "Viele der schwer Betroffenen sind heute betagt und gebrechlich und brauchen darum rasch unsere Hilfe. Die Initianten hoffen, dass nebst dem Bund auch andere Stellen die Beiträge freiwillig mitfinanzieren."

Positiv fallen zusätzliche Massnahmen auf, die im Bundesgesetz vorgesehen sind. So etwa in den Bereichen wissenschaftliche Aufarbeitung und Öffentlichkeitsarbeit, Archivierung und Akteneinsicht oder Beratung und Unterstützung durch die kantonalen Anlaufstellen. Auch die Zeichen der Erinnerung, die in den Kantonen beispielsweise durch Errichtung von Denkmälern gesetzt werden sollen, werden vom Komitee der Wiedergutmachungsinitiative begrüsst.

Für die Initianten der Wiedergutmachungsinitiative ist jedoch klar: Abschliessend kann der Gegenvorschlag und das weitere Vorgehen noch nicht beurteilt werden. Erst muss das Parlament zeigen, dass es dem Bundesrat folgt, die Aufarbeitung vorantreibt und den Schwerstbetroffenen die notwendigen finanziellen Leistungen zukommen lässt. Die Wiedergutmachungsinitiative, die eine grosse Unterstützung in der Bevölkerung erlebt, bleibt für eine umfassende Aufarbeitung zentral.

Das erlittene Unrecht ist gross.

In der Schweiz leben Zehntausende Opfer von fürsorgerischen Zwangsmassnahmen und Fremdplatzierungen. Aufgrund dieses dunklen Kapitels der Schweizer Geschichte haben Verdingkinder und Heimkinder schwerstes Unrecht, Misshandlungen und Missbrauch erlitten. Bis 1981 wurden Tausende von Personen ohne Gerichtsbeschluss administrativ versorgt. Frauen wurden unter Zwang sterilisiert oder zur Abtreibung gezwungen. Kinder wurden gegen den Willen ihrer Mütter zur Adoption freigegeben oder in Waisenhäusern und Kinderheimen platziert.

Die Forschung geht davon aus, dass rund 20.000 schwer betroffene Opfer von fürsorgerischen Zwangsmassnahmen in der Schweiz noch leben. Aufgrund des massiven Missbrauchs, der Demütigung und des teils jahrzehntelangen Stigmas befinden sich viele dieser Personen in psychisch schwierigen und finanziell prekären Verhältnissen und brauchen darum Hilfe.


Erstveröffentlichung: Pressenza