BERLIN. (hpd) John Komlos, emeritierter Wirtschaftshistoriker und Ökonom, zeigt mit seiner "Einführung in eine realitätsbasierte Volkswirtschaftslehre" die Diskrepanz zwischen Realwirtschaft und dem in Hörsälen gelehrten volkswirtschaftlichen Standardmodell auf, dessen "meiste Lehrbücher nicht wirklich geeignet sind, um die Grundlagen des real existierenden Kapitalismus in der globalisierten Welt des 21. Jahrhunderts zu verstehen."
Auch wenn der englische Originaltitel explizit Studenten als Zielgruppe nennt ("Was alle Studenten der Volkswirtschaftslehre wissen müssen und in herkömmlichen Grundlagentexten nicht finden"), dürfte dieses Buch auch für alle anderen ein Gewinn sein, die einen kritischen, vielleicht erstmaligen Blick auf den Stand der Wirtschaftswissenschaften werfen wollen, nach deren Paradigmen die Weltwirtschaft nach wie vor einer "unsichtbaren Hand" des Marktes (Adam Smith) überlassen wird.
Dass der langjährige US-Zentralbankchef A. Greenspan wie auch sein Nachfolger B. Bernanke die Finanzkrise von 2008 weder frühzeitig erkannt haben, noch überhaupt für möglich hielten, ja sogar qualifizierte Warnungen ignorierten, hat einen ideologischen Grund: das Auftreten einer derart schweren systemischen Krise wird von deren neoklassischen (-liberalen) Standardmodell deregulierter und sich selbst optimierender Märkte einfach ausgeschlossen. Entsprechend überrascht und orientierungslos wurde auf diese Krise dann auch reagiert. Die beiden Zentralbankchefs vertrauten auf eine Volkswirtschaftslehre, deren Grundannahmen in Widerspruch zu den realen Märkten stehen.
Die eklatanten Widersprüche zwischen der selbst nach dieser Krise weiterhin angewendeten ökonomischen Konzepte des Marktfundamentalismus und der realen Wirtschaft sind Thema des vorliegenden Buches von John Komlos, Direktor des Instituts für Wirtschaftsgeschichte an der LMU München bis 2010. Leicht verständlich auch für Leser ohne volkswirtschaftliche Vorkenntnisse benennt der Autor mit Verweisen auf zahlreiche Arbeiten, Studien und Zahlenmaterial vorwiegend der letzten fünfzehn Jahre und aus den USA, die Schwachstellen heutiger Wirtschaftspolitik. Dabei entwirft J. K. ein Bild, bei dem Wirtschaft nicht als isolierter Selbstzweck, sondern immer in Einheit mit den gesamtgesellschaftlichen Folgen betrachtet wird: "Es fehlt an kreativen Ideen, wie man diese unausgeglichene Wirtschaft in eine verwandeln kann, die integrativ ist und ein menschenwürdiges Leben für alle ermöglicht. Der Zweck dieses Buches ist es, ein Feuer in den Köpfen der Leser zu entzünden…"
Teil 1 - Ökonomische Modelle vs. Realität
Nach einer Einleitung, einem Credo und der Skizze eines humanistischen Wirtschaftsmodells werden in 13 Kapiteln ökonomische Modelle an der Realität gemessen: "Märkte sind nicht von Gott erschaffen / Märkte haben Limitationen / Der Nachteil freier Märkte / Ideologie" u.a. Auf Widersprüche zwischen Modell und Realität wird im Verlauf des Buches immer wieder eingegangen. Beispielsweise wertet J. K. die Metapher der Marktregulierung durch eine unsichtbare Hand als anachronistisch, denn "sie ist für die heutige Ökonomie ungefähr so zutreffend, wie Newtons Grundsätze der Bewegung für subatomare Teilchen." (S. 142) Er zitiert dazu den Nobelpreisträger für Ökonomie J. Stiglitz: "Der Grund warum die unsichtbare Hand oft unsichtbar erscheint, ist, dass sie nicht da ist … Märkte alleine führen nicht zu wirtschaftlicher Effizienz. Wenn wir Beispiele von erfolgreichen Märkten und Marktversagen untersuchen, sehen wir, dass viele dieser Ergebnisse Sinn ergeben, wenn wir Theorien unvollkommener Märkte verwenden, in denen der Staat eine wichtige Rolle spielen muss." (S. 134)
Teil 2 - Konsumtion in der realen Welt
Nach dem Standardmodell der Volkswirtschaftslehre treffen Konsumenten stets rationale, ihren Nutzen maximierende Entscheidungen. Dagegen führt J. K. im Kapitel "Der Einfluss der Macht von Unternehmen" aus, "dass der Standardkanon der mikroökonomischen Konsumtheorie nicht objektiv ist. Er beginnt mit willkürlichen Annahmen die Erkenntnissen von anderen wissenschaftlichen Disziplinen klar widersprechen, und ignoriert wichtige Aspekte der Realwirtschaft wie etwa die Verteilung der politischen und finanziellen Macht." Standardlehrbücher behandeln "schwere Mängel der neoklassischen Theorie" als Randerscheinungen. (S. 105) Die ungleiche Verteilung von Macht auf eine kleine Elite durch "die Konzentration von Reichtum ist eine große Bedrohung für unsere demokratischen Institutionen, weshalb wir dringend eine Machtbalance herstellen müssen, die der Begierde der Unternehmen, Gesetze und Institutionen der Regierung weiter zu ihrem Gunsten zu manipulieren, Einhalt gebietet."
"Ein großes Versäumnis der neoklassischen Theorie ist es, ihre Analyse auf Erwachsene zu beschränken. Der entscheidende und verderbliche Einfluss mächtiger Großkonzerne während unserer Kindheit auf die Herausbildung unseres Geschmacks und unserer Sensibilität wird ignoriert." (S. 109) Außerdem "gibt [es] eine ganze Disziplin, die von Ökonomen nicht berücksichtigte Sozialpsychologie, die analysiert, inwiefern unser Verhalten davon abhängt, ob wir als Einzelperson allein oder in einer Menschenmenge handeln." (S. 117) Weiter verfügen Menschen "fast immer nur [über] unvollständige Informationen, was eine Herausforderung für unsere Fähigkeit darstellt, zufriedenstellende, geschweige denn optimale Entscheidungen zu treffen." (S. 133) Aus diesen und weiteren Gründen "ist Konsumentensouveränität eine Fata Morgana in der real existierenden Wirtschaft." (S. 111)
Teil 3 - Produktion in der realen Welt
In diesem Teil werden Themen der mikroökonomischen Theorie des Wettbewerbs zwischen Unternehmen behandelt. Das vollkommene Wettbewerbsmodell (ohne Oligo- und Monopole), auf das sich Einführungsvorlesungen an Universitäten konzentrieren, "ist in der heutigen Wirtschaft im Wesentlichen irrelevant. Heutzutage werden praktisch alle wichtigen Produkte in Märkten mit unvollkommener Konkurrenz produziert und gehandelt." (S. 153) Oligo- und monopolistische Produktionskonzentration führt zu Machtkonzentration und erlaube es, Preise und Löhne zu bestimmen, und Konsumenten zu manipulieren. "Die herkömmliche Ansicht in Lehrbüchern ist die Annahme, dass das Gesetz von Angebot und Nachfrage bedeutet, dass in allen Märkten zu allen Zeiten ein Gleichgewicht existiert…" aus dem sich die Preisfindung ableitet. "In Wirklichkeit ist die Preisfindung ein viel komplexerer Prozess, als den Studenten weisgemacht wird." (S. 165) "Oligopole nutzen ihre Marktmacht und produzieren nicht die sozial effiziente Menge zu effizienten Preisen. Herkömmliche Lehrbücher verschweigen den Kern des Greenwald-Stiglitz-Theorems, das beweist, dass bei unvollkommener Information – also praktisch immer – Märkte ineffizient sind. Das bedeutet, dass es in der realen Welt viele Möglichkeiten für die Regierungen gibt, die Marktergebnisse zu verbessern, um die gewünschte Verteilung von Vermögen und Einkommen zu erzielen."