Von wegen "No Future!": Die beiden erfolgreichsten deutschen Punkrockbands engagieren sich aktiv für eine lebenswertere Zukunft. Bei ihren Großkonzerten auf dem Berliner Tempelhof-Gelände arbeiteten sie eng mit der Cradle to Cradle-NGO zusammen, die schon seit vielen Jahren von der Giordano-Bruno-Stiftung (gbs) unterstützt wird.
"Es ist nicht deine Schuld, dass die Welt ist, wie sie ist. Es wär' nur deine Schuld, wenn sie so bleibt!", heißt es in einem bekannten Ärzte-Song ("Deine Schuld") aus dem Jahr 2003. Dabei belässt es die "beste Band der Welt" ("Die Ärzte" über "Die Ärzte") nicht bei Worten. Fast zwei Jahre lang haben Teams der Ärzte und der befreundeten Düsseldorfer Punkrocker "Die Toten Hosen" mit den örtlichen Veranstaltern und der Cradle to Cradle-NGO zusammengearbeitet, um neue zukunftsfähige Konzepte für die vier Großkonzerte der Bands auf dem Berliner Tempelhof-Gelände zu entwickeln.
Die Innovationen betrafen viele Bereiche. Beispiel Energieversorgung: Die Konzerte liefen zu 100 Prozent mit Ökostrom, die Notfallgeneratoren wurden mit HVO-Kraftstoff aus hydrierten Pflanzenölen betrieben, das Laden von Smartphones mithilfe eines mit Solarenergie betriebenen "Ladebaums" ermöglicht. Beispiel Merchandise: Die Bands boten Cradle to Cradle-zertifizierte T-Shirts an, die fair produziert wurden und zu 100 Prozent biologisch abbaubar sind. Beispiel Catering: Die gesamte Crew wurde rein vegetarisch/vegan versorgt, auf dem Festivalgelände gab es mehr vegetarische/vegane Angebote, als es auf solchen Großveranstaltungen üblich ist.
"Give Pee a Chance!"
Allerdings geht es bei Cradle to Cradle (kurz: C2C) nicht primär um die Verringerung des "negativen ökologischen Fußabdrucks der Menschheit", sondern vor allem um die Stärkung ihres "positiven ökologischen, sozialen und kulturellen Fußabdrucks", gemäß der Maxime "Was weniger schädlich ist, ist noch lange nicht gut!" Um auf dem Tempelhof-Gelände einen solchen "positiven Fußabdruck" zu ermöglichen, haben sich die Projekt-Verantwortlichen ganz besondere Lösungen einfallen lassen.
Ein gutes Beispiel dafür sind die sogenannten "P-Banken": Normalerweise werden bei der Entsorgung der Ausscheidungen von rund 60.000 Konzertbesucher*innen pro Abend sehr viel Wasser sowie schädliche Chemikalien eingesetzt – nicht so bei den Tempelhof-Konzerten, bei denen die Ausscheidungen anschließend sogar als Humus beziehungsweise Dünger in der Landwirtschaft eingesetzt werden können. Viele Ärzte-Fans staunten nicht schlecht, als sie auf den C2C-Infotafeln erfuhren, dass schon einmaliges Pinkeln genügend Dünger für drei Karotten oder eine Portion Pommes Frites ergibt. "Give Pee a Chance!", brachte es C2C-Mitbegründer und gbs-Beirat Michael Braungart später auf den Punkt – eine witzige Formulierung vor ernstem Hintergrund, denn der Phosphor, den wir regelmäßig mit unserem Urin und Kot ausscheiden, ist eine begrenzte Ressource, deren Abbau schon jetzt zu gewaltsamen Konflikten in der Welt führt.
Logistische Meisterleistung
"Die Organisation dieser ersten 'Cradle to Cradle-Großkonzerte' war eine logistische Meisterleistung", meint gbs-Vorstandssprecher Michael Schmidt-Salomon, der wie Ärzte-Schlagzeuger und Sänger Bela B zu den Beiräten der C2C-NGO gehört und das letzte der vier Tempelhof-Konzerte live von der Gästetribüne aus erleben durfte. "Es hat sich wirklich gelohnt, dass die C2C-Vorstände Nora Griefahn und Tim Janßen mit ihrem Team, die Bands, das Management und die örtlichen Veranstalter so viel Zeit und Energie in dieses Projekt investiert haben. Natürlich konnte auf Anhieb noch nicht alles 100-prozentig im Sinne von C2C funktionieren – schon allein deshalb, weil es hierfür bessere politische und ökonomische Rahmenbedingungen geben müsste. Doch der Anfang ist gemacht und ich bin überzeugt, dass von diesen Konzerten nachhaltige Impulse ausgehen werden, um unseren Stoffwechsel mit der Natur intelligenter zu gestalten."
Mit Biss, aber nicht verbissen für eine bessere Welt
Dies ist auch das erklärte Ziel des "Labor Tempelhof", auf dessen Website es heißt: "Wir retten mit vier Konzerten für eine Viertelmillion Zuschauer*innen nicht die Welt. Aber wir kommen vom Reden ins Handeln und erschaffen einen Leuchtturm nach Cradle to Cradle, der als Vorbild dienen kann – für die Veranstaltungsbranche und weit darüber hinaus." In der Rubrik "Cases" erkennt man, wie viele konkrete Probleme das "Labor Tempelhof"-Team bei der Planung der Konzerte bedacht hat. Im November soll nach dem bereits vorgelegten Report "Staging the Future" ein mehrsprachiges "Guidebook" für die Veranstaltungsbranche erscheinen, das dazu beitragen soll, die Pionierarbeit des Labors auf globaler Ebene fortzuführen.
Es wird sicherlich einige Zeit ins Land gehen, bis die Eventbranche C2C-Standards genügt, doch eines steht schon heute fest: Mit den Ärzten und den Toten Hosen hat die C2C-NGO herausragende Botschafter gefunden, die mit Biss, aber nicht verbissen für eine "bessere Welt" einstehen. Dies zeigt auch die große Medienresonanz auf die Konzerte, inklusive einem ausführlichen Beitrag in den "Tagesthemen" (bei dem die Besucherzahl des Konzerts zwar falsch angegeben wurde, aber die C2C-Vorstände Nora Griefahn und Tim Janßen Gelegenheit hatten, die Grundideen des Labors zu erläutern).
Die Chance, Gutes zu tun
Der guten Stimmung haben die besonderen Begleitumstände der Konzerte keinerlei Abbruch getan, bestätigt gbs-Vorstandssprecher Michael Schmidt-Salomon: "Die Ärzte sind grandiose Entertainer, insofern war es keine Überraschung, dass das Publikum der Band drei Stunden lang begeistert gefolgt ist. Sehr berührt hat mich aber der große Jubel, der unter den rund 60.000 Leuten ausbrach, als Bela B vor dem Song 'Deine Schuld' auf die vielen Menschen hinwies, die geholfen haben, dieses Konzert zum 'ökologischsten Ärzte-Konzert aller Zeiten' zu machen. Man hat in diesem Moment gespürt, wie gut sich Menschen fühlen, wenn sie die Chance haben, Gutes zu tun."
Hierauf aufmerksam zu machen, sei gerade in den gegenwärtigen Krisenzeiten wichtig, meint der Philosoph: "Wer die Welt zum Positiven hin verändern möchte, muss trotz Putin, Trump & Co., trotz Corona, Krieg und Klimawandel, darauf vertrauen können, dass wir das Potenzial zur Verbesserung der Verhältnisse haben. In dieser Verbindung von Humanismus und Ökologie liegt die große Stärke von 'Cradle to Cradle': Der Ansatz macht klar, dass wir sehr wohl vernünftige Lösungen für die großen Probleme der Menschheit finden können. Voraussetzung dafür ist aber, dass wir das negative, apokalyptische Denken aufgeben und uns dazu durchringen, den Menschen eben nicht nur als notorischen Schädling, sondern vielmehr als potenziellen Nützling der Natur zu begreifen."
Der Text erschien zuerst auf der Website der Giordano-Bruno-Stiftung.